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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 479 / 19.12.2003

Berlin umsonst - koste es, was es wolle!

Die Kampagne Berlin umsonst! eröffnet Debatte um Aneignung

Gute Nachrichten aus Berlin: Seit einigen Wochen toben die Studierenden durch die Stadt, legen den Verkehr lahm, besetzen Senatsbüros und decken die Bankgesellschaft Berlin mit Eiern ein, um ihrem Protest gegen Bildungs- und Sozialabbau Nachdruck zu verleihen. Das ist schön - und es ist neu. Lange hat keine der vielen von Kürzungen betroffenen Gruppen in der Stadt ihren Widerspruch so massiv geäußert. Die Sparkröte, die für alle gilt, die dem Standort Berlin nicht unmittelbar nutzen, ist unter dem rot-roten Senat von den Betroffenen zumeist geschluckt worden, einzelne Ausnahmen bestätigen diese Regel. Um der angeblichen Alternativlosigkeit dieses Angriffs - der wie immer besonders die trifft, die es ohnehin nicht so dicke haben - radikal zu widersprechen, haben wir Anfang des Jahres mit einigen anderen Gruppen die Kampagne Berlin umsonst! ins Leben gerufen.



Ausgangspunkt war der Versuch, in Zeiten, in denen der Verzicht zu höchsten Weihen kommt, offensiv und selbstbewusst zu sagen: Es reicht! Nicht mehr "Schluss mit diesem, Schluss mit jenem", sondern Schluss mit Schluss und her mit dem schönen Leben! Es geht dabei darum, den Anspruch auf ein schönes Leben hier und jetzt gegen die Zumutungen des kapitalistischen Alltags zu stellen, die uns in diesem Fall in Gestalt der Berliner Sparpolitik (1) zu Leibe rücken. Kurz: Es geht um Aneignung.

Vor diesem Hintergrund leistet die Kampagne zweierlei: Erstens bricht sie in offensiver Weise mit dem alten Lied vom Sparen, mit der angeblichen Notwendigkeit einer Reformpolitik, die eine weitere Absenkung des Lebensstandards bedeutet. Die Forderung Berlin umsonst! verweigert dieser als Sachzwang getarnten Position den Gehorsam. Sie schert sich nicht um die Grenzen dessen, was gemeinhin als vernünftigerweise noch diskutierbar gilt, und schon gar nicht um eine behauptete gesamtgesellschaftliche Verantwortung dafür, dass der kriselnde kapitalistische Kahn wieder flottgemacht wird. Sie bricht mit einem Essential kapitalistischer Verkehrsformen: mit dem schnöden Umstand, dass die notwendigen Produkte des täglichen (Über-)Lebens nur gegen Geld zu haben sind.

Her mit dem schönen Leben

Zweitens knüpfen die Umsonst-Aktionen an Erfahrungen des täglichen Lebens an und machen Momente sichtbar, an denen die eigenen Bedürfnisse an Grenzen der gesellschaftlichen Spielregeln stoßen. Beispiel: Ich müsste/würde/wollte gern von A nach B, aber scheiße: die Fahrkarte, die ich dafür brauche, kostet viel zu viel. Die an diese Überlegung (möglicherweise) anschließende Schwarzfahrt ist normalerweise eine individuelle Entscheidung und wird individuell - vielleicht sogar mit schlechtem Gewissen - unternommen. Dadurch, dass wir sie öffentlich und gemeinsam praktizieren, dass wir darüber sprechen, sie für legitim erklären und sie Widerstand gegen die Verschlechterung der Lebensverhältnisse nennen, ändert sich die Sache.

Die herrschenden Vorstellungen von der Welt werden in den täglichen Handlungen der Menschen hergestellt, aber dieser Prozess läuft nicht konfliktfrei. Zwar bin ich gezwungen, ein Produkt zu bezahlen, um es zu bekommen, aber es gibt Möglichkeiten, diesen Zwang zu umgehen: Anstatt eine Fahrkarte zu lösen, kann ich schwarzfahren; anstatt ein Produkt zu kaufen, kann ich es klauen etc. Dabei geht es uns in erster Linie nicht darum, individuelle Konsumwünsche zu befriedigen, sondern um die Schaffung von Räumen, in denen über die Legitimität kapitalistischer Verkehrsformen und über Vorstellungen von einem schönen Leben gesprochen werden kann. Nicht indem die AdressatInnen angerufen werden, sie mögen die Richtigkeit unserer Kapitalismusanalyse bitte einsehen, sondern indem konkrete und alltägliche Erfahrungen gesellschaftlicher Zwänge zum Ausgangspunkt genommen und praktisch in Frage gestellt werden. Damit ist nicht nur die Debatte um die herrschende Form von Produktion, Aneignung und Verteilung eröffnet, sondern auch darüber, wie es anders sein könnte.

Natürlich ist das alles nicht neu, und es ist auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Berlin umsonst! probiert herum und sammelt Erfahrungen in einem Feld, das der radikalen Linken oft verdächtig war und ist: Praktisches Eingreifen im Alltag riecht manchen nach Reformismus, anderen nach Anbiederung an den "Deutschen Mob". Wer aber der Gefahr des ERROR dadurch zu entgehen hofft, dass er oder sie das klinisch saubere Räsonieren über das Wenn und Aber und den Kapitalismus im Allgemeinen dem Eingreifen in gesellschaftliche Verhältnisse vorzieht, hat die Richtschnur und den Gegenstand politischer Reflexion bereits verloren: die soziale Praxis. Dagegen halten wir an der Richtigkeit "experimenteller Praxis" (2) fest.

Wie legitim ist Kapitalismus?

Dennoch spiegeln die Aktionen, die wir bisher gemacht, ebenso wie die Alltagskonflikte, auf die wir uns bezogen haben, auch die soziale Zusammensetzung der an der Kampagne beteiligten Gruppen und Einzelpersonen wider: Für Menschen ohne gültigen Pass stellt Schwarzfahren eine nicht zu rechtfertigende Gefährdung ihres Aufenthalts dar, und einen Freibadzaun kann nur überwinden, wer nicht von körperlichen Beeinträchtigungen geplagt wird. Mit anderen Worten: Die bisherigen Aktionen der Kampagne sprechen unmittelbar vor allem ein junges, gesundes Publikum mit deutschem Pass an.

Aber das muss nicht so bleiben. Die Perspektive "Aneignung" ermöglicht den Blick über den eigenen Tellerrand hinaus. So lässt sich auch die illegale Migration als massenhafte Praxis der Verweigerung bestehender Grenzen verstehen, die eigene Ansprüche über staatliche und gesellschaftliche Beschränkungen des Aufenthalts stellt und durchsetzt. Hierauf hat die Gesellschaft für Legalisierung jüngst hingewiesen. (vgl. ak 477) Ebenso muss die Forderung nach einem schönen Leben nicht bei Verteilungsfragen stehen bleiben. Sie hat auch am Arbeitsplatz - ob der nun Betrieb oder Haushalt heißt - ihre Berechtigung.

Derzeit sind es aber (noch?) nicht die genannten Bereiche, zu denen Berlin umsonst! der Brückenschlag gelingt. Stattdessen findet der Slogan bei den protestierenden StudentInnen Aufmerksamkeit. Wir hoffen, dass er hier seine Aufgabe erfüllt: Räume für widerständiges Handeln und entsprechende Diskussionen zu öffnen bzw. zu erweitern. Über alles weitere können wir reden.

FelS/AG Sozialer Widerstand (3)

Anmerkungen:

1) Oder auch in Gestalt der massiven sozialen Einschnitte auf Bundesebene.

2) Ehre, wem Ehre gebührt: Der Begriff "experimentelle Praxis" - so schön er auf das passt, was wir tun - ist nicht unsere eigene Wortschöpfung. Er entstammt dem Vokabular der Call Center Offensive, die damit ihren Eingriffsversuchen in einem von der radikalen Linken ebenfalls vernachlässigten Bereich - dem der prekären Arbeitsverhältnisse - einen Namen gab.

3) Die Kampagne Berlin umsonst! ist eine offene Kampagne, an der sich verschiedene Gruppen beteiligen - unter anderem die AG Sozialer Widerstand von FelS. Wir haben kein Copyright auf den Slogan - jede und jeder kann Berlin umsonst! sein.