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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 477 / 17.10.2003

Die Asymmetrie der Gegenmacht

Zur Perspektive sozialer Kämpfe in Argentinien: colectivo situaciones im Gespräch

Verónica Gago und Diego Sztulwark vom argentinischen colectivo situaciones reisten im Sommer diesen Jahres nach Deutschland, um hier ihr Buch Que se vayan todos! (1) vorzustellen, in dem es um kreative Widerstandsformen und Überlebensstrategien in Argentinien nach den Revolten im Dezember 2001 geht - ebenso wie in dem folgenden Gespräch, das Lars Stubbe mit den beiden AktivistInnen in Hamburg führte.

Verónica: Angefangen hat alles an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität in Buenos Aires. Dort bildete sich eine Gruppe, die mate hieß und zunächst in der Uni, später in Stadtteilen und mit Gewerkschaften arbeitete und Aktivitäten organisierte wie z.B. autonome Lehrveranstaltungen, bei denen in undogmatischer und nicht-akademischer Form über die Kämpfe in den 70er Jahren in Argentinien diskutiert wurde - mit Militanten jener Zeit, die seitdem in der Öffentlichkeit nicht mehr präsent gewesen waren. Das war der Eintritt in einen Austausch mit einer ganzen Generation von Militanten - im ganzen Land; insgesamt nahmen etwa 5.000 Menschen daran teil. Wir gründeten dann das colectivo und sind jetzt eine Gruppe von ungefähr acht Leuten, die mit vielen mehr Menschen zusammenarbeiten. Wir haben einen kleinen Verlag, de mano a mano (von Hand zu Hand), in dem wir Materialien veröffentlichen, die aus Workshops mit und in den sozialen Bewegungen entstehen.

Diego: Unsere Gruppe ist außerdem das Ergebnis einer Diskussion, bei der wir herausfanden, dass wir eines politischen Wegs müde sind, der als einzigen Horizont die Orientierung auf die legale Politik der Macht hat. Wir haben eine theoretische Hypothese aufgestellt: Soziale Veränderung in Bezug auf den Kapitalismus findet nicht mehr auf dem Weg über die politische Macht statt. Veränderung ist nur dann möglich, wenn sich diese schon in den gegenwärtigen Praktiken ausdrückt. Wir arbeiten nach dem Prinzip der "militanten Untersuchung" (2) und entwickeln von dort ausgehend Theorien - im Erziehungs- und im Gesundheitswesen wie auch in alternativen Ökonomieformen, in konfrontativen sozialen Bewegungen und in Menschenrechtsgruppen.

Diego: Nach dem Ende der Diktatur Anfang der 80er Jahre vergrößerte sich praktisch täglich eine grundlegende Kluft in Argentinien, nämlich die zwischen einem originär demokratischen Projekt und dem Projekt des Neoliberalismus. Eine neue Dynamik war aufgetaucht: das neoliberale Primat der Ökonomie. Entsprechend wurde die Regierung Alfonsín (3) durch einen ökonomischen Putsch gestürzt und nicht durch einen Militärputsch. Menem (4) repräsentierte danach die absolute Dominanz des Neoliberalismus. Das heißt, die Sphäre der institutionalisierten politischen Macht ordnete sich vollständig der Logik der neoliberalen Kulmination unter. Auf der anderen Seite produzierte der Neoliberalismus auch neue Subjekte, etwa die Arbeitslosen. Und es entstand ein neuer Typ sozialen Widerstands, der situativ und lokal ist, der keine politischen Alternativen vorschlägt und nicht mehr an die politische Option des Konsenses glaubt und der sich in äußerst radikalen Kämpfen ausdrückt. Eine soziale Dynamik, die sich null identifiziert mit einem politischen Apparat, der hundertprozentig dem Kapital untergeordnet ist.

Verónica: Der Dezemberaufstand war ein Punkt, an dem sichtbar wurde, was schon lange gärte. Neue Initiativen entstanden: Nachbarschafts- und Stadtteilversammlungen, Netze zur materiellen Selbstversorgung. Im Grunde ist es eine Übertreibung, die sozialen Bewegungen Argentiniens im Singular zu nennen, denn es handelt sich um verschiedene Praktiken, die bestimmte Codes, bestimmte Entwicklungspunkte gemeinsam haben, aber keine organische Verbindung; sie artikulieren sich nicht als homogene Bewegung.

Diego: Im vergangenen Jahr gab es eine ziemlich starke Repression, vor allem ab der zweiten Jahreshälfte. Trotzdem haben die Kerne der aktivsten sozialen Bewegungen überlebt, sowohl die piqueteros (5) als auch bestimmte Stadtteilversammlungen. In der zweiten Jahreshälfte 2002 nahmen die Aktivitäten der sozialen Bewegung ab. Unsere These ist folgende: In Argentinien koexistieren eine Macht und eine Gegenmacht - weder gelingt es der Macht, die Gegenmacht zu liquidieren, noch kann die Gegenmacht siegen. Also gibt es diese Koexistenz, mal ist sie eher ein Nebeneinanderher leben, mal ist sie mehr Konfrontation - aber es gibt im Unterschied zu anderen Epochen der argentinischen Geschichte nicht mehr die Möglichkeit, die Erfahrungen der Gegenmacht komplett zu zerstören. Es gibt besetzte Fabriken, die ihren Kampf fortführen, es gibt die Menschenrechtsgruppen, die sehr aktiv sind, es gibt die Versammlungen, auch die Bewegung der piqueteros ist nach wie vor sehr präsent. Überall gibt es kleine Knotenpunkte, in der ökonomischen Reproduktion, im Erziehungs- und Gesundheitswesen, in der Kunst und der Kultur, und manche dieser Knoten bekommen zeitweise eine große symbolische Kraft, manchmal sind es die piqueteros, mal die alternativ ökonomi- schen Strukturen wie die "Tauschringe", in anderen Momenten die H.I.J.O.S. (6), und in wieder anderen die besetzten Fabriken.

Verónica: Ein anderes Problem ist die Erwartungshaltung vieler Leute; die Erwartung, dass alle diese Praktiken sich in institutionalisierte Alternativen verwandeln. Von den Tauschringen erwartete man ein alternatives ökonomisches System zum Kapitalismus, von den Stadtteilversammlungen eine alternative politische Macht, von den piqueteros, sie sollten in Zukunft die Eingreiftruppe der Bewegung werden, eine Art Volksheer.

Diego: Brukman ist eine wichtige Fabrik im Zentrum von Buenos Aires. Vor einem Jahr gab es einen Räumungsversuch, doch die ArbeiterInnen haben die Fabrik wiederbesetzt. Brukman ist außerdem eine der wenigen Fabriken, die sich weigerte, Kooperative zu werden. Kooperative auf dem freien Markt zu sein, bedeutet ein hohes Maß an Selbstausbeutung. Als die Räumung stattfand, hatten wir gerade ein Projekt mit den Leuten von Brukman begonnen; ein sehr ambitioniertes Projekt, das in der Versammlung der ArbeiterInnnen angenommen wurde, eine Art "ArbeiterInnenlaboratorium", bei dem es darum ging, nicht an der Alternative Kooperative oder Verstaatlichung kleben zu bleiben, sondern einen eigenen Weg zu entwickeln. Erstens ging es darum, eine legale Form zu finden für die kollektive Übernahme der Maschinen und der Fabrik. Zweitens um eine Übereinkunft mit dem Staat darüber, wie die Kontrolle über den Produktionsprozess in den Händen der ArbeiterInnen bleiben kann. Drittens ging es um weitergehende Formen der Selbstbestimmung, über die Form der Produktion und die Beziehung zu anderen sozialen Bewegungen. Viertens um eine sehr wichtige Frage: Wie einen Produktionsprozess in Gang halten mit einem Rentabilitätsniveau, das die Fabrik vielleicht nicht auf der Ebene des Gewinns wettbewerbsfähig hält, aber es ermöglicht, einen Zirkel von ökonomischer Reproduktion zu schaffen, eine ökonomische Basis für die Gegenmacht.

Verónica: Und das Thema Brukman bleibt weiter auf der Tagesordnung, weil es im Umkreis der Fabrik Initiativen gab (und gibt), die nicht resignierten, obwohl es kein Material gab, um mit der Produktion weiterzumachen. Es geht um Brukman als Untersuchungsort für die Entwicklung anderer Produktionsformen, auch wenn die Fabrik vielleicht nicht gehalten werden kann.

Diego: Diese Fabrik ist nämlich ein Gefängnis, mit 40 Grad Hitze, mit fürchterlichen Maschinen. Die Arbeitsbedingungen sind der Horror, und daher ist es viel zu einfach, nur zu sagen, wie schön, dass die ArbeiterInnnen die Fabrik übernommen haben. Die einzige Art, diese Fabrik oder welche Fabrik auch immer zu retten, ist zu arbeiten und nachzudenken, welche Art von Beziehungen mit der Zeit, mit dem Raum, mit der Technologie entwickelt werden müssen, um diese Arbeit weniger entfremdet, weniger verroht wieder aufnehmen zu können. Sonst ist das einzige, was bleibt, die Produktion von fordistischen ArbeiterInnen, verbunden mit der dummen Hoffnung, dass dies der Weg hin zu einer Revolution sein wird - einer Hoffnung, die schon seit dreißig Jahren nicht mehr hinhaut. Wir glauben, dass Brukman seine Wichtigkeit durch das Experimentieren mit neuen Formen und Möglichkeiten erhält.

Diego: Ich denke wir müssen zuerst eine andere Frage diskutieren, nämlich: Wie denkt die Linke? Die Vorannahmen der Linken sind so: Wenn es starke soziale Kämpfe gibt, dann wird sich das in den Wahlen ausdrücken. Entweder, indem die linken Parteien gestärkt werden, oder indem die Wahlen durch große Wahlenthaltung delegitimiert werden. Aber diese Annahmen sind nichts als Annahmen. In Argentinien gab es einen großen Wunsch nach Normalität. Man kann aber auch sehen, dass es einen Wunsch gab, Menem eine politische Niederlage zu bereiten. Es gab auch den sehr verständlichen Wunsch, dass es wieder eine funktionierende Regierung geben möge, dass nicht mehr die pure Anarchie herrschen solle - und wie Veronica schon sagte, herrschte auch eine Enttäuschung darüber, dass die sozialen Bewegungen keine Alternative zum Staat anbieten konnten. Für das klassische Denken der Linken bedeutet dies eine Niederlage, einen Verlust der Revolution, einen Verlust von Möglichkeiten. Wir vermuten, dass aus der Sicht der sozialen Bewegungen der Ausgang der Wahlen nicht notwendigerweise negativ ist: Die sozialen Bewegungen existieren weiter; wenn sie hingegen einen Auftrag angenommen hätten, eine neue, alternative Mehrheit zu bilden, dann hätten sie eine Niederlage erlebt.

Verónica: Die Bewegungen haben nie versucht, sich auf dem Niveau von Wahlen auszudrücken. Das war aber das, was viele als Erbe des Dezemberaufstandes erhofften, eine Partei der Autonomie, eine Partei des 19./20. Dezember. Das war aber nie das Ziel der Bewegung, sondern das derjenigen, die ihnen diese Erwartungen überstülpten - und als sie ihre Erwartungen enttäuscht sahen, zogen sie sich frustriert zurück. Aber die Bewegung als Vielfältigkeit von Praktiken hatte nie das Ziel, diesen Grad von Repräsentation zu erreichen. Und die Enttäuschung über die nichterfüllten Erwartungen von einer Institutionalisierung der Gegenmacht sind in bestimmter Weise ein Vorteil. Und zwar deshalb, weil es nicht mehr so viel Druck gibt, dass diese Erfahrungen sich als institutionalisierte Gegenmacht definieren und konstituieren. Das ist auf eine Art eine Erleichterung.

Verónica: Diese sehr radikale Art der Fusion zwischen Politik und Leben; die Aufhebung dieser Trennung. Die Versuche, alternative Modelle für die tägliche Reproduktion zu entwickeln.

Diego: Toni Negri hat uns eine Karte geschickt, auf der er schreibt, er stelle sich die Kämpfe in Buenos Aires auf eine Art ähnlich vor, wie Marx die Kämpfe der Pariser Kommune gesehen hat. Das sind Vergleiche, na ja ... Wir glauben aber schon, unabhängig von dem, was noch kommen wird, dass die Erfahrungen in Argentinien und auch die Erfahrungen des Zapatismus in Mexiko jetzt schon die Realität verändert haben, eine neue Sicht auf soziale Kämpfe hervorgebracht haben - ein neues Denken dieser Kämpfe.

Übersetzung: Miriam Edding

Anmerkungen:

1) Wörtl.: Sie sollen alle abhauen! Colectivo Situaciones: Que se vayan todos! Krise und Widerstand in Argentinien. Aus dem Spanischen übersetzt von Stefan Armborst, herausgegeben von Ulrich Brand, 224 Seiten, 14 Euro, Assoziation A, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin;

assoziation-a@t-online.de

2) Militante Untersuchung meint: eingreifende Untersuchung. Ergebnis soll keine Beschreibung z.B. der Arbeitssituation von Arbeitenden sein, sondern die Änderung der Verhältnisse. Geht zurück auf die Arbeiteruntersuchungen der Quaderno Rossi bei FIAT und Olivetti 1961-62 in Italien.

3) Argentinischer Präsident nach dem Ende der Militärdiktatur 1983-1989.

4) Argentinischer Präsident von 1989-1999.

5) Als piqueteros werden AktivistInnen neuer Kampfformen bezeichnet, bei denen sich z.B. militante Streikpostenketten mit Aktionen organisierter Arbeitsloser verbinden, die durch die Lahmlegung des Verkehrs oder die Blockade staatlicher Behörden ihren Forderungen Nachdruck verleihen.

6) H.I.J.O.S. - "Nachkommen für die Identität und die Gerechtigkeit" sind organisierte Nachkommen von Verschwundenen, Gefangenen und Exilierten, die vermittels so genannter escraches bis dato friedlich lebende Diktaturverbrecher öffentlich machen. Auch in Barcelona, Madrid, Paris, Montevideo, Mexico-City und Caracas bilden sich inzwischen H.I.J.O.S.-Gruppen.

7) Bei den Wahlen Ende April 2003 erreichte Expräsident Carlos Menem 24,1 Prozent der Stimmen vor dem Gouverneur von Patagonien, Nestor Kirchner, mit 22%. Das gute Wahlergebnis für Menem war deshalb so überraschend, weil sich dieser während seiner Amtszeit durch einen extrem harten neoliberalen Kurs und jede Menge Korruption ausgezeichnet hatte. Nachdem Menem überraschenderweise zur für Mai angesetzten Stichwahl nicht antrat, ist Kirchner jetzt Präsident.