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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 475 / 15.8.2003

Abgesang oder Neuanfang?

Die Schwäche des palästinensischen Widerstandes im dritten Jahr der Intifada.

Die aktuellen Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern im Rahmen der sogenannten Road Map unter Federführung der USA sind der Anfang eines auf drei Jahre angelegten politischen Prozesses, an dessen Ende die Umsetzung einer Zwei-Staaten-Lösung im historischen Mandatsgebiet Palästina stehen soll. Die Erfolgsaussichten dieses Plans hängen nicht zuletzt davon ab, ob die Verhandlungsstrategie der neuen palästinensischen Regierung unter Premierminister Mahmoud Abbas in der palästinensischen Bevölkerung auf Akzeptanz stößt.

Seit Abschluss der Oslo-Verträge 1993 konkurrieren in der palästinensischen Gesellschaft drei Gruppen um die Macht. Unter Yassir Arafat übernahm die bis dato exilierte alte Garde der PLO-Mehrheitsfraktion Fatah das Kommando in der palästinensischen Autonomiebehörde. Die in den Jahren der israelischen Besatzung herangewachsene, ebenfalls von Fatah dominierte interne politische Führung fand sich in die unteren und mittleren Ränge der Sicherheitskräfte und der Administration abgedrängt oder vollständig marginalisiert. Arafat gründete seine Macht auf einem Netzwerk aus Patronage und Klientelismus. Forderungen nach Demokratisierung, Bürgerrechten und Transparenz, vorgetragen durch das - immerhin demokratisch gewählte - Parlament, diverse NGOs und Teile der Universitäten, beantwortete Arafat vor allem mit einem Ausbau seines Sicherheitsapparates. Die Repression richtete sich zuallererst gegen die islamistische Hamasbewegung als einziger relevanter palästinensischer Gruppierung, die sich dem politischen Rahmen des Oslo-Prozess verweigerte.

In der aus Aktivisten der ersten Intifada bestehenden internen Fatah-Führung (besser bekannt als "Tanzim") war es besonders der ehemalige AStA-Vorsitzende der Universität Birzeit, Marwan Barghouti, der sich als Sekretär des 1991 gegründeten Hohen Komitees der Fatah im Westjordanland für eine Demokratisierung der palästinensischen Institutionen einsetzte. Bis 1999 wurden unter Barghoutis Ägide in einem groß angelegten Prozess etwa 2.500 lokale Fatah-RepräsentantInnen gewählt. Ziel war die Einberufung eines Parteitages, welcher Neuwahlen der höchsten Fatah-Institutionen durchführen sollte. Das hätte den Einflusses der jüngeren internen Führung auf Kosten der Old-Boys-Networks gestärkt - der Parteitag fand jedoch nie statt. Die lokalen Fatah-RepräsentantInnen warfen der Administration vor allem eine schlechte Regierungsführung und nachgiebige Verhandlungstaktik gegenüber Israel vor, in der sie, ähnlich wie die versprengte linke PLO-Opposition und die Hamas, einen Ausverkauf palästinensischer Interessen sahen.

Fatah: Alte Garde gegen junge Militante

Mit dem Scheitern von Camp David im Sommer 2000 geriet Arafats Administration in eine schwere Legitimationskrise. Innerhalb der lokalen Fatah-Kader setzte sich der Ruf nach "zusätzlichen Mitteln" neben Verhandlungen durch. Darin spiegelt sich die Einschätzung der Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung wider, Israel missbrauche den Oslo-Prozess letztlich für den weiteren Ausbau seines Kolonialregimes in den besetzten Gebieten. Nach Ausbruch der Intifada im Herbst 2000 entstanden in den Autonomiegebieten lokale und oft fraktionsübergreifende Milizen, die einen Guerillakrieg gegen Israel nach Vorbild der libanesischen Hizbollah begannen. Diese Milizen rekrutierten sich überwiegend aus Angehörigen der internen Fatah, viele der Kämpfer kamen aus den Reihen der palästinensischen Sicherheits- und Nachrichtendienste. Anders als die islamistische Fundamentalopposition richteten sich ihre Angriffe zunächst gegen israelische Armeeangehörige und jüdische SiedlerInnen in den besetzten Gebieten. Erst im Januar 2002 fand das erste ausschließlich von lokalen Fatah-Milizen durchgeführte Selbstmordattentat innerhalb Israels statt.

Viel wurde über die persönliche Verantwortung Arafats für die Militarisierung der zweiten Intifada geschrieben. Zwar steht die alte Garde der Fatah-Führer um Arafat dem bewaffneten Kampf schon seit langem skeptisch gegenüber und befürwortet, nicht zuletzt im Interesse des eigenen Machterhalts, Verhandlungen mit Israel als einzig realistische Strategie. Dennoch schien Arafat - nach den schlechten Erfahrungen mit der in seinen Augen einseitig pro-israelischen Haltung der US-amerikanischen Vermittler - die Intifada für eine Internationalisierung des Nahostkonfliktes nutzen zu wollen. So gewährte er den Milizen unter der Hand weitgehende Handlungsfreiheit. Vermutlich hatte er auch gar nicht die Macht, sich gegen sie durchzusetzen. Als Arafat im Frühjahr 2001 unter internationalem und israelischem Druck einen Befehl zur Auflösung der Milizen und zur Rückkehr von Angehörigen der palästinensischen Polizei und Sicherheitskräfte in ihre Einheiten ausgab, lehnten die meisten Betroffenen ab und boten statt dessen ihr Ausscheiden aus dem Dienst der Autonomiebehörde an. (1)

Die Niederschlagung der Intifada durch die israelische Armee schwächte die BefürworterInnen von Verhandlungen oder Taktiken zivilen Ungehorsams unter den PalästinenserInnen weiter. Sie führte auch zu einer stärkeren Autonomie der Milizen, nicht nur gegenüber der Autonomiebehörde, sondern zunehmend auch gegenüber der Fatah selbst. Zwar gab es von Seiten der internen Fatah-Führung schon seit längerem Bestrebungen zur Bildung einer vereinten Führung der Intifada, in die neben den PLO-Fraktionen auch die islamistische Fundamentalopposition eingebunden sein sollte. Ziel war eine koordinierte palästinensische Strategie, welche militärische Aktionen mit einem Volksaufstand verbinden würde. Es gab diverse Versuche, eine Einstellung der verheerenden Selbstmordattentate innerhalb Israels zu erreichen und sich mit den Milizen über die Bedingungen einer Rückkehr zu politischen Verhandlungen mit Israel zu verständigen. Diese Bemühungen scheiterten nicht allein an den den ideologischen Spannungen zwischen den beteiligten Fraktionen, sie wurden auch regelmäßig durch die Ermordung prominenter Aktivisten aus Fatah und Hamas durch israelische Spezialkommandos torpediert. Spätestens seit Januar 2002, mit dem ersten Selbstmordattentat innerhalb Israels unter Regie der Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden und zwei Monate später mit der israelischen Militäroffensive im Westjordanland, galt auch der Einfluss Barghoutis auf die Milizen als hinfällig. Im April vergangenen Jahres wurde Barghouti von einem israelischen Kommando gefangen genommen. Gegenwärtig wird er vor einem israelischen Zivilgericht des Massenmordes angeklagt.

Hamas profitiert von Arafats Schwächung

Die Option eines Guerillakrieges gegen einen militärisch hoch überlegenen Gegner erwies sich als katastrophale Fehleinschätzung. Die weitgehende Zerstörung der palästinensischen Autonomiebehörde durch die israelische Armee im Frühjahr 2002 und die erneute militärische Besetzung der palästinensischen Bevölkerungszentren bewirkten eine dramatische Schwächung der palästinensischen Institutionen. Während es in den Jahren des Oslo-Prozesses eine nationale Führung gab, wie unzureichend sie auch immer gewesen sein mag, gibt es ihrer nunmehr drei. Die alte Garde aus Arafats Autonomiebehörde versucht weiterhin, ihre eigene Haut zu retten, und hat sich unter internationalem Druck und nach ausgedehnten internen Machtkämpfen im April dieses Jahres auf institutionelle Reformen und ein neues Kabinett unter Premierminister Mahmoud Abbas geeinigt. Ihre einzige strategische Option besteht in der Erfüllung internationaler Forderungen nach internen Reformen und politischen Verhandlungen mit Israel entlang der Road Map. Sie ist damit in hohem Maße von der Bereitschaft der israelischen Regierung abhängig, diese ebenfalls umzusetzen und ihr durch versöhnliche Gesten wie die Freilassung palästinensischer Gefangener unter die Arme zu greifen. Die interne Fatah-Führung mit ihren Hauptforderungen nach Errichtung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 inklusive Ost-Jerusalem, einer Regelung der Flüchtlingsfrage sowie Demokratisierung, dürfte zwar weiterhin die Mehrheitsmeinung in den besetzten Gebieten widerspiegeln, doch sind die meisten ihrer Führungskader mittlerweile entweder tot oder in israelischen Gefängnissen. Ihre Option eines bewaffneten Volksaufstands hat sich fürs erste erledigt.

Ein "Staat" aus lauter Enklaven

Der bewaffnete Untergrund operiert spätestens seit Frühjahr 2002 weitgehend autonom. Er verbindet islamistische wie arabisch-nationalistische Tendenzen miteinander und setzt allein auf die Fortführung des bewaffneten Kampfes gegen Israel, inklusive der berüchtigten Selbstmordattentate innerhalb Israels. Auch diese Form des Kampfes zielt zunächst auf den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten. Doch sind die revanchistischen Träume der Hamasführung und anderer Gruppen von einer "Rückkehr" auch ins israelische Kernland noch längst nicht ausgeträumt. Sie stellen ein erhebliches Störpotenzial auf dem Weg zu einem Kompromiss zwischen beiden Konfliktparteien dar. Die Hamasgruppen scheinen nach der Schwächung der palästinensischen Autonomiebehörde und der internen Fatah-Führung im Laufe der Intifada in manchen Gegenden der Westbank bereits Parität mit Fatah erreicht zu haben. Sie verfügen nicht nur über eine Widerstandsideologie, sondern auch über ein funktionierendes Netz aus sozialen und karitativen Institutionen, das im Gegensatz zur Autonomiebehörde die Bedürfnisse der Menschen auch erreicht. Die auf Drängen der Autonomiebehörde seit einigen Wochen eingehaltene Waffenruhe ist von Seiten der Hamas lediglich als vorübergehende taktische Entscheidung zu sehen.

Diese drei Ansätze - Verhandlungen mit Israel, ein bewaffneter Volksaufstand verbunden mit einer Demokratisierung palästinensischer Institutionen, sowie der Guerillakrieg der Islamisten und anderer Milizen - schließen sich gegenseitig aus und schwächen den palästinensischen Widerstand insgesamt. Insbesondere die Taktik der Selbstmordattentate innerhalb Israels erwies sich als kontraproduktiv, indem sie zu einer Wagenburgmentalität in der israelischen Bevölkerung beitrug und die Zustimmung zu verstärkter Repression gegen die PalästinenserInnen wachsen ließ. Die Fragmentierung und Strategielosigkeit der palästinensischen Seite geben israelischen Regierungen bislang reichlich Gelegenheit, den Status Quo zu halten und auszubauen. So wortkarg sich etwa Ariel Sharon in Bezug auf den Umfang der von ihm angekündigten "schmerzhaften Kompromisse" gegenüber den PalästinenserInnen gibt, so deutlich sind die Tatsachen, welche derweil geschaffen werden. Die Umrisse der von Israel gegenwärtig mit großer Kraft vorangetriebenen Anti-Terror-Mauer um die palästinensischen Gebiete markieren eine Fläche von ca. 40% der Westbank, die in eine Vielzahl voneinander isolierter Enklaven zerfällt. Es besteht Grund zu der Annahme, dass dieser massive und millionenschwere Wall die von Sharon anvisierten Grenzen eines eventuellen Staates Palästina vorweg nimmt, der somit über keine territoriale Integrität verfügte und ökonomisch nicht überlebensfähig wäre. (2)

Nach Ansicht vieler PalästinenserInnen könnten allein demokratische Wahlen in den palästinensischen Gebieten auf lokaler und nationaler Ebene unter Einschluss aller relevanten politischen Akteure einen Ausweg aus der jetzigen Sackgasse bieten. Das Ergebnis eines solchen Prozesses läge demnach in einer demokratisch legitimierten nationalen Führung mit einer kohärenten politischen Strategie, deren Votum sich auch die Hamas nicht mehr entziehen könnte. Da jedoch weder Israel noch die USA einen Wahlprozess unterstützen würden, der Arafat weiterhin eine Rolle in der palästinensischen Politik einräumen und zu einer Integration der Islamisten in das politische System führen könnte, bleibt derweil lediglich die Hoffnung, dass die bislang beschlossenen Reformen der Autonomiebehörde und die Rückkehr zu parlamentarischer Arbeit trotz allem einen kleinen Fortschritt auf dem Weg zu einer Zukunft ohne Besatzung markieren.

Achim Rohde

Anmerkungen:

1) Graham Usher, Facing Defeat: The Intifada Two Years On, in: Journal of Palestine Studies 32/2 (Winter 2003), 21-40.

2) Gadi Algazi, Sharons Palästina. Vollendete Tatsachen im Schatten des Terrors, in: Le Monde Diplomatique, 11.7.03.