Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 479 / 19.12.2003

Ein Kampf ums Ganze

Residenzpflicht ist ein linkes, antirassistisches Thema

AktivistInnen aus Flüchtlingsselbstorganisationen werden seit Jahren nicht müde, die Residenzpflicht als zentrale rassistische Maßnahme zu thematisieren und zu bekämpfen - auf politischer, wie auf juristischer Ebene. Dagegen sind im Dickicht linker Flugblätter und anderer Verlautbarungen diejenigen mit der Lupe zu suchen, die von Seite der non-refugees aus das Thema Residenzpflicht - deskriptiv oder analytisch - zur Sprache bringen und politische Intervention einfordern. Dass die jeweils Betroffenen eines Unterdrückungsverhältnisses meist selbst für die Thematisierung ihrer Situation im politischen Diskurs und Tagesgeschehen Sorge tragen müssen, ist nichts wirklich Neues und scheint ein Charakteristikum linker Politik zu sein.

Von einem Großteil der bundesdeutschen radikalen Linken, zumindest wenn sie sich nicht primär als antirassistisch begreift, werden die generelle Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Hunderttausenden von Menschen, die hier in der BRD leben, und deren Kämpfe nur bedingt wahrgenommen. Manche reagieren auf die Hartnäckigkeit, mit der Flüchtlinge für Anti-Residenzpflicht-Kampagnen werben und auf ihre aufklärenden Statements über die brutale und verletzende Beschneidung des Menschenrechts auf Bewegungsfreiheit mit Unverständnis, Abgenervtheit oder mit Polemik, wie z.B. zuletzt auf dem 6. Antirassistischen Grenzcamp in Köln 2003.

Warum ist das so? Die Vermutung liegt nahe, dass die Residenzpflicht von vielen linken AktivistInnen ohne Migrations- oder Fluchthintergrund in ihrer ganzen Dimension unterbewertet, zumindest jedoch unterschätzt wird: Bei einer isolierten Betrachtung der Residenzpflicht als einer bloßen, zugegebenermaßen rassistischen "Verordnung" können leicht entscheidende Zusammenhänge nicht erkannt werden. Das mag zunächst an der Struktur der Sache liegen: Die Residenzpflicht ist eine in der Alltäglichkeit verhaftete Entrechtungserfahrung. Und wie vieles, was Menschen als Unterdrückung und Gewalt in ihrem Alltag erfahren, bleibt sie für nicht direkt Betroffene im Bereich des Unsichtbaren - so sich diese nicht die politische und menschliche Mühe machen, genauer hinzusehen.

Alltägliche Entrechtung

Im Gegensatz zur Residenzpflicht wirken andere rassistische Verbrechen wie rechtsextreme Angriffe auf als nicht-deutsch Wahrgenommene oder, um bei staatlichem Rassismus zu bleiben, Abschiebungen möglicher Weise skandalöser und stellen für linke Politik einen greifbareren, deutlicheren oder gar "radikaleren" Bezugspunkt politischer Intervention dar. So werden Aktionen gegen Abschiebungen - ohne hier wiederum behaupten zu wollen, diese wären an der linken Tagesordnung - als spektakulärer, attraktiver erlebt als das profane Organisieren und Bezahlen von Autos oder Bussen, um Flüchtlingen die schikanösen und gefährdenden Kontrollen auf Bahnhöfen und in Zügen zu ersparen.

In einer Zeit, in der "Globalisierung" zum politischen Zauberwort avanciert ist, mögen Auseinandersetzungen über die bundesdeutsche Residenzpflicht überdies auf manche zu begrenzt wirken, politisch schwer zu füllen sein oder werden unter Umständen fürs globale Politbusiness schlicht für nicht wichtig genug befunden.

Doch auch hier gilt es, weitsichtiger zu sein. Die Residenzpflicht-Regelung ist eben genau das: eine deutsche Erfindung. Und sie sucht, neben den Passgesetzen im ehemaligen Südafrika, weltweit vermutlich ihresgleichen. Schon allein das "typisch Deutsche" an der Residenzpflicht wäre eine genauere, auch historische Analyse, mindestens aber eine besondere Skandalisierung wert. Zudem liegt hier eine weitere Gefahr: Bisher war es meist die Bundesrepublik, die europaweit die Standards für eine noch menschenverachtendere, noch rigidere Asylpolitik gesetzt hat. Es gibt wenig Gründe, warum sich andere EU-Staaten nicht auch an diesem Punkt von deutscher Abschreckungspraxis überzeugen lassen sollten. Noch gibt es die Residenzpflicht ausschließlich in der BRD. Wo, wenn nicht hier, sollte also für ihre Abschaffung gekämpft werden, um eine Ausweitung auf das Schengen-Europa zu verhindern?

Einigen weiteren linkne Ressentiments gegen Anti-Residenzpflicht-Kampagnen soll hier etwas der Wind aus den Segeln genommen werden. Oft stehen implizite oder explizite Vorbehalte im Raum, solcherart Kampagnen fehle der Angriff aufs Ganze und es handele sich hierbei doch um das "immer Gleiche". Unabhängig davon, dass ersteres vor dem Hintergrund der noch aufzuzeigenden weit reichenden Konsequenzen der Residenzpflicht ein nicht wirklich nachvollziehbarer Blick ist, kann hier manche Gegenfrage in selbigen Raum gestellt werden: Worin liegt denn das "immer Neue", Abwechslungsreiche und Nicht-Repetitive an Aufrufen zu Anti-Nazi-Demos oder Anti-Castor-Aktionstagen? Und selbst wenn - was ist hier die inhaltliche Substanz der Kritik? Kämpfen nicht auch Feministinnen seit 30 Jahren zum Großteil mit den gleichen - und nach wie vor richtigen - Argumenten gegen sexualisierte Gewalt? Einen Kampf im übrigen, der eben genauso lange nötig ist, wie Sexismus nicht der Vergangenheit angehört.

Um es noch einmal zu betonen: Die Residenzpflicht ist eine den gesamten Lebensalltag von Flüchtlingen durchdringende Erfahrung der Ausgrenzung, Demütigung, Isolierung und Entrechtung. Das Eingesperrtsein in einem der 323 Landkreise der BRD (der kleinste davon ist im übrigen gerade einmal 350 km2 groß, das sind in etwa 18 Kilometer im Quadrat), bestimmt die Lebensrealität der Menschen, die dem unterworfen werden - und zwar nicht nur in jenen Momenten, wo sie diesen Landkreis verlassen möchten oder müssen. Aus diesem Zustand resultiert vielmehr ein generell stark belastendes Lebensgefühl und, verbunden mit der Internierung in den so genannten Flüchtlingsheimen, die Erfahrung, im Land der Asylsuche als Gefangene behandelt zu werden.

Flüchtlingsselbstorganisationen machen aus diesen Gründen die Residenzpflicht zu einem zentralen Thema und formulieren das politische Ziel, diese rassistisch motivierte und gesetzlich legitimierte Beschneidung der Bewegungsfreiheit abzuschaffen.

Residenzpflicht: Eine deutsche Erfindung

Die Residenzpflicht-Verordnung hat zunächst juristische Konsequenzen. Was beim ersten Verstoß eine Ordnungswidrigkeit ist, wird beim zweiten Verstoß schon als Straftat gewertet. Verglichen mit anderen Ordnungswidrigkeiten, wie z.B. dem Falschparken, eine grobe Absurdität. Der Verstoß kann dann mit einer Geldstrafe bis zu 2.600 Euro oder einer Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr geahndet werden. Bei mehrmaligem Verstoß droht sogar die Abschiebung.

Residenzpflicht kann zudem weitere Strafverfolgungen nach sich ziehen. Dies zeigt ein aktueller Fall aus Gera: Constance E., einer Karawane- und The-Voice-Aktivistin wurde im April 2003 eine Genehmigung zum Verlassen des Landkreises verwehrt, da sie keine schriftliche Übersetzung eines auf englisch formulierten Einladungsschreibens vorlegen konnte. Danach verwies der Sachbearbeiter die Antragstellerin des Raumes. Als Asylbewerberin habe sie in ihrem Heim zu bleiben und dürfe nirgendwo hingehen. Als Constance auf einer Erlaubnis bestand, erklärte er, sie sei verrückt und solle gefälligst ins Krankenhaus gehen. Constance weigerte sich daraufhin, das Büro zu verlassen, bevor sie nicht die ihr zustehende Genehmigung erhalten habe. Der Sachbearbeiter rief die Polizei, von der Constance unter Gewaltanwendung auf die Wache verschleppt wurde, wo sie weiteren Misshandlungen ausgesetzt war. Die Ausländerbehörde stellte Anzeige wegen Hausfriedensbruch. Im Dezember wurde Constance E. vom Amtsgericht Gera zu 50 Tagessätzen verurteilt, ein Urteil, das 20 Tagessätze über der staatsanwaltschaftlichen Forderung lag.

Residenzpflicht ist ein Instrument der öffentlichen Stigmatisierung von Flüchtlingen, MigrantInnen und allen anderen Menschen, die als nicht-deutsch wahrgenommen werden. Die willkürlichen polizeilichen Kontrollen dieser konstruierten Personengruppe werden zu einem erheblichen Teil mit dem § 56 Asylverfahrensgesetz, der Residenzpflicht, legitimiert. Solche Kontrollen sind nicht nur qua definitionem rassistisch, da ausschließlich als nicht-deutsch wahrgenommene Personen kontrolliert werden. Sie sind es vor allem in der Praxis: Polizei, Zoll und BGS begegnen den zu Kontrollierenden mit einer grundsätzlichen Bereitschaft zu verbalen Ausfällen, persönlichen Erniedrigungen bis hin zu offener rassistischer Gewalt - und üben diese auch aus. Sei es im bürokratischen Alltag, sei es auf der Straße und in Bahnhöfen, sei es hinter verschlossenen Türen auf den Polizeiwachen.

Residenzpflicht ist ein Instrument der Kriminalisierung. Wollen sich Flüchtlinge zusammenschließen, um gegen staatliche rassistische Gewalt organisiert anzukämpfen, müssen sie permanent ihre Landkreise verlassen, da sie isoliert und über das ganze Bundesgebiet verstreut leben. Angesichts der gängigen Praxis der Ausländerbehörden, Flüchtlingen, die an politischen Veranstaltungen teilnehmen wollen, die Erlaubnis auf Verlassen des Landkreises zu verwehren, sind diese in Folge mit den jeweiligen juristischen Konsequenzen konfrontiert. Da die Gefährdung der Asylverfahren durch Residenzpflichtsverletzungen sehr präsent ist, ist es für AktivistInnen zudem oft schwer, Menschen aus Flüchtlingsheimen zu mobilisieren. Vor diesem Hintergrund kann von dem gezielten staatlichen Versuch der Verhinderung von Flüchtlings(selbst)organisierung gesprochen werden. Gerade Linke sollten im übrigen wissen, wie wichtig die Ausübung politischer Interessen für die Identität einer Person ist, die sich entschieden hat, für ihre und für die Rechte anderer zu kämpfen.

Residenzpflicht kann krank machen. Flüchtlinge gehen oft nicht zur nötigen Behandlung zu FachärztInnen, weil diese außerhalb des Landkreises stattfinden. Diejenigen, die nicht in dem ihnen zugewiesenen Landkreis leben, begeben sich an ihrem Wohnort zudem häufig erst gar nicht in offizielle ärztliche Behandlung.

Residenzpflicht kann lebensgefährlich sein. Viele Flüchtlinge berichten von der lebensbedrohlichen Erfahrung, in einem Landkreis leben zu müssen, in dem zahllose Nazis aktiv sind und brutale rassistische Angriffe auf der Tagesordnung stehen. Anträge auf Umverteilung aus diesen Gründen haben jedoch nahezu keine Aussicht auf Erfolg. Im Oktober 2000 springen zwei Frauen aus dem 4. Stock eines Hamburger Wohnhauses, weil die Polizei an der Tür klingelt. Sie haben zwar gültige Aufenthaltspapiere, sind jedoch in einem anderen Landkreis registriert. Beide Frauen ziehen sich lebensgefährliche Verletzungen zu, eine der Frauen ist seitdem Rollstuhlfahrerin.

Residenzpflicht kann tödlich sein. Eine Bewohnerin eines Frauenhauses in Bielefeld fühlt sich von ihrem Ehemann bedroht und stellt im Frühling 2003 einen Antrag auf Umverteilung, um zu ihrem Schutz in ein Frauenhaus einer anderen Großstadt ziehen zu können. Während der Antrag auf Umverteilung auf irgendeinem Schreibtisch der Ausländerbehörde auf seine Bearbeitung wartet, spürt der Ehemann die Frau auf einem Bielefelder Wochenmarkt auf und erschießt sie auf offener Straße.

Ansatzpunkt für gemeinsamen Kampf

Angesichts all dieser Dimensionen der Residenzpflicht sollte jene von bundesdeutschen linken AktivistInnen als politisches Interventionsziel wahr- und ernst genommen werden. Der Kampf um das Recht auf freie Bewegung und gegen die unsichtbaren wie absurden Landkreis-Grenzen im "eigenen" Land ist, etwas pathetisch formuliert, ein Teil der Kämpfe um Freiheit und gegen Grenzen weltweit.

Die Kämpfe von Flüchtlingen gegen staatliche Repression und Polizeibrutalität, gegen Residenzpflicht und Abschiebung unterstützen ihrerseits auch linke Politik. Hier könnten Ansatzpunkte gefunden und Bündnisse geschlossen werden - ohne die Unterschiedlichkeit der Entrechtungserfahrungen und bestehende Hierarchien wegreden zu wollen. Denn eins ist aller Dekonstruktion zum Trotz sicher: Politisch und gesellschaftlich betriebene rassistische Ein- und Ausschlüsse hinterlassen - auf allen Seiten - ihre Spuren im Denken, Fühlen und Handeln. In einem gemeinsam zu führenden Prozess von inhaltlicher Auseinandersetzung und offensiver Politik könnte es dennoch um ein gemeinsames Ringen um Befreiung gehen.

Xenia Toledo