Les filles des cités
Frauen gegen Männergewalt in Frankreichs Trabantenstädten
Frankreichs Symbolfigur ist eine Frau: Marianne, Freiheitskämpferin, die mit der Waffe in der Hand das aufständische Volk auf die Barrikaden führt. So hat sie Eugène Delacroix 1830 gemalt. Die "Mariannes von heute" sind Töchter von MigrantInnen, vor allem aus Afrika, die sich gegen die tägliche Gewalt in den Banlieues, den unwirtlichen Trabantenstädten, zur Wehr setzen.
Am Abend des 11. Juli wurden an der Außenfassade der Pariser Nationalversammlung mehrere Riesenporträts unter dem Titel "Mariannes von heute" angebracht. Die insgesamt 14 Abbildungen zeigen junge Frauen aus Einwandererfamilien. Jede von ihnen hat entweder einen "bonnet phrygien" auf dem Kopf - so heißt die rote Zipfelmützeaus der Zeit der Französischen Revolution - oder trägt eine Cocarde, ein aus derselben Periode stammendes Symbol für revolutionären Patriotismus, das allerdings in späteren Zeiten eine chauvinistische Bedeutung bekam. Der Titel der Ausstellung vermittelt die Botschaft: La République métissée. Das bedeutet ungefähr die "vermischte Republik", wobei der französische Begriff métissage ("Vermischung") je nach Standpunkt euphorisch zustimmend bis ablehnend benutzt werden kann.
Die Porträts wurden auf Anordnung des konservativen Parlamentspräsidenten und Ex-Innenministers Jean-Louis Debré angebracht. Das ist eines der Ergebnisse von Unterredungen zwischen der amtierenden Raffarin-Regierung und Frauengruppen, die vor allem die Bewohnerinnen der Banlieues (Trabantenstädte) französischer Ballungsräume vertreten.
Die abgebildeten 14 Frauen haben alle im Februar und März dieses Jahres am "Marsch der Frauen aus den Vorstädten" teilgenommen. Ihr harter Kern bestand aus etwa zwei Dutzend Aktivistinnen, die von Stadt zu Stadt reisten, um an Vorträgen und Diskussionsrunden teilzunehmen. Auf diesem Wege sollte die besondere Unterdrückung der filles des cités ("Mädchen der Siedlungen", gemeint sind die Trabantenstädte) landesweit zum Thema gemacht werden. In der Folgezeit sollten sich feste Bewegungsstrukturen herausbilden, in Gestalt einer neuen Frauenorganisation Ni putes ni soumises ("Weder Huren noch unterwürfig"). Unter diesen provokanten Titel hatten die Initiatorinnen ihre mehrere Monate dauernde Protest- und Organisierungskampagne gestellt, die durch den "Marsch der Frauen aus den Banlieues" sichtbar gemacht werden sollte.
Manche BeobachterInnen führen die besondere Unterdrückung junger Frauen in den Banlieues vorwiegend auf "den Islam" zurück. In konservativen und rechtsextremen Kreisen war es vor allem in den Neunziger Jahren üblich, eine "Islamisierung der Banlieues" zu beklagen. (1) Inzwischen ist diese Behauptung seltener zu hören, da einerseits die große "islamische Welle" offenkundig ausgeblieben ist und andererseits auch die regierende Rechte die konservativen islamischen Gemeindevertreter als Ordnungsfaktor in den "sozialen Problemzonen" für sich entdeckt hat.
Die französischen Banlieues sind, anders als die "Ghettos" nordamerikanischer Großstädte, keine "ethnischen" Bezirke, in denen eine Community absolut bestimmend wäre. Die Mehrzahl der BewohnerInnen in den Trabantenstädten sind europäischstämmige Angehörige der sozialen Unterschichten, auf die freilich der Fokus der Medien nicht gerichtet ist. Nirgendwo bestehen rein "islamische" Bezirke.
"Weder Huren noch unterwürfig"
Das dominierende Phänomen in den sozialen Brennpunkten, welche viele der Trabantenstädte darstellen, ist die Auflösung kollektiver sozialer Strukturen durch Anonymität, mangelnde Möglichkeiten sozialer Eingliederung und das Fehlen von Zukunftsperspektiven. Das kollektive Bewusstsein der dort lebenden Jugendlichen ist kaum von der Religion oder sonstigen traditionellen Werten geprägt. Absolut dominierend ist das durch die Medien vermittelte Konsum- und Konkurrenzbewusstsein, das durch die allerorten in den Banlieues in die Augen stechenden Marken-Sportklamotten oder den hohen Stellenwert schneller Autos widergespiegelt wird. Tätigkeiten in der "Parallelökonomie", wie etwa der Handel mit bestimmten Drogen, erlauben einer durchsetzungsstarken Minderheit, zu "schnellem Geld" zu kommen, das sie auch offen zur Schau stellen. Andere lautstarke Minderheiten schließen sich zu Jugendgangs zusammen, um in dieser auf Härte und Konkurrenz ausgerichteten Umgebung zu bestehen. Sexualität wird in dieser Umwelt oftmals als etwas gesehen, was man sich "aneignet", "notfalls" auch mit Gewalt.
Körperlich Schwächere unter den männlichen Jugendlichen, aber vor allem Mädchen haben in diesem Umfeld häufig das Nachsehen. Deswegen werden viele von ihnen auf die traditionellen Familienstrukturen zurückgeworfen. Auf der Suche nach Schutz flüchten manche unter ihnen sich in den Rückzug auf eine vermeintliche Tradition, die aber in der Regel aufgesetzt ist.
Die häufigere Verwendung von Kopftüchern erklärt sich zum Großteil aus diesem Kontext. Das Kopftuch signalisiert den männlichen Jugendlichen: "Lasst mich in Ruhe, ich bin nicht zu haben". Das funktioniert auch häufig, da die männliche Einwandererjugend oftmals mit dem Rückzug auf vermeintlich traditionelle Rollen spielt - wenn es etwa darum geht, der Schwester das Ausgehen zu verbieten. Der symbolisch zur Schau gestellte Respekt angeblich tradierter Rollen, etwa durch das Kopftuchtragen, demonstriert die Unterwerfung unter dieses Dominanzverhalten. Damit lässt sich oftmals "Ruhe" erkaufen. Genau daraus aber resultiert die fatale Alternative, die durch den Slogan Ni putes ni soumises denunziert werden soll: Entweder fügt frau sich in eine solche Rolle, oder aber sie gilt in den Augen einer rücksichtslosen Minderheit als Freiwild.
Hinzu kommt, dass heute der Weg über die berufliche zur sozialen Emanzipation für viele junge Frauen versperrt ist. Die 50-jährige Mouna, die in der Pariser Trabantenstadt La Courneuve Alphabetisierungskurse für migrantische Frauen leitet, meint: "Der Mentalitätswandel lässt sich bei manchen Frauen aus migrantischen Familien spüren. Meine Generation hat alles getan, um aus traditionellen Rollen herauszukommen. Als meine Eltern eine arrangierte Heirat für mich einfädeln wollte, habe ich mich für die Kandidaten systematisch auf eine Weise angezogen, dass sie abgeschreckt wurden und Reißaus nahmen. Doch viele der heute aufwachsenden Mädchen wollen jung und unbedingt jemanden aus der Community heiraten, damit sie akzeptiert werden. Das hat damit zu tun, dass andere Wege, die die Gesellschaft früher bereit hielt, blockiert scheinen."
Die "islamische Welle" ist ausgeblieben
Schon vor Jahren haben viele Frauen aus Trabantenstädten und Einwandererfamilien damit begonnen, sich außerhalb der klassischen feministischen Gruppierungen zu organisieren. Aus Zusammenschlüssen in örtlichen associations (eine Zwischenform zwischen Verein und Bürgerinitiative) erwuchs die Bewegung für örtliche Frauenkongresse, die unter der Bezeichnung Etats généraux locaux des femmes im Jahr 2001 stattfanden. Die Schirmherrschaft hatte dabei das landeweite Netzwerk Fédération nationale des maisons des potes , der Nationale Zusammenschluss der "Häuser der Kumpels", übernommen, eine Struktur, die unter der Kontrolle der um 1984/85 entstandenen Organisation SOS Racisme steht.
Auslöser für die landesweite Kampagne in Form der Städtetour war eine besonderes Aufsehen erregende Gewalttat am 4. Oktober 2002 in der Pariser Trabantenstadt Vitry-sur-Seine. Die 17-jährige Sohane, Tochter kabylischer Einwanderer, war durch einen örtlichen führenden Kleinkriminellen mit Benzin übergossen und mit einem Feuerzeug bedroht worden. Dem Täter geriet dabei offenbar die Situation außer Kontrolle - er erlitt selbst schwere Brandverletzungen, während sein Opfer in den Flammen starb.
Dieser besonders spektakuläre Tod, in dessen Folge bis zu 2.000 Menschen aus Vitry-sur-Seine mit einem Schweigemarsch demonstrierten, ging durch sämtliche Medien. So schien die Zeit reif, um die Ursachen der Gewalt zur Sprache zu bringen und die Zustände zu verändern. Anfang Februar dieses Jahres begann der "Marsch der Frauen aus den Banlieues" deswegen auch in Vitry-sur-Seine. Von dort aus ging es zunächst nach Süd- und Südwestfrankreich, bevor in den ersten Märztagen verschiedene Trabantenstädte im Ballungsraum Paris auf dem Programm standen. Am 8. März demonstrierten in Paris rund 15.000 bis 20.000 Personen, darunter auch eine größere Anzahl Männer.
Zwar war die Teilnahme am Demonstrationszug durch Paris optisch stark durch die Präsenz von Berufspolitikern und Funktionärinnen geprägt. Hinter dem Prominentenblock waren die FunktionsträgerInnen von SOS Racisme, ausgestattet mit Ni putes ni soumises-Wimpeln und Aufklebern, ein wenig überdeutlich präsent. Dennoch war auch eine Beteiligung von Frauen und auch einigen Männern aus den Trabantenstädten selbst sichtbar.
Im Anschluss an den 8. März begannen die Organisatorinnen Verhandlungen mit der konservativen Regierung über eine mögliche Finanzierung des Netzwerks oder von Projekten wie der Herausgabe eines Handbuchs für Frauen. Dagegen ist der Organisierungsprozess in den "sozialen Problemvierteln" seitdem allem Anschein nach ins Stocken geraten. Die Algerierin Chafia, Mitglied der internationalistischen Gruppe Solidal, sieht in der Bewegung ein Problem angelegt: "Es gibt keine wirkliche Bewegung von unten, keine Selbstorganisation. Der Funktionärsapparat von SOS Racisme hat seit längerem alles getan, um seine Hegemonie über diese Kampagne zu sichern. Dadurch kommt aber keine echte Dynamik dort, wo sie nötig wäre, zu Stande."
SOS Racisme hat bereits in den 80er Jahren, damals von Präsident François Mitterrand mit reichlich Geld ausgestattet, den antirassistischen Mobilisierungen der ImmigrantInnenjugend die Spitze abgebrochen - die Jugendlichen wurden für Konzerte mobilisiert und anschließend ohne politische Perspektiven gelassen. Die staatsnahe Organisation ist heute unter den Banlieue-BewohnerInnen selbst weitgehend diskreditiert, zumal ihr bis vor kurzem amtierender Präsident Malek Boutih im Juni dieses Jahres sein Amt gegen einen Sitz in der sozialdemokratischen Parteiführung der Sozialdemokraten eingetauscht hat - nicht ohne zwei Monate später auch noch lautstark den konservativ-repressiven Innenminister Nicolas Sarkozy als "Hoffnungsträger für die Jugend" zu loben.
SOS Racisme blockiert die Selbstorganisation
Aber Chafia macht dem organisatorischen Kern noch einen anderen Vorwurf: "Sie hatten Recht damit, von der Gewalt in den Banlieues und der Situation der jungen Frauen in der Immigrationsbevölkerung zu reden. Aber sie tun das in einer solchen Weise und mittlerweile so ausschließlich, dass es sich in den dominierenden Medien wunderbar in die Angstkampagne gegenüber Einwanderung, Kriminalität und Trabantenstädten einfügt. Es gibt in Frankreich 1,5 Millionen misshandelte Frauen; tun wir doch nicht so, als ob solche Probleme nur die Banlieues betreffen würden. Jetzt hat die Sache einen Dreh angenommen, dass sie zur Selbstbestätigung der Leute in den sauberen Mittelschichtsvierteln wird." Aus ähnlichen Gründen hat sich das Netzwerk gegen Polizeigewalt Résistons, das vor allem zu den Banlieues arbeitet, im Frühjahr über die Kampagne zerstritten, bevor es sich abwandte.
Auf der Homepage von Ni putes ni soumises (www.macite.net) wird eine (leicht verspätete) Sommeruniversität vom 3. bis 5. Oktober im Pariser Vorort Dourdan angekündigt - genau dort, wo SOS Racisme alljährlich im Juli seine Sommer-Uni veranstaltet. Andere Versammlungen, etwa in "sozialen Brennpunkten", sind derzeit nicht geplant.
Bernhard Schmid, Paris
Anmerkung:
1) Nur am Rande sei erwähnt, dass in Deutschland einige nach rechtsaußen gedriftete Ex-Linke diesen Diskurs für sich entdeckt haben. So liest man unter der Überschrift "Französische Zustände" über den Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen: "Er hat rassistischen Hass und vernünftige Einwände gegen die ungebremste Islamisierung der Banlieues unter ein Dach gebracht". Autor ist der Sektenpriester Justus Wertmüller, die Quelle Bahamas Nr. 42 vom Herbst 2003.