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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 474 / 20.6.2003

Menschenrechtsverbrecher bittet zur Vorlesung

Ex-Ministerpräsident aus der Türkei als Gastprofessor in Bochum

Seit dem 15. Mai hat der ehemalige türkische Ministerpräsident und Vorsitzende der ANAP (Mutterlandspartei) Mesut Yilmaz eine Gastprofessur an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Ruhr-Universität inne. Yilmaz war zwischen 1991 und 1998 dreimal türkischer Ministerpräsident und ist für schwerste Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. 1998 musste er auf Grund seiner Verbindungen zum organisierten Verbrechen sein Amt aufgeben. In den kommenden zwei Semestern soll Yilmaz laut Pressemitteilung der Fakultät über "Schlüsselfragen der internationalen Politik in Europa" sowie über "Beziehungen zur Türkei und zum Mittelmeerraum" referieren. Die Gastprofessur des ehemaligen Ministerpräsidenten offeriert, glaubt man der Dekanin der Fakultät, Professorin Ilse Lenz, eine "einzigartige Chance, einen hervorragenden Experten" zu hören. Bislang stießen die massiven Proteste von Studierenden und MenschenrechtsaktivistInnen gegen die Einladung von Yilmaz in der Ruhr-Uni nur auf eines: Ignoranz.

In der Regierungszeit von Yilmaz wurden mehr als fünf Millionen Kurden und Kurdinnen vertrieben und rund 5.000 kurdische Dörfer zerstört, tausende KurdInnen und türkische Linke wurden ermordet. 60.000 politische Gefangene saßen im selben Zeitraum in türkischen Gefängnissen, in denen systematisch gefoltert wurde. Die Verbrechen wurden nicht aufgeklärt und die Verbrecher nicht verfolgt. Statt dessen brachten Antiterrorgesetze, die Einschränkung der Pressefreiheit und des Rechts auf freie Meinungsäußerung, Verbote von Parteien, Organisationen und Gewerkschaften unzählige Intellektuelle, Rechtsanwälte und Linke ins Gefängnis. Die zahlreichen internationalen Proteste ließen Yilmaz kalt; er ließ sich in keinem einzigen Fall dazu herab, Gnade walten zu lassen. Allein im Jahr 1998 waren 2.500 Klagen gegen türkische staatliche Institutionen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig.

Yilmaz' erste Amtszeit als Ministerpräsident der Türkei war verhältnismäßig kurz. Sie dauerte vom 23.6.1991 bis zum 20.11.1991. In diesen kurzen Zeitraum fallen jedoch einige Menschenrechtsverbrechen, die auch international für Aufsehen sorgten: Am 5. Juli 1991 wurde der kurdische Politiker und Mitbegründer des türkischen Menschenrechtsvereines IHD, Vedat Aydyn, von Zivilpolizisten entführt, gefoltert und erschlagen. Nur drei Tage zuvor hatte der IHD-Vorsitzende von Batman, Siddik Tan, ein Attentat durch eine Autobombe schwer verletzt überlebt. Auf der Beerdigung von Vedat Aydyn richtete die Polizei ein Blutbad an. Acht Menschen wurden erschossen, über 300 verletzt. Mesut Yilmaz warnte bei einer eilig einberufenen Sondersitzung des türkischen Parlaments vor "weiteren separatistischen Provokationen".

Von Ende 1991 bis 1996 blieb Yilmaz Oppositionsführer. Während seiner Oppositionszeit eskalierte unter den MinisterpräsidentInnen Demirel und Çiller der Krieg in den kurdischen Provinzen immer weiter. Yilmaz erwies sich von der Oppositionsbank aus als Hardliner und Scharfmacher. Die durch die Regierung in Aussicht gestellte Aufhebung des Ausnahmezustandes und eine Teilamnestie als Reaktion auf den von der PKK einseitig verhängten Waffenstillstand bezeichnete er im Jahr 1993 als "Konzession an die Terrororganisation". Darüber hinaus begrüßte Yilmaz die Aufhebung der Immunität der kurdischen Abgeordneten der Partei DEP. Ein halbes Jahr später wurden diese aus dem Parlament heraus verhaftet.

Bei den Wahlen im Jahr 1995 landete die ANAP zwar nur auf dem zweiten Platz. Die meisten Stimmen konnte die islamistische "Refah-Partisi" (Wohlfahrtspartei) auf sich vereinigen. Um eine Regierungsbeteiligung der Refah zu vermeiden, übernahm am 12.3.1996 jedoch ein Minderheitskabinett mit einer Koalition aus ANAP und DYP die Regierungsgeschäfte. Mesut Yilmaz wurde zum zweiten Mal Ministerpräsident. Ins Kabinett wurden eine Reihe Minister berufen, die ideologisch der faschistischen MHP nahe standen oder ihr vormals angehört hatten.

Die Ruhr-Uni pflegt den Dialog

In seiner Regierungserklärung vom März 1996 bekannte sich Ministerpräsident Yilmaz ausdrücklich zur Fortsetzung des Krieges in den kurdischen Gebieten der Türkei. Nur wenige Tage später machte Yilmaz anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes Newroz zwar erste zaghafte Ankündigungen über "neue humanere Herangehensweisen" - doch das einzige, was passierte, war eine groß angelegte Militäroffensive im April, die mehr als 100 KurdInnen das Leben kostete. Bei einem Staatsbesuch in Bonn erklärte Yilmaz vor der Presse, die kurdischen Flüchtlinge in Deutschland seien "größtenteils von der PKK nach Deutschland eingeschleust und lassen sich für politische Ziele der PKK benutzen, um politisches Asyl zu erlangen".

Nach dem Ende seiner zweiten Amtszeit gehörte Mesut Yilmaz weiter dem Parlament an. Bis zum 30.6.1997 führte er die ANAP-Opposition gegen Refah-Ministerpräsident Erbakan und DYP-Außenministerin Çiller. Yilmaz nutzte auch während seiner Zeit als Oppositionsführer seine gute Beziehungen zum Nationalen Geheimdienst der Türkei. Später wurden auch seine Korruptionsverbindungen zur türkischen Mafia offenbar, die 1998 seinen Rücktritt erzwangen. Über ihre Kontakte zu verschiedenen Geheimdiensten und den daraus abrufbaren Informationen bezichtigten sich Mesut Yilmaz und Tansu Çiller jeweils gegenseitig der Zusammenarbeit mit bestimmten Mafiagruppen, die im staatlichen Auftrag die Opposition terrorisierten und die Wirtschaftsbereiche von Bauwirtschaft und Banken über Glücksspiel und Menschenhandel bis zum Drogenexport kontrollierten.

Herr Yilmaz
freut sich auf
die Diskussion

Die dritte Amtszeit Yilmaz' als Ministerpräsident dauerte von Juni 1997 bis November 1998. Mit Hilfe von Drohungen hatte der Generalstab mit einem unblutigen Putsch den Weg für eine neue Regentschaft von Mesut Yilmaz bereitet. Yilmaz selbst gab unumwunden zu, dass sein neues Kabinett die Antwort darauf sei, dass Ministerpräsident Erbakan sich nicht den Weisungen des Militärs unterordnete. Auch während Yilmaz' dritter und längster Amtszeit gehen unzählige Menschenrechtsverletzungen auf das Konto der türkischen Regierung. Yilmaz hatte zu Beginn seiner Amtszeit zwar umfassende Verbesserungen der Pressefreiheit angekündigt. Faktisch wurde jedoch lediglich eine Handvoll Chefredakteure unter strengen Auflagen auf Bewährung aus der Haft entlassen. Das Gesetz gegen "Gesinnungsdelikte" bestand unvermindert fort. Auch das kurdische Neujahrsfest geriet am 21. März 1998 erneut zu einer blutigen Machtdemonstration des türkischen Staates. Rund 80.000 Menschen hatten sich auf dem Batikent-Platz in Diyarbakir versammelt, um Newroz zu feiern. Das Fest wurde umzingelt, ein anschließender Demonstrationszug brutal zerschlagen. Räumpanzer und andere Fahrzeuge wälzten die Menge nieder, ungeachtet dessen, wer unter die Räder kam. Von Motorrädern der Polizei schlugen Beifahrer mit langen Holzknüppeln auf die Köpfe der Umherrennenden. Unter den Misshandelten befand sich auch die deutsche Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke. Die Zahl der Verletzten wurde nie festgestellt. Allein 25 mussten jedoch noch am selben Nachmittag stationär in umliegenden Krankenhäusern aufgenommen werden, wo sie umgehend festgenommen wurden.

Am 15. Oktober 1997 kritisierte der Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereines IHD, Akin Birdal, die Regierung Yilmaz wegen der andauernden Menschenrechtsverbrechen. Allein innerhalb der ersten drei Monate der Regierung seien 22 Menschen Opfer unaufgeklärter, von "Banden und Mafia" verübter Morde geworden. 28 Menschen seien "bei Exekution ohne Gerichtsurteil, im Verlauf von polizeilichen Einsätzen oder bei Folterung in Polizeigewahrsam" ums Leben gekommen.

Ein halbes Jahr später, am 12. Mai 1998, wurde Birdal in Ankara selbst Opfer eines Attentates, das er nur schwer verletzt überlebte. Unmittelbar nach dem Attentat äußerte Ministerpräsident Yilmaz öffentlich den Verdacht, der IHD könne selbst hinter der Tat stecken. Damit setzte Yilmaz die Propaganda fort, die dem Attentat vorausgegangen war und in den Massenmedien über Wochen hinweg den IHD-Vorsitzenden als gekauften Befehlsempfänger Öcalans verunglimpfte. Bis heute ist nicht klar, ob Mesut Yilmaz von dem geplanten Attentat gewusst hat. Zumindest zu einem Mafiakiller aber können direkte Verbindungen mit ausreichender Begründung angenommen werden. Dass diese Verbrechen niemals vor Gericht verhandelt wurden, liegt in erster Linie an der Immunität, die Yilmaz als Parlamentsabgeordneter genoss. Die Erkenntnisse sämtlicher parlamentarischen Untersuchungsausschüsse bewegten das Parlament nicht, eine Verbindung von Yilmaz oder seiner Konkurrentin Çiller zum Organisierten Verbrechen anzuerkennen und deren Immunität aufzuheben. Eine gerichtliche Klärung wurde damit verhindert.

Hundertschaften leisten ihm Gesellschaft

Von der Straflosigkeit profitieren in der Türkei all jene, die ihre Verbrechen im Auftrag des Staates begehen. Ob sich dies in Zukunft ändern kann, wird die Zeit zeigen. Eine unabhängige Justiz existiert in der Türkei bislang nicht. So bleibt, auch nachdem Mesut Yilmaz nun keine Immunität mehr genießt, für die unmittelbare Zukunft wenig Hoffnung, ihn vor einem türkischen Gericht zu sehen. Kleiner Hoffnungsschimmer ist aber, dass jüngsten Pressemeldungen zufolge ein Untersuchungsausschuss des türkischen Parlaments, der mit der Aufklärung von Korruptionsvorwürfen beauftragt ist, Mitte Juni den ehemaligen türkischen Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz vorgeladen hat.

Mit der Kampagne "Anklagebank statt Lehrstuhl" fordert das "Bündnis für Menschenrechte an der Ruhr-Universität Bochum" die juristische Aufarbeitung der Verantwortung des ehemaligen Ministerpräsidenten für die ihm vorgeworfenen Verbrechen und begrüßt den Vorstoß des türkischen Parlamentes - in der Hoffnung, dass in Zukunft ebenfalls Yilmaz' Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen juristisch untersucht werde.

Kaum begreiflich ist, dass sich die Ruhr-Universität gegenüber der Forderung, Yilmaz' Gastprofessur zurückzuziehen, derartig ignorant geriert. Die zuständige Dekanin Ilse Lenz, ihres Zeichens Soziologin mit Schwerpunkt Geschlechter- und Sozialstrukturforschung und ehemalige Sprecherin der Sektion Frauenforschung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, möchte Yilmaz nicht ausladen, sondern den Dialog mit ihm pflegen. An Peinlichkeit kaum zu überbieten sind auch die Äußerungen von Professor Jürgen Gramke, der als "Motor" für die Einladung von Yilmaz gilt und sich im Interview mit der Ruhruni-eigenen Zeitschrift RUBENS folgendermaßen äußert:

Auf die Anklagebank
mit ihm!

"Dass es eine Kontroverse um seine Gastprofessur gibt, ist absolut legitim, aber auch gewollt: Es besteht die Chance, Fragen der türkischen Innen- und Außenpolitik anzusprechen und zu diskutieren. Wer könnte hierzu besser als Gesprächspartner dienen als der ehemalige Ministerpräsident? Ich glaube es ist hoch zu bewerten, dass sich Herr Yilmaz bereit gefunden hat, sich jeglichen Auseinandersetzungen zu stellen. Im übrigen weiß ich, dass sich Herr Yilmaz auf die Diskussion freut." Wie Yilmaz sich diesen Auseinandersetzungen "stellt", davon zeugt folgende Aussage eines Journalisten, der einer Pressekonferenz mit dem Herrn Gastprofessor beiwohnen durfte: "Zahlreiche sehr kritische, z.T. detaillierte Fragen mit persönlichen Stellungnahmen (z.B. über gefolterte Kurden) wurden gestellt; Yilmaz ließ sich aber nicht in die Enge drängen. Er blieb Vollblutpolitiker, beantwortete die kritischen Fragen allerdings nicht. Nur einmal räumte er ein, dass die Türkei ,kein Paradies der Menschenrechte` gewesen ist, was sich jedoch ändern solle."

Yilmaz' seinerseits ist aufgrund der massiven Proteste und ungeachtet der unsäglichen "Demokratie"-Appelle von Lenz, Gramke & Co., auf Polizeibegleitung angewiesen, will er unbehelligt den Campus erreichen. Immerhin.

Stefanie Graefe

Dieser Artikel basiert auf Informationen der Kampagne "Anklagebank statt Lehrstuhl"; nachzulesen unter:

www.bo-alternativ.de/mfh/homepage/yilmaz.html

und v.a. auf Informationen aus der von der Kampagne herausgegebenen Broschüre Anklagebank statt Lehrstuhl. Der Fall Mesut Yilmaz. Ruhr-Universität Bochum, Mai 2003. Unter obiger Webadresse ist auch der Aufruf: Mesut Yilmaz ausladen zu finden, den zahlreiche UnterstützerInnen unterzeichnet haben (u.a. die ak-Redaktion).