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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 478 / 21.11.2003

Frontstaat Italien

Europas tödliche Südgrenze

Die Schreckensmeldungen häufen sich. Fast wöchentlich kommen vor den Küsten Nordafrikas, Spaniens und Italiens Menschen zu Tode, die auf dem Seeweg nach Europa einzuwandern versuchen. Statt das Leben der Flüchtlinge zu retten, verlagern die EU-Staaten ihre Südgrenzen auf den afrikanischen Kontinent. Eine führende Rolle bei der "Flüchtlingsabwehr" spielt Berlusconis Italien.

Noch vor wenigen Wochen rühmte sich die italienische Regierung, ein Problem in den Griff bekommen zu haben, vor dem ihre VorgängerInnen aus der linken Mitte versagt hätten: Durch ihre Politik der Härte sei es gelungen, die illegale Einwanderung nach Italien um 40 Prozent zu senken. Spätestens Mitte Oktober ist deutlich geworden, dass diese Politik nicht nur inhuman ist, sondern auch schlicht nicht funktioniert. Allen Restriktionen zum Trotz versuchen immer mehr Menschen aus afrikanischen Ländern, das Mittelmeer zu überqueren - auch wenn sie dabei ihr Leben riskieren.

Nach Aussagen des Geheimdienstes SISMI warten derzeit 1,5 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner auf eine Überfahrt. Auch wenn das übertrieben sein mag und vor allem dazu dient, panische Abwehrreaktionen zu provozieren - wie brisant die Lage an der europäischen Südgrenze ist, zeigte sich Mitte Oktober, als mehr als 80 Menschen bei zwei Versuchen starben, von Tunesien bzw. Libyen aus mit Booten die italienische Insel Lampedusa zu erreichen. Lampedusa ist vom tunesischen Festland nur 113 Kilometer entfernt - der erste, wenn auch nur 20 Quadratkilometer große Vorposten Europas. Bei dem Versuch, den Kontinent ihrer Träume über das Mittelmeer zu erreichen, sind allein in diesem Jahr mehr als 400 Flüchtlinge ums Leben gekommen: ertrunken, verhungert oder verdurstet, gestorben an Unterkühlung und Erschöpfung. Die italienischen Seeleute, die am 19. Oktober 53 Meilen südlich von Lampedusa ein treibendes Boot mit 13 Leichen und 14 zu Skeletten abgemagerten Überlebenden bargen, wurden Augenzeugen eines besonders grauenhaften "Falles". Nach Aussagen der Überlebenden, allesamt Somalis, war das Boot mit 85 Personen an Bord gestartet. Als der Motor schon kurz nach der Abfahrt aussetzte, trieb das Boot tagelang manövrierunfähig auf dem Meer. Mehr als 50 Menschen verdursteten oder starben an Erschöpfung, ihre Leichen wurden von den noch Lebenden ins Meer geworfen.

Fortsetzung
der Politik
von Mitte-Links

Das allgemeine Entsetzen veranlasste Berlusconi zwar zu einem heuchlerischen Appell an das "kultivierte, christliche, wohlhabende" Europa, sich den Elendsflüchtlingen zu "öffnen". Aber gleichzeitig hält die italienische Regierung daran fest, die unerwünschte Zuwanderung schon in Nordafrika zu unterbinden, indem sie sich vor Ort an der Finanzierung und Organisierung von Abschottungsmaßnahmen beteiligt. Damit setzt sie im übrigen eine Politik fort, die auch die Mitte-Links-Regierungen zwischen 1996 und 2001 betrieben hatten. Schon Ende 1997 hatte der damalige Ministerpräsident Romano Prodi - nach dringenden Ermahnungen aus dem deutschen Innenministerium - erklärt, Italien sei "sich der Verantwortung bewusst, die ihm aus der Tatsache erwachse, dass seine Grenzen heute auch die Grenzen Europas sind". In der Folge schloss seine Regierung mit Albanien, Marokko und Tunesien Abkommen zur Flüchtlingsabwehr. Tunesien erhielt neben Krediten umgerechnet 60 Mio. Euro geschenkt, zusätzlich Schiffe und Radaranlagen zur Überwachung der Küste. Im Gegenzug verpflichtete sich die tunesische Regierung, bei der Identifizierung von Bootsflüchtlingen zu helfen und sie, unabhängig von ihrer Nationalität, zurückzunehmen, wenn sie von Tunesien aus aufgebrochen sind. (vgl. ak 418)

Berlusconis Regierung arbeitet nun daran, ähnliche Abkommen auch mit Libyen zu schließen, das immer noch auf der amerikanischen Liste der "Schurkenstaaten" steht. Während die von Italien betriebene Aufhebung der Sanktionen gegen Libyen innerhalb der EU umstritten ist, finden die italienisch-libyschen Vereinbarungen zur Flüchtlingsabwehr allgemein Zustimmung. Fast zeitgleich mit der Tragödie vor Lampedusa tagten im westfranzösischen La Baule die Innenminister der fünf größten EU-Staaten ("G5"), um eine weitere Perfektionierung der Abschottung zu beraten. Dabei ging es u.a. um die vereinheitlichte Erfassung biometrischer Daten im Rahmen von "Europol" und um noch mehr Koordination bei der Abschiebung.

Da eine lückenlose Abriegelung der nordafrikanischen Küsten in jedem Fall unmöglich ist, hat Italien eine zweite Abfanglinie eingerichtet: Flüchtlingsboote, die in die 12-Meilen-Zone vor den italienischen Küsten eindringen, werden von Schiffen der Kriegsmarine, der Carabinieri und der Finanzpolizei abgedrängt. Die provokatorische Forderung von Berlusconis Juniorpartner Umberto Bossi (Lega Nord), gegen die Boote auch militärische Gewalt anzuwenden ("Ich will das Dröhnen der Kanonen hören"), stieß zwar auf breite Empörung. Aber in deren Windschatten erlässt die Regierung Dekrete, die ebenfalls dramatische Folgen haben können. Seit Juni haben italienische Militärs und Polizisten offiziell das Recht, verdächtige Schiffe zu entern und mutmaßliche Fluchthelfer festzunehmen. Beides, sowohl das Abdrängen wie das Entern, birgt natürlich erhebliche Gefahren für die Insassen der kleinen, überfüllten und oftmals schrottreifen Flüchtlingsboote. Schon mehrmals kam es dabei zu Unfällen. Der opferreichste ereignete sich im März 1997 in der Adria, als nach einer Kollision zwischen der italienischen Fregatte Sibilla und einem albanischen Kutter mehr als 80 Flüchtlinge ertranken. (vgl. ak 401)

Ghaddafi hilft
mit bei der Flüchtlingsabwehr

In den Institutionen der EU wird die italienische "Ausländerpolitik" weitgehend kritiklos akzeptiert. Als Innenminister Giuseppe Pisanu Anfang Juli die drei Schwerpunkte der italienischen EU-Präsidentschaft mit den Worten "Illegale Einwanderung, Organisierte Kriminalität und Terrorismus" - zusammenfasste, gab es keinen nennenswerten Protest gegen diese "unerträgliche Assoziationskette" (Karl Kopp, Sprecher von Pro Asyl). Denn die gleiche Assoziation beherrscht auch die Mainstream-Medien und das Denken der Politiker in den EU-Ländern.

Während es für eine "Einschleusung" islamistischer Terroristen auf dem Seewege nicht den geringsten Anhaltspunkt gibt, ist der Zusammenhang zwischen Einwanderung und "organisierter Kriminalität" real. Tatsache ist allerdings, dass für die allermeisten afrikanischen Kriegs- und Elendsflüchtlinge eine legale Einreise nach Europa ebenso unmöglich ist wie die Überquerung des Mittelmeeres ohne kommerzielle Fluchthilfe. Jede Perfektionierung der Flüchtlingsabwehr treibt die Preise hoch und erhöht das Risiko, dass die Organisationen nach Möglichkeit auf ihre KlientInnen abwälzen. Gegen Rabatt überlassen sie ihre maroden Schiffe auch navigationsunkundigen Flüchtlingen. Oder sie versprechen eine Überfahrt innerhalb von ein bis zwei Tagen und sorgen weder für Schutz vor Kälte und Nässe noch für ausreichend Nahrungsmittel und Trinkwasser.

Wenn Politik und Medien die Jagd auf "Schleuser und Schlepper" geradezu als Gebot der Humanität hinstellen, dann ist das nicht nur Zynismus pur, sondern auch eine bewusste Umkehrung von Ursache und Wirkung. Denn das profitable Geschäft der "Fluchthilfe" wäre ohne die europäische Abschottungspolitik gar nicht möglich: Die Gesetze des Marktes gelten offensichtlich auch da, wo es um das Leben und Überleben von Menschen geht.

Js.