Der Geschichtsrevisionismus hat sich durchgesetzt
Interview mit dem Belgrader Soziologen Todor Kuljic
Mit der Gründung des Staatsprovisoriums "Serbien und Montenegro" ist der Name "Jugoslawien" endgültig von der politischen Landkarte getilgt. Damit ist die Reetablierung des ethnisch begründeten Nationalismus auf dem Balkan weitgehend durchgesetzt. Der Belgrader Soziologe Todor Kuljic erklärt, wie der meist von konvertierten ehemals linken Intellektuellen getragene antikommunistische revisionistische Diskurs in den vergangenen Jahren ein neues Geschichtsbewusstsein erzeugte, das im Namen der Demokratisierung faschistische Elemente normalisiert. Kuljic ist Professor an der Philosophischen Fakultät der Universität Belgrad. Sein im vergangenen Jahr in Belgrad erschienenes neuestes Buch Prevladavanje proslosti. Uzroci i pravci promene slike istorije krajem 20. veka (Vergangenheitsbewältigung. Ursachen und Richtungen der Veränderungen des Geschichtsbildes am Ende des 20. Jahrhunderts) betrachtet unter anderem auch die deutschen Diskussionen vom Historikerstreit bis zur Walser-Debatte. Das Interview führte Boris Kanzleiter in Belgrad.
Herr Kuljic, Sie führen eine intensive Auseinandersetzung um den hegemonial gewordenen Geschichtsrevisionismus in den aus Jugoslawien hervorgegangenen neuen Nationalstaaten. Dabei beobachten Sie, dass sich Elemente des Demokratisierungsdiskurses mit der Rehabilitierung faschistischer Symbole verbinden. Wie sieht die Situation im postjugoslawischen Serbien aus?
Im heutigen Serbien kommt es zu einer fast kompletten Umwertung der Vergangenheit. Antifaschismus ist in Serbien seit der Wende des Jahres 2000 nicht nur unpopulär, sondern wird zunehmend kriminalisiert. Diejenigen, die im kommunistischen Diskurs als Opfer des Faschismus galten, sind im heutigen Diskurs zu Tätern, also Verbrechern, geworden. Und umgekehrt: Die serbischen Kollaborateure der deutschen Wehrmacht werden heute rehabilitiert.
Das gilt zum Beispiel für General Milan Nedic, den Präsidenten der serbischen Kollaborationsregierung während der Besatzungszeit. Nedic wird in zahlreichen Publikationen des Präsidenten der Serbischen Akademie für Wissenschaften, Medakovic, klar rehabilitiert. Nedic gilt nun als "serbischer Retter". Ähnliches ist in Bezug auf Dimitrije Ljotic zu sagen. Ljotic war während des Zweiten Weltkriegs der Führer einer serbischen faschistischen Organisation. Führende Mitglieder der Demokratischen Partei Serbiens (DSS) von Vojislav Kostunica setzen sich heute für die Rehabilitierung Ljotic ein. Er sei kein Faschist gewesen, sondern ein religiöser Patriot, wird in diesen Kreisen behauptet. Die Dokumente in den Archiven zeigen aber ganz klar, dass Ljotic und Nedic mit den Deutschen zusammengearbeitet haben.
Ein weiterer Aspekt des Revisionismus ist die Umwertung der nationalistisch-royalistischen Cetniks. Tatsächlich müssen sie vielschichtig beurteilt werden, denn in den ersten Monaten des Krieges haben sie gegen die Deutschen gekämpft. Aber ab Ende 1941 hatten sie keine Konflikte mehr mit den Deutschen und begannen mit die Kollaborationsregierung von Nedic zusammenzuarbeiten. Die Cetniks bekämpften ab diesem Zeitpunkt hauptsächlich die Kommunisten, also die Tito-Partisanen. Heute gibt es eine starke Tendenz, aus den Cetniks "Antifaschisten" zu konstruieren, obwohl sie das definitiv nicht waren. An der ganzen revisionistischen Umwertung lässt sich einmal mehr zeigen, wie Geschichte auf Grund von Notwendigkeiten und Umstände der Gegenwart konstruiert wird. Die heutigen politischen Bedürfnisse verlangen nach einer Veränderung der Geschichtsschreibung und der Umdrehung von Tätern und Opfern im Zweiten Weltkrieg.
Der Revisionismus in Serbien hat nicht erst mit dem Sturz Milosevics und der Machtübernahme der Demokratischen Opposition Serbiens (DOS) im Oktober 2000 begonnen, sondern bereits früher eingesetzt. In gewisser Weise bilden die von Ihnen beschriebenen Umkehrungen nur den Endpunkt einer Entwicklung. Wie würden Sie die Etappen des Revisionismus beschreiben.
Milosevics Partei war, was das Geschichtsbild angeht, im Grunde eine linke Kraft. Milosevic interessierte sich nicht für die Rehabilitierung der Cetniks. Dennoch begann während seiner Herrschaftszeit der Revisionismus, denn es gab ja ein Mehrparteiensystem. Es waren vor allem die Oppositionsparteien, die an der Rehabilitierung der Cetniks interessiert waren, wie Vuk Draskovic und seine Serbische Erneuerungsbewegung (SPO) sowie Vojislav Seselj mit seiner Serbischen Radikalen Partei (SRS). Aber auch andere, wie Kostunicas DSS, verfolgten einen latenten revisionistischen Nationalismus. Dieser Nationalismus hatte starke anti-kommunistische und anti-titoistische Komponenten. Damit sollte dem Milosevic-System, das sich noch über den Antifaschismus legitimierte, der Boden entzogen werden.
Der Prozess lässt sich schön an den Geschichtsbüchern für die Schule nachvollziehen. Unter Milosevis wurden zwar einige kritische Bewertungen zu Tito eingebaut, aber im Grunde wurde Jugoslawien positiv beurteilt. Die neuen Geschichtsbüchern dagegen rehabilitieren die Cetniks.
Ein spiegelbildlicher Prozess lässt sich in Kroatien feststellen. Wie hat sich dort der Revisionismus durchgesetzt?
In Kroatien hat sich der Revisionismus sogar schneller und vollständiger durchgesetzt als in Serbien. In Serbien bildete Milosevics Partei eine gewisse Barriere gegen den Revisionismus. In Kroatien dagegen befand sich seit Anfang der 1990er Jahre eine klar nationalistische und revisionistische Partei, Franjo Tudjmans Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ), an der Macht. Kroatien befand sich außerdem im Krieg. Die Gefechte Anfang der 1990er Jahre fanden alle auf kroatischem und bosnischem Gebiet statt, nicht auf dem Territorium, das heute Serbien ist. In Kroatien bildete sich eine Frontmentalität aus. Heute gelten in Kroatien nicht mehr kroatische Tito-Partisanen als Nationalhelden, wie das früher war, sondern die extremen, faschistischen Nationalisten der Ustasa-Bewegung. Es kam zu einer fast offiziellen Identifizierung von Tudjmans Bewegung mit der Ustasa. Die Ustasa ist absolut salonfähig. Interessant ist, dass sowohl in Serbien als auch in Kroatien die Träger des Geschichtsrevisionismus nationalistische Kräfte sind, die im Westen als "demokratisch" gelten. Es handelt sich hier um eine komplexe Dialektik.
Eine andere Widersprüchlichkeit stellt das Tito-Bild dar. In Deutschland wurde in den Massenmedien der serbische Nationalismus völlig irreführend oft mit Tito verbunden. Tatsächlich ist Tito gerade in Serbien unpopulär. Wie hat sich das Tito-Bild in Serbien und Kroatien verändert?
Tito forderte, dass jeder gegen seinen eigenen Nationalismus kämpfen solle. Im Grunde handelte es dabei um eine autoritäre Kosmopolitisierung und Pazifizierung. Das war der integrative Mechanismus im alten Jugoslawien. Serbische Nationalisten dagegen argumentierten, Tito sei ein Feind Serbiens gewesen. Sie werfen ihm vor, die Serben in Jugoslawien in verschiedene Republiken geteilt zu haben. Serben lebten ja nicht nur in Serbien, sondern auch in Bosnien und Kroatien. Der serbische Nationalismus benötigte eine Person, die stigmatisiert werden konnte. Dabei handelte es sich um Tito. Völlig außer Acht lassen sie dabei, dass es gerade das titoistische Jugoslawien war, in dem die auf verschiedene Republiken verteilten Serben in einem gemeinsamen Staat leben konnten.
In Kroatien präsentiert sich dagegen eine andere Situation. Dort gibt es eine doppelte Erinnerungspolitik. Tito wird als Jugoslawe abgelehnt. Tudjman sagte aber auch, dass Tito, der in Kroatien geboren wurde und aus einer kroatisch-slowenischen Familie stammt, als weltweit prestigereicher Staatsmann nicht gänzlich abgelehnt werden könne. In Kumrovac, dem Geburtsort Titos, gibt es immer noch jedes Jahr eine Gedenkfeier. In Serbien steht Tito als Signatur für etwas Feindliches. In Kroatien will man zwar mit Titos Jugoslawien absolut nichts mehr zu tun haben, lässt ihn aber als kroatischen Staatsmann gelten. Aber Ante Pavelic, der Führer der faschistischen Ustasa, steht natürlich höher im Kurs.
In Ihren Publikationen zur revisionistischen Geschichtsschreibung stellen Sie heraus, dass die vehementesten Träger des Diskurses ehemalige Kommunisten sind. Wie erklärt sich dieses Phänomen?
Ein gewöhnlicher Mensch, der früher Kommunist war und heute Nationalist ist, interessiert mich nicht. In einer Krise, wie wir sie in Jugoslawien erlebten, rettet man sich durch Konversion das Leben. Für mich sind die Sozialwissenschaftler interessant, die massenweise von links nach rechts konvertiert sind. Wenn man sechs Bücher über Marxismus geschrieben hat und das siebte extrem nationalistisch ist, stimmt etwas nicht. Es präsentiert sich eine schreckliche Situation. Fast alle ehemaligen Marxisten, die ihre Doktorarbeiten über marxistische Theorie, die "Selbstverwaltung", Tito oder ähnliches geschrieben haben, sind buchstäblich über Nacht zu Anti-Kommunisten und völkischen Nationalisten konvertiert. Man kann die Ausnahmen an den Fingern von zwei Händen abzählen. Das gilt auch für die oppositionellen Marxisten der früheren Praxis-Gruppe. Am stärksten zeigte sich die Tendenz in Belgrad an der Fakultät für politische Wissenschaften, die als Parteischule galt. Besonders hervorgetan haben sich die Historiker. Sie sind über den Nationalismus zu Anti-Kommunisten konvertiert.
Inwiefern hat die Umdeutung der Geschichte des Nationalsozialismus in der deutschen Diskussion der 1980er und 1990er Jahre eine Rolle für den Revisionismus im ehemaligen Jugoslawien gespielt? Die deutsch-jugoslawische Geschichte ist immerhin auf das engste verflochten.
Die deutschen Diskussionen sind zumindest in Belgrad kaum rezipiert worden. Abgesehen von wenigen Ausnahmen arbeiten die Wissenschaftler hier nicht mit der in Deutschland erschienenen Literatur, weil sie die Sprache nicht sprechen. Es gibt noch nicht einmal einen serbischen Aufsatz über den Historikerstreit in Deutschland. Auch andere Diskussionen wie die Goldhagen-Debatte, die Schwarzbuch-Debatte, die Walser-Debatte sind hier alle unbekannt.
Aber die weitgehende Durchsetzung des Revisionismus in Serbien und Kroatien, sowie die Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen in Deutschland schaffen eine Gemengelage, in der revanchistische Vertriebenenorganisationen wie die Donauschwäbische Landsmannschaft ihre Forderungen artikulieren können, ohne auf nennenswerte Kritik zu stoßen. Hier scheint sich der Geschichtsrevisionismus in Serbien und Deutschland zu berühren ...
Es zeigt sich deutlich, dass es überall dort, wo Länder auf eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland angewiesen sind, zu einer Umwertung der Geschichte der so genannten Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieg kommt. In der polnischen Debatte ist das sehr offensichtlich. Es handelt sich um eine pragmatische Revision der Geschichte, die sich an heutigen Machtverhältnissen festmacht. In Serbien ist die Thematik noch nicht so auf der Tagesordnung, weil es unter Milosevic keine Grundlage für eine solche Diskussion über die Restitution des Eigentums der ehemaligen "volksdeutschen" Minderheit gab. Es könnte aber noch dazu kommen. Meine Meinung dazu ist nicht sonderlich originell. Ich denke, dass man immer die Ursachen von den Konsequenzen trennen muss. Die Ursache der Vertreibung ist Hitler und der Nationalsozialismus.
Sie beschreiben in einem Ihrer Texte, dass es in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien in den vergangenen zehn Jahren besonders schwer gewesen sei, ein kritischer Linker zu bleiben. Sehen Sie Möglichkeiten für die Reetablierung einer linken Gesellschaftskritik nach dem Ende Jugoslawiens?
Es war nicht leicht, ein konsequenter Linker zu bleiben, weil das eine Kritik des Nationalismus bedeutete. Vor allem des Nationalismus in der eigenen Nation. Das wurde als "Verrat" gebrandmarkt, besonders während des Krieges. Jede dissonante, nicht-nationalistische Stimme wurde bestraft. Heute ist das nicht anders. Nach dem Sturz Milosevics ist der "demokratische Nationalismus" der aktuelle Hit. Durch diese Formel ist Nationalismus normalisiert. In diesem Kontext etwas von einem linken, nicht-nationalistischen Standpunkt zu artikulieren, ist sehr schwierig. Es gibt Kritik am Nationalismus, aber nicht von einem linken Standpunkt. Es sind Nichtregierungsorganisationen und manche liberale Intellektuelle, die nicht-nationalistisch argumentieren, aber von links gibt es nur sehr wenige Stimmen. Das ist unsere Wirklichkeit und im Augenblick sehe ich leider keine Chance auf eine Veränderung.