Faschismus und Totalitarismus
Konjunkturen einer Jahrhundertdebatte
Wer den "Kampfbegriff" Faschismus in einem übergreifenden Sinne benutzt, gefährdet den "antitotalitären Konsens" der Bundesrepublik Deutschland - das ist, grob gesagt, der Haupteinwand der Konservativen gegen einen "generischen" Faschismusbegriff. Dass beides in der Tat zusammenhängt, zeigen die Konjunkturen, welche die Totalitarismusdoktrin im 20. Jahrhundert erlebte.
Das Wort kommt ursprünglich aus Italien. Als "totalitär" (totalitario) bezeichnete der liberale Antifaschist Giovanni Amendola ein Jahr nach dem Machtantritt des Faschismus das von Mussolini angestrebte System. Wenig später griffen die Faschisten selbst das Wort auf. "Jawohl, wir sind totalitär! Wir wollen es sein vom Morgen bis zum Abend, ohne abweichende Gedanken", verkündete Roberto Forges Davanzati, Mitglied der faschistischen Parteiführung, Anfang 1926. Amendola wiederum hatte zwischenzeitlich auch der jungen Sowjetunion Totalitarismus vorgeworfen: Faschismus wie Kommunismus seien eine "totalitäre Reaktion auf Liberalismus und Demokratie". Bald teilte die gesamte bürgerliche Opposition in Italien die These von der strukturellen Ähnlichkeit der beiden Diktaturen. Der Priester Don Luigi Sturzo, als Führer der Volkspartei Ahnherr der Democrazia Cristiana, sah den Unterschied zwischen Italien und der Sowjetunion darin, "dass der Bolschewismus eine kommunistische Diktatur oder ein Linksfaschismus ist und der Faschismus eine konservative Diktatur oder ein Rechtsbolschewismus ist."
In der Folgezeit kam dieser Vorwurf auch aus den Reihen der Sozialdemokratie. In offen hetzerischer Form schlug er sich auf einem Wahlplakat der SPD aus dem Jahre 1932 nieder: "Kommunisten und Nationalsozialisten kämpfen gemeinsam. (...) Der gleiche Terror, die gleichen Lügen, der gleiche Hass eint sie. Beide erfüllen den gleichen Zweck: Die Einheit der Arbeitenden zu stören. (...) Das Großkapital weiß, was es an den Kommu-Nazis hat. (...) Die Kommunisten haben dem Faschismus den Weg bereitet. (...) Wer kommunistisch wählt, wählt nationalsozialistisch." Während die Sozialfaschismus-These der Komintern im schlichten Geschichtsbild der Berliner Republik als entscheidende Ursache für die Spaltung der Arbeiterbewegung und für den Sieg der Nazis missverstanden wird, sind die "antitotalitären" Verirrungen der Sozialdemokratie heute kaum noch bekannt. Dass sie den antifaschistischen Kampf schwächten und die allerersten Opfer des Nazi-Terrors verhöhnten, ist offensichtlich.
Nach Errichtung der NS-Diktatur bemühten sich vor allem US-amerikanische Politologen um eine wissenschaftliche Begründung der Totalitarismustheorie. Auf Konferenzen in Minneapolis (1935) und Philadelphia (1939) wurden vermeintliche Gemeinsamkeiten der "zwei Typen" von "Massenbewegungs-Diktaturen" (Hans Kohn) gesammelt. Auf der Konferenz von Philadelphia, schreibt der Historiker Wolfgang Wippermann, "stand ... die Frage, ob ein Vergleich zwischen Faschismus und Kommunismus überhaupt zulässig sei, überhaupt nicht mehr zur Diskussion." Der kurz zuvor, am 23. August 1939, geschlossene deutsch-sowjetische-Nichtangriffspakt ("Hitler-Stalin-Pakt") galt als letzter Beweis für die These von der gemeinsamen Frontstellung der "totalitären" gegen die "liberalen Mächte".
Der Nutzen des "antitotalitären Konsenses"
Letztere fanden sich allerdings bald darauf im Bündnis mit der "totalitären" Sowjetunion gegen Deutschland, Italien und Japan. Kritik am Stalinismus war fortan in den westlichen Demokratien unerwünscht. Die "ziemlich abrupte Preisgabe des Totalitarismusmodells" zeige, so Wippermann, "wie politisch motiviert die gesamte Diskussion war, weshalb ,Totalitarismus` vor 1945 insgesamt mehr den Charakter eines politischen Kampfbegriffs hatte."
Das blieb auch bei Beginn des Kalten Krieges so, als der Totalitarismusbegriff eine neue Konjunktur erlebte. Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski, die Urheber der in den 1950er Jahren im Westen hegemonialen "klassischen" Totalitarismustheorie, waren zwar um den Anschein wissenschaftlicher Beweisführung bemüht. So untersuchen sie in ihrem 1956 erschienenen Buch "Totalitarian Dictatorship and Autocracy" diverse ideengeschichtliche Ursprünge des Totalitarismus und nennen als Vorläufer Hitlers und Stalins so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Augustin, Luther, Calvin, Machiavelli, Hobbes, Hegel, Marx und Nietzsche. Aber die "Hypothese" bleibt, obwohl unbewiesen, unverändert erhalten - nämlich "dass die faschistischen und kommunistischen Diktaturen in ihren wesentlichen Zügen gleich sind".
Nach Ansicht von Friedrich und Brzezinski entscheiden sechs idealtypische Merkmale darüber, ob ein Staat als "totalitär" einzustufen ist: "Die entscheidenden Wesenszüge, von denen wir behaupten, dass sie allen totalitären Diktaturen gemeinsam sind und ihre Gestalt ausmachen, sind die sechs folgenden: eine Ideologie, eine Partei, eine terroristische Geheimpolizei, ein Nachrichtenmonopol, ein Waffenmonopol und eine zentral gelenkte Wirtschaft." Dass das sechste Kriterium, die zentrale Wirtschaftslenkung, die faschistischen Regime in Italien und Deutschland aus dem Kreis totalitärer Staaten ausschließt, war aus Sicht der Urheber - und vor allem der politischen Anwender - der Totalitarismustheorie kein Problem: Nazi-Deutschland war besiegt, sein westdeutscher Nachfolgestaat ein verlässlicher Partner an vorderster Front der Ost-West-Konfrontation, während gegen die Sowjetunion, soeben noch wesentlich für den Sieg der Anti-Hitler-Koalition verantwortlich, nun jede Anschuldigung gerade recht kam.
Den Vorwurf, der antikommunistischen Propaganda eine pseudo-wissenschaftliche Rechtfertigung geliefert zu haben, kann man Hannah Arendt nur bedingt machen. Im Schlusskapitel ihres monumentalen Werkes "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" (die englische Originalfassung erschien 1951) nennt sie "die Gaskammern des Dritten Reiches und die Konzentrationslager der Sowjetunion" ebenso im gleichen Atemzug wie die von beiden Regimen betriebene "Bevölkerungspolitik, die systematisch oder fabrikmäßig darangeht, die ,lebenstauglichen und minderwertigen Rassen und Individuen` oder die ,sterbenden Klassen` zu vernichten". So ließ sich die hochgerüstete Sowjetunion moralisch auf die gleiche Stufe stellen wie das besiegte Nazi-Deutschland. Arendts These vom "Anspruch auf Weltherrschaft, den alle totalitären Bewegungen stellen", legt darüber hinaus nahe, dem sowjetischen Totalitarismus mit den gleichen Mitteln zu begegnen wie dem deutschen. Zu Arendts Ehrenrettung sei allerdings gesagt, dass sie später von ihrem strikten Antisowjetismus abrückte: In ihrem 1966 geschriebenen Vorwort zum Dritten Teil der "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" erklärte sie die Geschichte des sowjetischen Totalitarismus einstweilen für beendet - seit 1953: "Mit seinem (Stalins) Tod fand die Geschichte, die dieses Buch erzählen muss und erfassen und verstehen will, zumindest ein vorläufiges Ende."
Ungeachtet dieser wichtigen Einschränkung muss Hannah Arendts Name auch heute noch dafür herhalten, plattesten Gleichsetzungen von "Rot und Braun" oder vergleichenden Studien der "beiden deutschen Diktaturen" höhere Weihen zu geben. Letzteres ist explizit Schwerpunkt des Dresdner "Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung" und unabhängig vom Ergebnis des Vergleichs zwangsläufig darauf angelegt, die NS-Verbrechen zu verharmlosen.
Dass Hannah Arendt "als herkömmliche Totalitarismus-Theoretikerin ausfällt" (Micha Brumlik), wurde in der bundesrepublikanischen Rezeption kaum zur Kenntnis genommen. Denn hier ging es nicht um wissenschaftliche Genauigkeit, sondern um die politische Nutzbarmachung eines Schlagworts. So wurde das Grundgesetz zur "lebendigen Totalitarismustheorie" (Ernst Nolte), diese Theorie zur "Weltanschauung des Grundgesetzes" (Konrad Löw). Mit der angeblichen Bedrohung durch den sowjetischen "Totalitarismus" ließ sich die Wiederbewaffnung ebenso rechtfertigen wie die Verfolgung von KommunistInnen. Die Ende der 1960er Jahre begonnene, ostpolitische Kurskorrektur ("Wandel durch Annäherung") erforderte allerdings auch eine ideologische Umorientierung. Während die Regierenden Entspannungsrhetorik produzierten, wurde die 1956 als "Moskaus Fünfte Kolonne" verbotene KPD 1968 unter dem Namen DKP wieder zugelassen. An den Universitäten begann die kurze Blütezeit der Faschismusdiskussion. Die in die Defensive gedrängten VerfechterInnen der "Totalitarismustheorie" - stellvertretend hier der Historiker Karl Dietrich Bracher - warnten vor dem Schlimmsten: " ... musste es von schwerwiegender, das Selbstverständnis der Bundesrepublik treffender Bedeutung sein, wenn der Totalitarismusbegriff in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion durch den Faschismusbegriff ersetzt wurde (...) Die Folgen sind unabsehbar. Denn hier geschah zugleich ein allmählicher Abbau jener Hemmungen und Schutzvorkehrungen der ,wehrhaften Demokratie`, die Staat und Gesellschaft vor neuen Polarisierungen und extremen Ideologisierungen bewahren ... sollten."
Ein Freibrief für die "wehrhafte Demokratie"
Seit den 1970er Jahren wurde "Totalitarismus" mehr und mehr durch "Extremismus" ersetzt. Als dessen "höchste Intensivstufe" (Manfred Funke) wurde der "Terrorismus" ausgemacht, dem es nun mit allen Mitteln der "wehrhaften Demokratie" zu begegnen galt - eine wohlfeile "wissenschaftliche" Rechtfertigung für die mit Ausnahmegesetzen, Sondertribunalen und polizeilichen Todesschüssen geführte "Anti-Terror-Politik" des Staates.
Die Renaissance der Totalitarismustheorie begann in den 1980er Jahren. Die von Ernst Nolte im "Historikerstreit" vertretene Behauptung eines "kausalen Nexus" zwischen bolschewistischem "Klassenmord" und nazistischem "Rassenmord" ging über Arendts Gleichsetzung von Arbeitslagern mit Vernichtungslagern weit hinaus: Denn nach Nolte war der Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden eine (verständliche) Reaktion auf den Terror des "jüdischen Bolschewismus", ein Verbrechen aus Angst, selbst diesem Terror zum Opfer zu fallen.
Die heftige Ablehnung, die Nolte erfuhr, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Teile seiner Thesen in den deutschen Mainstream- und Elitendiskurs eingingen. Der im Historikerstreit über Nolte errungene Sieg war ein "Pyrrhussieg, wie allein schon der enorme Zuwachs an totalitarismustheoretischen Bekenntnissen seitens einiger bis dahin durchaus kritisch eingestellter Historiker bezeugte", schreibt Karl Heinz Roth, der vor allem den "Durchbruch der Neo-Totalitarismustheorie seit dem Untergang der DDR" untersucht hat. Erst nach 1989 wurde diese Doktrin wieder zur "hegemonialen politischen Ideologie". An ihrer Verbreitung und Absicherung sieht Roth riesige ideologieproduzierende Apparate beteiligt, darunter das 1994 eröffnete Haus der Geschichte, die Bundeszentrale für politische Bildung, die Bundestags-Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", außerdem die "aus der Bundeskasse ernährte Klientel" der WissenschaftlerInnen, die sich um die "neuen Fleischtöpfe" (Expertisen- und Forschungsaufträge) balgen.
Die Wiederbelebung der Totalitarismustheorie nützt aber nicht nur den unmittelbar Beteiligten. Indem diese in den Rang einer Staatsideologie gehobene Doktrin den Begriff der Freiheit mit dem Privateigentum und den Bürgerrechten der parlamentarischen Demokratie gleich setzt, kriminalisiert sie jeden Versuch, dem Kapitalismus eine Alternative entgegenzusetzen, als "totalitär". Dass Wolfgang Wippermann, Herausgeber des nebenstehend rezensierten Buches ",Faschismus` kontrovers", trotzdem auf eine "neue Totalitarismustheorie" hofft, ist schwer nachvollziehbar. Zumal die bisherigen Totalitarismustheorien, wie er selbst schreibt, "mehr in ideologiegeschichtlicher als in wissenschaftlicher Hinsicht interessant" sind. Eine sehr zurückhaltende Umschreibung für die hier in aller Kürze beschriebene Ideologieproduktion zum Wohle des Kapitalismus.
Js.
Lesenswertes zum Thema:
Karl Heinz Roth: Geschichtsrevisionismus. Die Wiedergeburt der
Totalitarismustheorie, Hamburg 1999 (vgl. Rezension in ak
441)
Gerd Wiegel: Die Zukunft der Vergangenheit. Konservativer
Geschichtsdiskurs und kulturelle Hegemonie, Köln 2001 (vgl.
Vorabdruck in ak 456)
Wolfgang Wippermann: Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der
Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997