Kollektive Zerstreuung
Ligna experimentiert mit Formen der politischen Intervention
Am 22. Juni fand im Leipziger Hauptbahnhof zum zweiten Mal "Lignas Radioballett" statt. Trotz des offiziellen Verbots der Bahn AG waren über 400 Menschen der Einladung zur "Übung im nichtbestimmungsgemäßen Verweilen" gefolgt. Die TeilnehmerInnen des Radioballetts, das über das Lokalradio übertragen wurde, sollten am Bahnhof Gesten machen, die normalerweise dort verboten sind, wie z.B. das Hinsetzen auf den Fußboden oder die "Bettelgeste", das Aufhalten der Hand. Eineinhalb Stunden lang dauerte diese Choreografie, in der die TeilnehmerInnen die Grauzone zwischen erlaubten und verbotenen Gesten erprobten. ak sprach mit Mitgliedern der Gruppe Ligna vom Freien Sender Kombinat (FSK) in Hamburg über das Radioballett und die Möglichkeiten linker Intervention im öffentlichen Raum.
ak: Was ist Lignas Radioballett?
Torsten Michaelsen: Das Radioballett hat bisher zwei Mal stattgefunden: in Hamburg und in Leipzig jeweils im Hauptbahnhof. Die Grundidee ist, dass das Radioballett eine Choreografie zur Verfügung stellt für Leute, die mit Radiogeräten diesen Raum infiltrieren. In dieser Choreografie geht es hauptsächlich um Gesten, die in diesem Raum Tabu sind. Das Radioballett reagiert darauf, dass Hauptbahnhöfe die Prototypen des kontrollierten Raumes sind. Seit 1991 gibt es am Hamburger Hauptbahnhof eine Hausordnung, der öffentliche Raum ist quasi privatisiert. Das heißt, dass bestimmte Menschen ausgeschlossen werden und mit ihnen auch bestimmte Praktiken. Das Radioballett will nun genau diese Handlungen als Gesten für die Dauer der Aktion zurückzubringen.
Ole Frahm: Der Trick beim Radioballett ist, dass es, weil es über das Radio ausgestrahlt wird, Menschen ermöglicht assoziiert, aber zerstreut zu handeln. Wir reagieren darauf, dass an diesem Ort jede Versammlung verboten ist. Andernfalls bräuchte man sehr entschlossene Leute, die dort als Masse eindringen. Aber das Radioballett funktioniert als Zerstreuung: Weil es nicht unter diesen Topos Versammlung fällt, unterläuft es die gängigen Formen politischer Auseinandersetzung.
Wie hat die Deutsche Bahn auf euer Anliegen reagiert?
T.M.: In Hamburg war die Strategie der Deutschen Bahn AG, die Aktion zu verbieten. Obwohl dort zunächst nur über E-Mails für das Ballett mobilisiert wurde, hat die Bahn vorher davon erfahren. Wir wurden daraufhin aufgefordert, das Radioballett zu unterlassen und sollten eine Unterlassungsverpflichtungserklärung unterschreiben. Bei Verstoß hätte das eine hohe Geldstrafe zur Folge gehabt. Wir haben es auf einen Rechtsstreit ankommen lassen, den wir vor dem Hamburger Landes- und Oberlandesgericht - zwei Tage vor der Aktion - gewonnen haben. Die Bahn hat sich mit dem Urteil abgefunden und ist nicht gegen die Aktion vorgegangen.
O.F.: Uns hat gewundert, dass die Bahn auch im Nachhinein nicht noch mal Druck gemacht hat bzw. in Revision gegangen ist. Die Bahn hat das Problem, dass sich die Kontrolle des Bahnhofs in einer rechtlichen Grauzone befindet. Die Hausordnung ist nicht komplett juristisch abgesichert. Spätestens in Leipzig, wo wir die Bahn ganz offiziell darüber informiert haben, dass wir ein Radioballett durchführen, erwarteten wir einen neuen Prozess. Das ist nicht passiert, sondern die Aktion wurde zwei Tage vorher verboten. Interessanter weise konnten wir das Radioballett trotzdem durchführen. Es kamen einfach genug Leute: vierhundert bis fünfhundert. Ihr Verbot konnte die Bahn so einfach nicht durchsetzen, die Sicherheitsleute hätten an den vielen Eingängen des Bahnhofs nicht alle Leute nach Radiogeräten filzen können.
In dem Aufruf schreibt ihr, dass ihr mit dem Radioballett der "Zentralität der Überwachung durch Zerstreuung begegnen" wollt. Warum wählt ihr den Begriff der Zerstreuung im Gegensatz zu Demonstration?
O.F.: Der Begriff Zerstreuung kommt bei uns aus der Radiotheorie. Wir beschäftigen uns schon lange mit der Frage: Was bedeutet eigentlich die Zerstreuung der Stimme durch das Radio, auf die verschiedenen Geräte der HörerInnen? Normalerweise sitzen Leute zuhause und hören Radio. Weil sie nicht miteinander in Beziehung treten, bleibt der Zusammenschluss der HörerInnen untereinander erst mal sehr abstrakt. Durch das Radio wird aber eine Verbindung zwischen den Leuten hergestellt. Uns interessiert, diese Konstellation in den öffentlichen Raum zu bringen und politisch wirksam zu machen. Für den Zeitraum des Radioballetts entsteht eine Assoziation, ein temporäres Kollektiv. Die Aktion wäre nicht möglich, wenn nicht auch die anderen da wären. Wenn eine Person das Radioballett machen würde, würde man sie aus dem Bahnhof raus räumen. Aber dadurch, dass das Radioballett kollektiv, aber zerstreut stattfindet, ist es durchsetzbar.
Einerseits wollt ihr mit dem Radioballett einen Raum für unkontrollierte Situationen schaffen, zum anderen besteht aber das Ballett aus einer vorgegebenen Choreografie, in dem Sinne, dass über das Radio bestimmte Anweisungen gegeben werden, die die TeilnehmerInnen zu befolgen haben. Ist das nicht ein Widerspruch?
T.M.: Der entscheidende Unterschied ist, dass wir, die Initiatoren des Radioballetts, die Ausführung der Gesten nicht kontrollieren. Im Bahnhof wird durch die Videokontrolle Verhalten überwacht und sanktioniert. Wenn sich jemand nicht konform verhält, wird dafür gesorgt, dass er rausfliegt. Demgegenüber gehört zum Radioballett, dass nicht kontrolliert wird, wie die Vorschläge, die über das Radio gegeben werden, durchgeführt werden.
O.F.: Wir betonen, dass die Choreografie Vorschläge macht. Die Leute machen beim Radioballett auch mit - das habe ich schon von mehreren TeilnehmerInnen gehört - weil die Aktion einfach Spaß macht. Es ist für uns angenehm, dass die Teilnehmenden nicht denken: Oh, das ist jetzt Arbeit! Der Spaß entsteht sicher auf Grund der kollektiven Abweichung von der Normalität im kontrollierten Raum. Die Choreografie übt ja Gesten ein, die von der Norm abweichen und deshalb nicht völlig normiert werden können, wie z.B. selbstvergessen Tanzen: Da spielen wir ein Lied ein und jede/r findet genau seinen eigenen Ausdruck.
Viele Verbote am Bahnhof sind einem als solche gar nicht bewusst. Die Kontrolle hat sich beim Einzelnen so weit eingeschrieben, dass sie quasi unsichtbar wirkt.
T.M.: Ja, es gibt im Bahnhof relativ wenig Verbotsschilder, die Verbote wirken viel subtiler. Deshalb bezeichnen wir das Radioballett auch als Übungen. In Hamburg haben wir sie "Übungen im unnötigen Aufenthalt" genannt und in Leipzig "Übungen im nichtbestimmungsmäßigen Verweilen" - dies sind Begriffe aus der jeweiligen Hausordnung. Es war unsere Hoffnung, dass die Teilnehmenden des Radioballetts merken, dass es andere Gesten gibt, als die, die sie alltäglich im Bahnhof wahrnehmen oder selbst ausführen. In Leipzig haben wirklich auch Passanten mitgemacht, indem sie sich auf den Boden gesetzt oder sich eine Zigarette angezündet haben, was normalerweise ja sanktioniert wird. Durch das Radioballett wurde der Raum für solche Handlungen wieder geöffnet und wir hoffen natürlich, dass diese Erfahrung nicht sofort vergessen wird. Wir setzen auf die Erinnerung, dass hier mal etwas anderes möglich war.
In Hamburg fand das Radioballett auf Einladung der Kunsthalle statt. Auch andere Aktionen von euch liefen unter dem Label "Kunst". Ist das ein Schutzraum?
O.F.: Es bringt sicher gewisse Vorteile mit sich, im Kunstkontext zu arbeiten. Aber einen Raum, der die Politik unserer Arbeiten schützt, ist sie sicher nicht. Kunst erzeugt eine andere Aufmerksamkeit als rein politische Projekte bringen, aber sie ersetzt keinesfalls politische Aktionen. Die Einladung der Kunsthalle Hamburg hat uns den Rahmen gegeben, indem wir agieren konnten.
T.M.: Der Kunstkontext ermöglicht uns, über Räume genauer nachzudenken: Wie begibt man sich in einen bestimmten Raum? Wie ist ein Raum strukturiert? Welche Machtverhältnisse kreuzen sich in ihm? Es herrscht ein bestimmter Diskurs, an dem sich dann produktiv etwas entwickeln kann.
O.F.: Es verwunderte uns erst, dass Institutionen, wie das Hamburger Schauspielhaus, mit uns zusammen arbeiten wollen. Aber zum einen sind wir eine billige Arbeitskraft für diesen Kunstbetrieb und zum anderen findet eine Aufwertung von Kultur durch Politik statt. Politik als Distinktionsgewinn. Das ist ein Problem. Daraus folgt nicht, dass wir diese Zusammenarbeit ablehnen, aber es muss immer wieder bedacht werden, wie weit so ein Rahmen auch entpolitisierend wirken kann. Ohne solche Einladungen wären die Umstände für Ligna-Aktionen tendenziell radikaler, aber die Einladungen sind für uns auch eine Ermöglichung bestimmter Aktionen. Wichtig ist zu reflektieren, was macht der Kunstrahmen möglich und was verhindert er?
Ihr seid Teil des Freien Sender Kombinats (FSK) in Hamburg. Während freies Radio größtenteils - böse formuliert - wie linksradikaler Bildungsfunk funktioniert, experimentiert ihr mit dem Medium. Was ist eure Kritik am freien Radio?
T.M.: Dass es wie linksradikaler Bildungsfunk funktioniert.
O.F.: In Hamburg kommen einige, die freies Radio machen, aus dem antiimperialistischen oder postoperaistischen Spektrum, sie machen in erster Linie Radio für ihre Community. Das Radio wird zur Identitätsmaschine, mit der man sich vergewissert, dass man auf der richtigen Seite steht. In dieser Radiopraxis werden die Gräuel der Welt selbstgerecht angeprangert - entsprechend ohne politische Folgen. Zwar ist es auch wichtig, über die Gräuel der Welt zu berichten, aber worüber Freies Radio nachdenken muss ist, um mit Brecht zu sprechen, wie man das Radio "folgenreich machen" kann, so dass es über das Erhalten des Status quo hinausgeht und organisierend wirkt? Gegenöffentlichkeit lässt sich ja beispielsweise auch herstellen, indem man Flyer druckt und verteilt. Was kann freies Radio demgegenüber ermöglichen? Wir wollen das Konzept Gegenöffentlichkeit nicht völlig verwerfen. Aber was uns interessiert, ist die Suche nach dem subversiven und spezifischen Potenzial des Mediums Radio, das die altlinke Selbstgefälligkeit sprengt - und in gesellschaftliche Situationen interveniert.
Wie müsste eine emanzipatorische Praxis freien Radios, die über den Status des reinen Aufklärungsfunk hinausgeht, aussehen?
T.M.: Eine Vorstellung davon, wie freies Radio sein könnte, kann sich nur über neue Praktiken entwickeln. Das muss nicht immer in Form des Radioballetts sein. Wir hatten zum Beispiel eine sogenannte Interventionsphase direkt vor dem Ballett in Hamburg und in Leipzig, in der es darum ging, dass Teams reportageartig mit Handys durch den Bahnhof liefen. Der Witz daran war, dass sie die Berichte gleich über Radios, die sie dabei hatten, ausgestrahlt haben. Damit wurden die Reportagen über den Raum wieder in den Raum rückgesendet. Das hatte den interessanten Effekt, dass dadurch der Raum verändert wurde: Leute, die sonst aus dem Bahnhof sofort rausfliegen, haben sich dem Team angeschlossen. Die Wachleute haben nicht interveniert, weil ihnen klar war, dass dies auch sofort im Radio gesendet werden würde. Ein Radio, dass eine Intervention in den öffentlichen Raum zu einer gängigen Praxis macht, wäre eine tolle Vorstellung. Das wäre wirklich ein Radio, das mehr kann, als immer nur über Vertreibung und rassistische Kontrollen zu berichten.
"Wie klingt" - und hier zitiere ich euch - "das Traumbild freien Radios"?
O.F.: Wichtig ist, dass der Traum freien Radios unheimlich bleibt. Die Unheimlichkeit kommt daher, dass es der Traum einer ganz anderen Welt ist. Und - so schreiben wir weiter in dem Text "Wie der Traum keine Ware ist, ist es möglich, dass der Traum freien Radios eine Welt ohne Eigentum und ohne Waren ist. Das aber wird uns wie eine gespenstische Welt erscheinen. Eine Welt ohne Herkunft, eine zerstreute Welt." Es geht darum, eine Welt ohne Warenförmigkeit zu denken. Die materialistische Welt, deren Gespenstigkeit in dem Wissen genossen werden kann, dass diese Welt keine Herkunft hat, also keinen Ursprung und kein Zentrum. Eine unkontrollierbare Welt - diese zerstreute Welt ist mit dem Radio zu denken, zu träumen.
Interview: Nicole Vrenegor
"Das freie Radio ist noch nicht erwacht. Es wird auch nie erwachen. Es träumt. Aber wir sind zu stark, an diesen Traum zu glauben. Wir haben die Sprache für den Traum freien Radios noch nicht gefunden. Zwar ist freies Radio schon heute ein möglicher Ort der Artikulation dieses Traums, (...), aber noch sind wir zu wach, noch glauben wir, dass wir in das Mikrofon sprechen. ,Die ersten Weckreize vertiefen den Schlaf.` (W. Benjamin) Wir wollen schwach werden, von anderen Stimmen zu träumen. Wir werden träumen, dass uns das Mikrofon drängt, dass uns die vielen unbekannten Radiogeräte, in die das Mikrofon die Stimme ausstrahlt, drängen, zu fragen, wie die Artikulation der Traumsprache möglich werden wird. Wie klingt das Traumbild freien Radios?"
(Radio Sterne, Transmitter, 07.03)