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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 476 / 19.9.2003

Für eine Ökonomie des Glücks: Theorie und/oder Kampf?

Bourdieu ist tot, es lebe Bourdieu. Eine Rezension

"Theorie als Kampf" - so lautet der vielversprechende und programmatische Titel eines kürzlich erschienenen Sammelbandes über die politische Soziologie des Anfang 2002 in Paris verstorbenen Pierre Bourdieu. In der Tat ein gut gewählter Titel, denn Arbeit und Person Bourdieus zeichnete gerade beides aus: eine theoretische und eine kämpferische Leidenschaft; eine heutzutage und insbesondere hierzulande unter akademischen Intellektuellen selten anzutreffende Mischung. Bloß: Am Ende des Titels des hier vorgestellten Buches findet sich ein Fragezeichen. Und das hat seinen Grund.

Dass Theorie immer auch Kampf ist - um Titel, Bedeutung, Anerkennung, kurz: symbolisches Kapital - darin dürften sich die 25 AutorInnen wohl einig sein. Von Theorie als Kampf zu sprechen, erfordert aber eigentlich, zumal wenn es dabei um Bourdieu gehen soll, danach zu fragen, wie welche Theorie in welchen politischen Kämpfen mit welchen Zielen zum Einsatz gebracht werden kann. Für eine solche Beantwortung der Titelfrage wäre wiederum nicht nur Voraussetzung, dass man die betreffenden theoretischen Instrumente kennt und anwendet - hier: die bourdieuschen Konzepte des Habitus, der Kapitalformen, der sozialen Felder, der Praxis etc. -, sondern auch, dass man von gegenwärtigen sozialen Kämpfen weiß und das eigene Arbeiten auch als deren Bestandteil versteht. Diese Art Antworten aber werden in dem hier diskutierten Band eher weniger gesucht. Und das entbehrt, gerade wenn man sich mit Bourdieu beschäftigt, nicht einer gewissen Komik. Denn der hat wohl wie wenig andere die Notwendigkeit des Theoretisierens in und für soziale Kämpfe nicht nur als Anforderung oder Problem benannt, sondern in seiner Biografie gelebt; etwa in seinem Einsatz für die Sans Papiers in Frankreich oder in seinem Engagement für den Aufbau einer "Internationale der Intellektuellen" gegen die weltweite neoliberale Hegemonie.

Die merkwürdige Abwesenheit der im Titel programmatisch angerufenen Kämpfe in diesem Band macht seine Beiträge nicht gleich uninteressant. Äußerst aufschlussreich etwa ist Michael Vesters Beitrag über die Entwicklung und Verschiebung gesellschaftlicher Milieus in der Bundesrepublik, der auf umfassenden empirischen Untersuchungen basiert und Bourdieus Analyse der Klassenrelationen innerhalb der französischen Gesellschaft zugleich für Deutschland überprüft und differenziert. Vesters Arbeit zeichnet sich außerdem dadurch aus, dass sie an E.P. Thompsons historische Untersuchung über die Entstehung der englischen Arbeiterklasse anknüpft und die Herausbildung der verschiedenen sozialen Milieus in Deutschland als Konsequenz aus vielfältigen und fragmentierten "Klassenkämpfen" fasst. Doch etwas verwundert folgt man seiner materialreichen Darstellung zum Ende, an dem fast warnend auf die Gefahr der Erosion "sozialer Stabilität" durch "leichtfertige" Außerkraftsetzung institutioneller Kompromissstrukturen hingewiesen wird. Ob es wünschenswert ist, dass die in gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen "gebundenen Energien wieder frei werden", scheint Vester eher fraglich zu sein, was wiederum erstaunlich ist, weil doch von Bourdieu und Thompson ausführlich beschrieben worden ist, wie hoch der Preis ist, den vor allem die unteren Klassen für die "soziale Stabilität" zu zahlen haben.

Produktion
von Legitimität

In der Tat ist auch richtig, wie Steffani Engler und Karin Zimmermann ausführen, dass die soziologische Rezeption Bourdieus dessen herrschaftskritisches Potenzial schon begrifflich oft nicht fasst, weil sie den Grundgedanken Bourdieus von der unhintergehbaren Relationalität sozialer Positionen nicht wirklich aufnimmt, was dann schließlich auch dazu führt, dass die eigene soziale Position als TheoretikerIn unreflektiert bleibt und das theoretische Tun so unter der Hand doch wiederum nichts anderes ist als die Produktion von "legitimem", d.h. Herrschaftswissen. Nur: Was folgt daraus - wenn dank Bourdieu "sich WissenschaftlerInnen neue Möglichkeiten eröffnen und ihren eigenen Standpunkt herrschaftskritisch reflektieren"? Eine allgemeine Ethik der wissenschaftlichen Selbstreflexion ist sicherlich wünschenswert und durchaus auch im Sinne Bourdieus, doch ginge es auch hier - wiederum den Titel des Buches ernst genommen - nicht darum, die selbstreflexive Herrschaftskritik zum Einsatz zu machen, um z.B. die sozialen Mechanismen universitärer Wissensreproduktion konkreter zu benennen - und damit angreifbar zu machen?

Interessant sind auch die beiden feministischen Bezugnahmen auf Bourdieu - übrigens, bis auf den gerade genannten Beitrag und einen kurzen Einführungstext von Sighard Neckel die einzigen Aufsätze von Frauen in diesem Band (was auch ein interessantes Objekt für die Selbstreflexivität der HerausgeberInnen wäre: Wer schreibt warum zu welchen Themen und gilt wofür als "ExpertIn"?) - die sich v.a. kritisch auf Bourdieus Konzeption "männlicher Herrschaft" beziehen und ganz zu Recht dort einen ziemlich großen "blinden Fleck" ausmachen, der darin besteht, die Arbeit der "Denaturalisierung", die Bourdieu so überzeugend in Bezug auf Klassenrelationen und Lebensstile vorgeführt hat, in Bezug auf die Frage nach den Geschlechterverhältnissen zu vernachlässigen. So scheint bei Bourdieu "die" Frau immer noch ernst zu nehmende Analysekategorie und zudem mehr oder weniger ohnmächtig in maskuline Herrschaftsspiele verstrickt zu sein: Männer lieben die Macht, stellte Bourdieu fest, und Frauen lieben die Männer, die die Macht lieben; dafür aber sind sie immerhin ausgestattet mit einem "Scharfblick der Ausgeschlossenen". Dass das völlig zu kurz greift und feministische Theoriedebatten nicht ansatzweise rezipiert, ist klar; auf der anderen Seite ist bei Bourdieu das Geschlechterverhältnis fundamentales Herrschaftsverhältnis - für die meisten sonstigen Soziologen immer noch ein exotischer Gedanke. Wie auch immer: Zu überlegen, welche Art feministischer (oder sonstiger) Kämpfe aus der Kritik des bourdieuschen Männerherrschafts-Theorems folgt, steht wohl noch aus.

Unzweifelhaft stimmt auch, wie Susanne Kröhnert-Othman und Ilse Lenz feststellen, dass ein "ungelöstes brennendes Problem" ist, wie eine Gesellschaftstheorie vorstellbar ist, "die die unterschiedlichen Dimensionen z.B. der Ungleichheit nach Klasse und Ethnizität integrieren kann". Doch einiges spricht dafür, dass gerade Bourdieu weniger dieses "Integrationsproblem" auf der Seele brannte als vielmehr die den "Ungleichheiten" zu Grunde liegenden und - eben! - immer umkämpften Kräfteverhältnisse, und wenn das stimmt, dann geht es wohl weniger darum, Phänomene in die Theorie zu integrieren, als vielmehr darum, gerade angesichts einer scheinbar übermächtigen neoliberalen Hegemonie genauer zu bestimmen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Einsätzen Herrschaftsverhältnisse derzeit (re-)produziert werden.

Was wem auf
der Seele brennt

In diesem Sinne zeigt der Soziologe Loic Wacquant, der eine Reihe von Arbeiten gemeinsam mit Bourdieu veröffentlichte, in einer brillanten historischen Rekonstruktion des Verhältnisses von Getto und Gefängnis in den USA, wie das downsizing des sozialen Sektors mit dem upsizing des staatlichen Strafsektors einhergeht, bis Getto und Gefängnis sich schließlich so ähnlich werden, dass von einer "tödlichen Symbiose" gesprochen werden kann - einer äußerst funktionalen Symbiose zudem, jedenfalls was den konsequenten gesellschaftlichen Ausschluss von immer größeren Teilen der männlichen schwarzen Bevölkerung angeht. Die Behandlung der Unterklassenfrage durch das Gefängnissystem, so Wacquant, stellt am Ende des 20. Jahrhunderts den Schlüssel zur Formation des postkeynesianischen Staates im 21. Jahrhundert dar; wobei die "Unterklassenfrage" zugleich, wie Wacquant eindrucksvoll belegt, Synonym für eine immer noch zunehmende "Rassen"segregation ist.

Olaf Groth greift den auch in diesem Buch mehrfach konstatierten Bruch zwischen Bourdieus politischen und soziologischen Schriften auf, der darin besteht, dass Bourdieu theoretisch so staatskritisch war, wie er den Staat andererseits politisch als letztes Mittel gegen die Entfesselung der "archaischen Kräfte des Marktes" beschwor. Groth skizziert nun - ganz im Sinne der Herausgeber "mit Bourdieu über Bourdieu hinaus" - von diesem Widerspruch ausgehend eine Theorie neoliberaler Hegemonie, die mit Bourdieu für die "kulturellen und symbolischen Dimensionen sozialer Ungleichheit und kollektiver Kämpfe sensibilisiert" ist: Bourdieu hielt die so genannte "Ideologie der Kompetenz", die "neue Herrschaftsform der ,sanften Tour?` und des entkrampften Stils" für die derzeit dominierende symbolische Form der Reproduktion bürgerlicher Klassenherrschaft; und eben diese Perspektive muss, so Groth, mit der Analyse postfordistischer Kapitalakkumulation verbunden werden. In Bourdieu die "Krise des Fordismus" einzulesen, würde aus dieser Sicht bedeuten, sowohl solche neuen Formen symbolischer Herrschaft vor allem als Reaktion auf die Infragestellung bürgerlicher Herrschaftspositionen zu begreifen, als auch andererseits stärker zu berücksichtigen, dass der Neoliberalismus kein kohärentes System von Lebensstilen und keine kohärente Ideologie, sondern ein in sich widersprüchliches und fragmentiertes "hegemoniales Projekt" ist. Ziel müsste es sein, meint Groth, eine Arbeit der "Re-präsentation" zu beginnen, d.h. der Wiederaneignung von (z.B. antiautoritären) Lebensformen, Konzepten und Kräfteverhältnissen, die inzwischen allerorten für neoliberale Politikmodelle instrumentalisiert und korrumpiert werden.

Auch Jens Kastner bezieht sich auf Bourdieus politisches Anliegen und erweitert es entlang bourdieuscher theoretischer Begriffe: Er zeigt am Beispiel der Entwicklung der bundesdeutschen Asylgesetzgebung eindrücklich, wie der moderne Nationalstaat unter neoliberalen Bedingungen "ethnifizierende", sprich: rassistische Effekte produziert und institutionell absichert. Bourdieu beim Wort nehmend, der in einem seiner politischen Texte davon spricht, dass der "Gegensatz zwischen Zugehörigen und Fremden" die fundamentale soziale Ordnungskategorie zu werden scheint, fordert Kastner mit dem "politischen" gegen den "theoretischen" Bourdieu, die Kategorie "Ethnie" einzuspeisen in das Habitus-Konzept, das bei Bourdieu die Einverleibung, "Verkörperung" und Reproduktion sozialer Positionen im Denken und Handeln der Individuen beschreibt. Bourdieus ansonsten im akademischen Spektrum auch gerne mal belächelte politische Statements macht Kastner so zum Ausgangspunkt theoretischer Weiterentwicklung, wenn er feststellt, dass "die soziologische Theorie durchaus aus dem politischen Aktivismus Bourdieus" Nutzen ziehen könne.

Bourdieu beerben, glücklich werden...

Bourdieu zufolge stellt sich in allen ausdifferenzierten Gesellschaften als fundamentale Frage die nach der Erbfolge. "Erbe" ist in diesem Sinne ein widersprüchliches Medium der Reproduktion von gesellschaftlichen Positionen, insofern für viele Menschen die Kluft zwischen dem, was sie erreichen, und den Erwartungen ihrer Eltern, die sie nicht erfüllen, denen sie aber auch nicht abschwören können, Leid produziert - z.B. durch einen verdeckten Eltern-Imperativ, der gerade Nachgeborenen nicht-privilegierter Klassen einflüstert: Werde etwas Besseres, aber verlass uns nicht.

Ähnlich Widersprüchliches lässt sich auch in Bezug auf den "Nachlass" Bourdieus konstatieren: Um der auch in diesem Buch stets wiederholten Notwendigkeit gerecht zu werden, die "Schwächen" von Bourdieus politischer Soziologie zu überwinden, scheint eine Voraussetzung zunächst doch zu sein, sich Bourdieus "Theorie-Habitus" zu eigen zu machen, der eben darin besteht, Theorie in radikaler Weise nicht als Selbstzweck zu verstehen.

Dass das möglich ist, zeigen einige Beiträge in diesem Sammelband eben auch. Und so besteht am Ende der Lektüre immer noch Hoffnung, dass Bourdieus Erbe auch in Zukunft angetreten und überschritten wird - in Bemühungen um konsequent "staatskritische" Theorien, die ihr Involviertsein in gesellschaftliche Kämpfe um Gegenmacht zur neoliberalen Hegemonie nicht in Frage stellen, sondern begrüßen; schließlich geht es nach Bourdieu doch um nicht weniger als die Entwicklung einer "Ökonomie des Glücks".

Stefanie Graefe

Uwe H. Bittlingmayer, Rolf Eickelpasch, Jens Kastner, Claudia Rademacher (Hrsg.): Theorie als Kampf? Zur politischen Soziologie Pierre Bourdieus. Leske und Budrich, Opladen 2002, 492 Seiten, 24 Euro