Streikbrecher
Richtungsstreit in der IG Metall
So viel Bewegung war schon lange nicht mehr in der zweitgrößten Gewerkschaft der Welt: ein ergebnislos abgebrochener Streik, eine wochenlange Schlammschlacht um den Vorsitz, eine frühzeitige Verabschiedung des bisherigen Vorsitzenden in den Ruhestand und eine gigantische Austrittswelle. Im Kern ging es dabei um grundlegende Fragen gewerkschaftlicher Identität, auch wenn mitunter der Eindruck entstand, zwei ältere Herren an der Führungsspitze würden ihre Eitelkeiten pflegen und persönliche Animositäten gegeneinander austragen.
Nach Darstellung der meisten Medien war der Streit um die Nachfolge von Klaus Zwickel ein Richtungskampf zwischen "Modernisierern" und "Traditionalisten". Für erstere steht der baden-württembergische Bezirksleiter Berthold Huber, für die zweite Position der bisherige zweite IG Metall-Vorsitzende Jürgen Peters. Peters hob in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau (FR) allerdings hervor, es gebe "bei den politischen Inhalten viel weniger Differenzen, als es die bloße Etikettierung Modernisierer oder Traditionalist unterstellt". (FR, 17.7.)
Auch wenn die Etikettierung nicht stimmen mag - auch Peters hat schon viele "moderne" Tarifergebnisse zu verantworten -, gibt es doch inhaltliche Differenzen, die die Schärfe der Auseinandersetzung in der IG Metall erklären. Es geht um die Frage, wie sich Gewerkschaften im Allgemeinen und die IG Metall im Speziellen zur sozialdemokratischen Regierungspolitik verhalten sollen. Verstehen sie sich als Transmissionsriemen für die sozialdemokratische Politik der "neuen Mitte" oder können sie gegenüber der Sozialdemokratie einen Rest an Unabhängigkeit behaupten? Letztlich geht es um das Verhältnis der Gewerkschaften zum vorherrschenden Modell neoliberaler und angebotsorientierter Politik, um das Verhältnis von Gestaltungsmacht (Ko-Management) versus Gegenmacht (Arbeitskämpfe) - beides natürlich im Rahmen der herrschenden Gesellschaftsordnung und bei Anerkennung der kapitalistischen Produktionsweise.
Sowohl beim Umgang der Gewerkschaften mit der Agenda 2010 als auch beim Streik in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie werden diese Differenzen deutlich.
Einerseits sagten die Gewerkschaften im Mai das Gespräch ihrer Vorsitzenden bei Bundeskanzler Schröder ab und riefen zu Protestkundgebungen auf. Andererseits war die Mobilisierung, gelinde gesagt, halbherzig. Die geringe Beteiligung an den Protestaktionen als wurde dann als willkommener Anlass für einen erneuten "Stimmungsumschwung" genommen: Die Proteste wurden eingestellt und die Gespräche mit der Bundesregierung wieder aufgenommen.
Offen ausgetragen wurden die Differenzen auf dem gewerkschafts- und gesellschaftspolitischen Forum der IG Metall am 11./12. Juni in Berlin, auf dem über die weitere Strategie der IG Metall gegenüber der Sozialdemokratie und deren Politik diskutiert wurde. Klaus Zwickel trat dafür ein, dass sich die Gewerkschaften auf Veränderungen einlassen müssten, um Reformen "mitgestalten" zu können: "Ja, wir wollen in die Mitte, anstatt an den Rand gedrängt zu werden und in die Isolation zu geraten", lautete seine Botschaft. (FR, 13.6.) Schon zuvor hatte Klaus Lang, bisheriger "Chefdenker" der IG Metall, tief in die Kiste der Modernisierungsrhetorik gegriffen und sich für den "aktivierenden Sozialstaat" als Voraussetzung für "ökonomische Effizienz und gesellschaftliche Mobilität" ausgesprochen. (siehe auch ak 474) Hans-Jürgen Urban, bisheriger Bereichsleiter Sozialpolitik beim IG-Metall-Vorstand und designierter Nachfolger von Klaus Lang, plädierte bei der gleichen Veranstaltung für eine größere Distanz zur SPD und für eine härtere Auseinandersetzung mit der Politik der Bundesregierung. Da sich Urban auch noch gegen die Senkung der Lohnnebenkosten und den "aktivierenden Sozialstaat" und für die Beibehaltung der paritätischen Finanzierung der Sozialkassen aussprach, sah die über Interna wohlinformierte Frankfurter Rundschau - ihr neuer Chefredakteur kommt aus der IG Metall - die Gewerkschaft schon im Sektierereckchen landen: "Mit Peters als Spitzenmann und Urban als intellektueller Leitfigur aber droht die Gefahr, dass sich die IG Metall in eine dogmatische Ecke zurückzieht." (FR, 13.6.)
Zur entscheidenden Auseinandersetzung auch über die künftige Linie der IG Metall wurde der Streik für die Einführung der 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie. Als Klaus Zwickel am 28. Juni, nach vier Wochen Arbeitskampf, das ergebnislose Ende des Streiks verkündete, umging er nicht nur die satzungsgemäße Urabstimmung und degradierte die Streikenden einmal mehr zur Verschiebemasse gewerkschaftlicher Tarifstrategen. Viel schwerer wiegt, dass der Streik zu einem Zeitpunkt abgebrochen wurde, als er in der westdeutschen Autoindustrie Wirkung zu zeigen begann.
Bei BMW in Regensburg, München und Dagolfing stand die Produktion für kurze Zeit still, da der bestreikte Getriebehersteller ZF in Brandenburg dringend benötigte Teile nicht liefern konnte. Bei VW in Wolfsburg wurde Kurzarbeit beantragt - eine Folge der Just-in-time-Produktion und der Schaffung einer mobilen Lagerhaltung auf Straße und Schiene. Dieses hoch sensible Produktionssystem könnte durch strategisch gut geplante Streiks in sehr kurzer Zeit zum Stillstand gebracht werden.
Verweigerte Solidarität
Wer das Tarifgeschäft kennt, weiß, dass es im Vorfeld eines Streiks das eine oder andere Pausengespräch zwischen Unternehmensleitung und Betriebsratsvorsitzenden gibt, in dem es um die zu erwartende Streiktaktik geht. "Alles halb so wild", dürfte dabei den Großbetrieben signalisiert worden sein; es ging ja schließlich nur um einen akzeptablen Fahrplan für die schrittweise Einführung der 35-Stunden-Woche. Das nach nur einer Woche Streik zu Stande gekommene Ergebnis in der ostdeutschen Stahlindustrie (Einführung der 35-Stunden-Woche bis 2009) ließ ein ähnliches Ergebnis auch für die Metall- und Elektroindustrie erwarten.
Doch der Streik wurde vom Unternehmerverband offenkundig genutzt, um bisher geltende Spielregeln zu durchbrechen. Die Bedingungen waren günstig: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist im Osten gering; der IG Metall steht dort kein einheitlicher Unternehmerverband gegenüber; die politische Großwetterlage erleichtert den offenen Konflikt mit den "reformunwilligen" Gewerkschaften; schließlich hatte man es mit einer offenkundig zerstrittenen IG Metall zu tun. Insbesondere die Betriebsratsfürsten von BMW, Opel und Daimler-Chrysler waren nicht gewillt, die Streikenden in Ostdeutschland zu unterstützen. Sie äußerten schon nach zwei Wochen Streik immer wieder ihr Unverständnis und warnten vor den Auswirkungen des Streiks auf den Westen. Der Gesamtbetriebsrats-Vorsitzende von Opel, Klaus Franz, forderte sogar offen zum Abbruch des Streiks auf.
Eine Konferenz der Automobilbetriebsräte am 23.6. in Frankfurt/Main brachte zwar noch eine der gewerkschaftsüblichen Solidaritätserklärungen zu Stande, jedoch keine konkrete Unterstützung. Die Streikenden wurden förmlich im Regen bzw. in der sengenden Sonne stehen gelassen. Der Unternehmerverband konnte sicher sein, dass es eine Ausweitung des Streiks nicht geben würde.
Ebenfalls nachteilig wirkte sich der sukzessive Abschluss von Haustarifverträgen auch im Osten aus. Hier lässt sich allemal Kritik an der Streiktaktik anbringen. Wenn Zwickel und Co. Peters und Verhandlungsführer Hasso Düvel Fehler beim Streik vorwarfen, dann meinten sie die möglichen Auswirkungen auf die westdeutsche Autoindustrie und nicht die mangelhafte Verankerung in der Organisation oder die Fehleinschätzung über die Planungen der Arbeitgeberseite. Die Auswirkungen auf die westdeutsche Autoproduktion wären, angesichts der Blockade der Unternehmer, das adäquate Druckmittel gewesen, um ein akzeptables Ergebnis zu erzielen. Die Verweigerung innergewerkschaftlicher Solidarität durch die Betriebsrats-Fürsten der westdeutschen Autoindustrie und andere IG-Metall-Funktionäre musste den Streik zwangsläufig scheitern lassen.
Dass es auch anders geht, machten der Betriebsrat und die Beschäftigten des VW-Motorenwerks in Salzgitter deutlich. Auf einer Betriebsversammlung solidarisierten sie sich mit dem Streik und lehnten die Übernahme von Streikbrecherarbeiten des bestreikten VW-Motorenwerkes in Chemnitz ab.
Soziallabbau mitgestalten
Hier kommt wieder die Agenda 2010 ins Spiel. Die Niederlage der Gewerkschaften wurde beim SPD-Sonderparteitag Anfang Juni offenkundig. Der kurzfristige Konfrontationskurs gegen die Regierungspolitik wurde spätestens ab Mitte Mai eingestellt; nicht mehr der Sozialabbau, sondern das gewerkschaftliche "Kerngeschäft", die Tarifpolitik bzw. das Tarifrecht, wurde in den Mittelpunkt gerückt. Bei seiner Rede am 14. März hatte Kanzler Schröder eine größere Beweglichkeit der Tarifparteien (gemeint waren die Gewerkschaften) gefordert, was betriebliche Öffnungsklauseln bei Tarifabschlüssen angeht. Anderenfalls müssten gesetzliche Eingriffe in das Tarifvertragsrecht vorgenommen werden. Sekundiert wird das von Friedrich Merz, der "das Tarifkartell in Deutschland" aufbrechen will und zu diesem Zweck der CDU-Fraktion einen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Nicht mehr die Gewerkschaften sollen direkte Gesprächspartner für die Unternehmen sein, sondern der Betriebsrat. Sprechen sich zwei Drittel der Beschäftigten eines Betriebes für Abweichungen vom Tarifvertrag aus, soll dies, nach Vorstellungen der CDU, möglich sein.
Die Eingriffe in die Tarifautonomie würden gewerkschaftliche Handlungsmöglichkeiten massiv untergraben. Bei ihrem Gespräch mit Schröder konzentrierten sich die gewerkschaftlichen Spitzenfunktionäre ganz auf diesen Punkt. Nach dem Gespräch durfte der Kanzler dann verkünden, dass die Notwendigkeit der Umsetzung der Agenda 2010 von den Gewerkschaften "im Prinzip nicht mehr bestritten wird." Pflichtgemäß wurde zwar von DGB-Chef Sommer und Co. gegen die alleinige Finanzierung des Krankengeldes durch die Beschäftigten protestiert, ansonsten wurde "nicht das Trennende thematisiert, sondern das Verbindende". (FR, 28.6.) Nach den Beschlüssen der informellen großen Koalition zur Gesundheitsreform blieben gewerkschaftliche Proteste aus, wenn man von Presseerklärungen absieht.
Als Gegenleistung für ihr Stillhalten erwarten die Gewerkschaften von der Bundesregierung, dass die von Merz geforderten und von Schröder angedachten gesetzlichen Eingriffe in die Tarifautonomie unterbleiben. Schröder wiederum forderte eine rasche Einigung im ostdeutschen Tarifkonflikt und winkte nach Streikende mit dem Zaunpfahl. Die Volkswirtschaft sei "auf starke, aber auch kompromissbereite Gewerkschaften angewiesen". (FR, 2.7.) Bei dem Streit um die Führungsposition in der IG Metall geht es um die Frage, wie groß die "Kompromissbereitschaft" in Zukunft ausfallen soll und ob diese Kompromisse auch erstritten und erstreikt werden sollen.
Ein brüchiger Kompromiss
Sollten von den Gewerkschaften nicht "freiwillig" weitere betriebliche Öffnungsklauseln zugelassen werden, wird auch ein sozialdemokratischer Gesetzgeber aktiv werden. Jürgen Peters sieht sich in dieser Frage durchaus einig mit dem Präsidenten von Gesamtmetall, Kannegiesser. Plädiert Peters für einen "Flächentarifvertrag mit betrieblichen Optionen", so tritt Kannegiesser für den Erhalt von Flächentarifverträgen ein, "vor allem, wenn es mehr betriebliche Regelungen" gebe. Die "Kompromisse" sind vorgezeichnet.
Mit dem ergebnislosen Abbruch des Streiks in Ostdeutschland und der folgenden Personaldiskussion ist die IG Metall und ihr "kämpferischer" Teil empfindlich geschwächt worden, auch wenn es nicht gelungen ist, Jürgen Peters von der Spitze zu verdrängen. Die neuerliche Installierung des Führungsduos Peters und Huber ist ein brüchiger innerorganisatorischer Kompromiss.
Georg Wißmeier