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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 474 / 20.6.2003

"Meine Biografie beginnt mit der Geburt"

Erinnerungen an Johannes Agnoli

"Seine Leidenschaft galt der Politik, der Kritik der Öffentlichkeit, der intellektuellen Umwälzung der Verhältnisse, von der er die praktische Umsetzung erhoffte. Seine geliebtesten Schüler waren die Unbotmäßigen, die Autonomen (die ,Selbstbestimmten`), die Spontanen und Spontaneisten", so der enge Freund von Johannes Agnoli, Ekkehart Krippendorff. Johannes Agnoli starb am 4. Mai im Alter von 77 Jahren. Seit Ende der 1960er Jahre war Johannes Agnoli an der Freien Universität Berlin tätig - erst als Assistent, dann als Professor der Politikwissenschaft. Zwei dieser "geliebtesten Schüler" erinnern sich für uns an ihre Begegnungen mit Johannes Agnoli.

Im Jahr 1991 verfasste die in Nürnberg ansässige linksradikale Gruppe Krisis eine Polemik mit dem Titel "Hier ruht Johannes Agnoli". Seine Schriften, so heißt es in diesem Text, hätten beim Freiburger ça ira Verlag eine "letzte Ruhestätte" gefunden. Vermeintlich in der Metapher bleibend bezeichneten die Autoren Agnolis Schriften im Weiteren als "Fossilien des theoretischen Denkens". Agnoli, der die Anwürfe in diesem aus der Perspektive einer verabsolutierten Wertkritik geschriebenen Nürnberger Gerichtsbeschluss keiner ernsthaften Replik für Wert erachtete, amüsierte sich in einem Leserbrief jedoch über die Metapher: Fossilien, so bemerkte er, würden gemeinhin aus- und nicht eingegraben. Dieser Leserbrief wurde leider nicht publiziert, was ein bezeichnendes Licht auf den hiesigen Linksradikalismus wirft.

Eine weitere Anekdote zu Johannes Agnolis Umgang mit der Marxistischen Orthodoxie: In einem Gespräch mit Ernest Mandel referierte Agnoli die Kritik eines "begabten Genossen": Die These, der Klassenkampf reduziere sich zum Verteilungskonflikt in Agnolis berühmter Schrift "Die Transformation der Demokratie", sei gerade "kein Ergebnis bewusster Strategie, sondern Ergebnis der Verkehrung des Klassenverhältnisses in der Produktion von Wert und Mehrwert durch die Entwickelte Oberfläche der Konkurrenz". Als Agnoli darauf von dem entgeisterten Ernst Mandel gefragt wurde, was das denn heiße, antwortete dieser gut gelaunt: "Das weiß ich auch nicht, aber ungeheuer theoretisch und durchdacht klingt es allemal."

Sprühende Subjektivität, ...

Es war nicht zuletzt dieser antiautoritäre Witz, der viele an ihm faszinierte. Auch wir waren schon lange fasziniert von seinem Werk und von ihm als Figur. Nach einer Vorlesung, die er zusammen mit Wolf-Dieter Narr an der Freien Universität Berlin gehalten hatte, redeten wir uns die Köpfe heiß. Seine provozierend vorgetragene Weigerung, konstruktiv und politisch korrekt den Niedergang "der Linken" schön zu reden oder zu betrauern, hatte uns begeistert. Es war Mitte der Neunziger, und wir befanden uns auf der verzweifelten Suche nach einer gültigen und funktionierenden Exegese, die ein kohärentes Verhältnis zwischen den Büchern und Theorien "unserer" Tradition und der disparaten Wirklichkeit herzustellen vermochte. Kommunistische oder sozialistische Hoffnungen schienen völlig diskreditiert. Wir engagierten uns in den antirassistischen Grenzcamps, versuchten dort die Fahne der Reflexion und Kritik hochzuhalten, und hatten unsere liebe Not, die mannigfachen Motive, mit denen die linksradikalen, autonomen, feministischen, jugendlichen Camperinnen und Camper an den jährlichen Aktionen teilnahmen, mit unseren utopischen Vorstellungen von einer Vereinbarung nicht deformierter Subjektivität mit kollektiver Verbindlichkeit übereins zu bringen.

Wir entschlossen uns, mit Johannes Agnoli ins Gespräch zu kommen. Unsere Idee: Wir besuchen ihn und befragen ihn vor laufender Kamera über sein Leben. Wir machen einen Film über ihn, wir retten etwas von dieser sprühenden Subjektivität, diesem provozierenden Intellekt, dieser Verkörperung subversiven Denkens auf Zelluloid, für die Jüngeren, die ihn vielleicht nicht mehr kennen lernen können.

Johannes schien uns damals - das müssen wir heute eingestehen -, wie ein viel versprechender Orientierungsquell. Er war zweifellos ein alter intellektueller Fuchs, der sich mit seinen theoretischen Äußerungen zu jedweder Situation der revolutionär orientierten Linken immer furchtlos zum Fenster herausgehängt hatte. Ohne dass uns das bewusst war, hofften wir, dass er uns sagen würde, was wir angesichts unserer eigenen politischen Auseinandersetzungen tun und reden sollten. Seine Haltung, seinen polemischen Witz hatten wir immer bewundert, und wir hätten natürlich auch gern gelernt, so furchtlos, witzig und frei von Pathos die Klinge gegen unsere Gegner, natürlich vor allem die im eigenen Lager, zu führen. Kurz, wir erhofften uns Erkenntnisse von ihm, die für unser eigenes politisches und persönliches Leben von großer Bedeutung waren: Wir fielen ihm sozusagen mit allen vier kantischen Fragen zur Philosophie vor die Füße: "Was können wir wissen?", "Was sollen wir tun?", "Was dürfen wir hoffen?", "Was ist der Mensch?". Sicher war das nicht nur dem großen Respekt vor dem Intellektuellen Johannes Agnoli geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass wir, unausweichlich in die Tradition des deutschen Idealismus gebannt, vom Theoretiker und Philosophen Johannes Agnoli mehr erwarteten, als man von einem Sterblichen erwarten kann, nämlich Wahrheit und vollständige reflexive Durchdringung. Im Nachhinein ist es uns, als hätten wir uns erhofft, in ihm das Schlaraffenland-Pendant eines jeden Philosophie-Studenten kennen zu lernen, die sprechende Schrift, die auf Hintergrundfragen und eigene Gedanken bereitwillig Antwort gibt, dabei aber stets Autorität und gültige Weltauslegung bleibt. Dies zu unserer Haltung, als wir mit roten Ohren und einer beeindruckenden Ausstattung von Kameras und Tonaufnahmegeräten zu Johannes Agnoli und seiner Familie nach Lucca fuhren.

provozierender Intellekt, ...

Die explizite Hauptfrage, mit der wir ihn besuchten, war die nach seiner eigenen Verwicklung in die politisch-historischen Brüche des 20. Jahrhunderts. Wie hatten sie sein Denken geprägt, welche Lehren zog er vor allem im Hinblick auf die Entwicklung nach dem gerade erfolgten letzten großen Bruch, dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums, aus diesen Erfahrungen. Wir wussten, dass Johannes in seiner frühen Jugend Linksfaschist und freiwilliger Wehrmachtssoldat war, dass er also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aktiv in die Verbrechen des Faschismus und Nazismus verstrickt gewesen sein musste. Wir wussten, dass er nach dem Krieg zur theoretischen Entwicklung der westdeutschen Linken maßgeblich beigetragen und die Bewegungen um 1968 vor allem mit seinem Werk "Die Transformation der Demokratie" entscheidend beeinflusst hatte, das Vilfredo Paretos Elitentheorie kritisch wendete. Wir wussten - und fanden dies besonders interessant -, dass er an den autonomen Bewegungen in Europa kritisch Anteil nahm. Und wir fragten uns: Welches Motiv bzw. welche Motive ziehen sich durch so ein Leben? Was ist das Gemeinsame und Verbindende im Engagement für Staat, Krieg und Elite im deutsch-italienischen Diktaturenbündnis und in der radikalen Staatskritik in der demokratischen Bundesrepublik? War Johannes vielleicht bis zum Zusammenbruch des NS ein pathetischer Mensch und wurde er durch die harte Lehre der Niederlage zum Ironiker? Können Johannes' Taten im NS als Verbrechen aus Leidenschaft, aus Pathos interpretiert werden, die seine Fähigkeit zum ungebrochenen Bekenntnis zerstörten und ihn zu einem Meister der Ironie und des klaren, weil bösen Blicks gemacht haben?

Folgerichtig war eine unserer ersten, ungeschickten Fragen die nach seiner "Biografie" "Meine Biografie beginnt mit meiner Geburt", erwiderte Johannes barsch und begann dann mit einer beißenden Polemik gegen die in den 1990er Jahren verbreitete Veröffentlichung der eigenen "Biografie" vor allem seitens Prominenter aus der ehemaligen DDR, aber auch vieler Ex-Linker aus dem Westteil der Republik. Von vornherein wurde klar: Über die menschlich-psychologischen Motive seines politischen Denkens und Handelns würde er uns nichts erzählen. Diesen Zugang verachtete er als zutiefst ideologisch und unästhetisch.

Johannes präsentierte sich an allen Stellen ironisch, an denen andere politisch interessante Gelehrte des 20. Jahrhunderts vielleicht bereitwillig Lehren und Bekenntnisse verkündet hätten. Er amüsierte sich köstlich über seine eigene Eitelkeit, als er uns sein "Vanitätenkabinett" zeigte, eine nicht sehr prominent platzierte Kommode, in die Zeitungsartikel und andere Zeugnisse seines öffentlichen Wirkens in einem schönen Durcheinander verstaut waren. Er schimpfte, lachte und spottete über viele theoretische und politische Auseinandersetzungen, die wir Revue passieren ließen. Ernst, aber in der Weise des immer noch Weiterdenkenden, nie in der des Wissenden, wurde er nur, wenn es um philosophische Fragen z.B. zum Verhältnis von Marx zu Hegel oder zu subversiven Linien in der Vorsokratik ging. Die Felder der Philosophie, der Politik und des persönlichen Lebens waren für ihn etwas je völlig Unterschiedliches. Gegenüber der Philosophie verhielt er sich buchstäblich als Denkender, in der Politik als parteiisch mit einem radikal antiideologischen Blick auf Interessen, im persönlich Leben als Erotiker (was ein intensives Verhältnis zur Literatur, insbesondere zur Lyrik, vor allem Goethes und Ungarettis einschließt). Er litt nicht am protestantischen Zwang vieler Linker und Linksradikaler, all diese Felder in Übereinstimmung bringen zu müssen. Johannes wollte nicht "gut", geschweige denn vollkommen sein. Säkularisierter Katholik, der er war, hatte er ein akzeptierendes Verhältnis zur eigenen Fehlbarkeit.

eine Verkörperung subversiven Denkens

Johannes Agnoli hat uns ehrfürchtige Schülerlein produktiv enttäuscht. Anstatt uns eine gültige und autoritative Auslegung der gegenwärtigen Weltlage plus Extrapolierung in die polit-ökonomische Zukunft Europas und der Welt inklusive nützlicher Handlungs- und Lebensführungsanweisungen mitzugeben, hat er uns behandelt wie ein Zen-Meister seine Schüler: An Stelle von beruhigenden Antworten haben wir Schläge von ihm einstecken müssen. Er hat uns irritiert, provoziert, gelegentlich auch ein bisschen schockiert, hat sich der Monumentalisierung verweigert und unsere Naivität im Umgang mit textuellen oder gesellschaftlichen Autoritäten, nicht zuletzt mit ihm selbst, schlicht verlacht.

Damit hat er uns anderes und viel mehr mitgegeben, als wir von ihm erwartet hatten: Er hat uns demonstriert, dass es interessanter ist, mit aller intellektueller Kraft und Moral, über die wir verfügen, ins Unreine zu handeln und zu sprechen, als uns ängstlich hinter einer Idee objektiver Gültigkeit zu verstecken. Ihm ging es nicht um die richtige Auslegung heiliger Schriften, sondern darum, möglichst klar und vor allem selbst zu denken. Sein Spott galt denen, die sich hinter Wahrheiten verschanzen, die vermeintlich größer sind als sie selbst.

Gefragt, ob er den Tod fürchte, antwortete er frei nach Karl Popper, bei der Auffassung, alle Menschen müssten sterben, handle es sich bisher um eine unbewiesene Hypothese. Schade dass es ihm nicht gelungen ist, diese Hypothese zu falsifizieren.

Johannes Agnolis Schriften sind beim ça ira Verlag in Freiburg erschienen.

Stefanie Haacke,
Markus Mohr

Mindestens eine/r der VerfasserInnen wird am Freitag, den 27. Juni um 20 Uhr im Buchladen "Schwarze Risse", Mehringhof, Geneisenaustr. 2a, Berlin-Kreuzberg, Ausschnitte aus einem langen Videointerview mit Johannes Agnoli zeigen. Danach Diskussion.