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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 479 / 19.12.2003

Europäisches Sozialforum in Paris:

Vieles anders, aber nicht alles besser

Wer am Sonntag, dem 16. November, zur Abschlussveranstaltung des Europäischen Sozialforums im Pariser Vorort Saint-Denis wollte, musste sich durch Regen, Matsch und Kälte kämpfen, um das überdimensionale Bierzelt im Schatten des Stade de France zu erreichen - vorbei am Propagandaspalier von SWP (Socialist Workers Party) und Linksruck. Während im Nachbarzelt zur Instrumentalversion von La Paloma Würstchen im Brot verkauft wurden, feilte hier die "Versammlung der sozialen Akteure und Bewegungen" am Abschlussdokument der fünftägigen Veranstaltung. (1)

Letzten Endes ist dann doch einiges beschlossen worden: Einen Aktionstag gegen Krieg wird es geben, der - auf die US-amerikanische Friedensbewegung abgestimmt - am 20. März 2004 stattfinden soll; einen europäischen Aktionstag gegen Sozialabbau, den die Bewegung zusammen mit den Gewerkschaften durchführen will und der dem Vorschlag des Europäischen Gewerkschaftsbundes von Anfang Dezember folgend nun auf den 2. oder 3. April 2004 terminiert ist; außerdem eine gemeinsame Mobilisierung gegen die Verabschiedung der Europäischen Verfassung am 9. Mai nächsten Jahres in Rom - das sind die vertraglich fixierten Eckdaten, die die Versammlung erarbeitet hat. Die Selbstverpflichtung zur Teilnahme an "allen Aktionen (...), die durch die sozialen Bewegungen organisiert werden" (aus der Abschlusserklärung), rundet die Sache ab. So weit, so schön. Wer sich aber einen Kontrast zum Durcheinander der Vortage, wer sich Orientierung und Aufbruchstimmung gewünscht hatte, wurde enttäuscht. Das Gefühl, eine Bewegung und unaufhaltsam zu sein, das Gefühl, dass "uns" die Zukunft gehört, das Gefühl "Wir sind viele und es geht voran!" konnte das ESF nicht vermitteln.

Qualitativer Sprung
auf der Stelle

Zusammenzufassen, was in den Tagen vom 12. bis 16. November geschehen ist, fällt angesichts der schieren Größe der Veranstaltung nicht leicht. Traut man den kursierenden Zahlen, dann lässt sich immerhin folgendes sagen: Etwa 50.000 Menschen aus ganz Europa haben fünf Tage lang an vier verschiedenen Veranstaltungsorten an mehreren hundert Workshops, Seminaren, Podiumsdiskussionen und Foren teilgenommen. Einige hunderttausend haben es am Samstag auf die Abschlussdemonstration geschafft.

Mindestens die erstgenannten 50.000 haben der Pariser Metro ein gutes Geschäft beschert: Mit einem dreitägigen ESF-Ticket sind sie für zehn Euro zwischen Paris La Villette und den Vororten Saint-Denis und Bobigny im Norden sowie Ivry im Süden der Stadt hin und her gefahren, um Veranstaltungen zu besuchen und zu diskutieren. Manche haben es sogar nach Saint Ouen geschafft, wo die französischen Libertären und AnarchistInnen ihr eigenes europäisches Forum abhielten. Manch andere sind des abends im Stadion Jules Ladoumègue nahe La Villette gelandet, wo die Ungehorsamen Europas ihr "réseau intergalactique", das sogenannte GLAD (Globalisation des Luttes et des Actions de Désobéissance - "Globalisierung der Kämpfe und der Aktionen des Ungehorsams") eingerichtet hatten. (2)

Die große räumliche Streuung des ESF war allerdings auch Grund für Frustration. Der ständige Zwang, von einem Ort zum anderen zu gelangen, und die daraus folgende Notwendigkeit zur genauen Planung des persönlichen ESF-Terminkalenders erschwerte die Sache ungemein. Es war nicht möglich, auf Entdeckungsreise zu gehen und den Zufall entscheiden zu lassen, wohin es einen verschlagen würde. Folgerichtig hört man von allen Seiten die Forderung, das nächste ESF in London möge wieder an einem zentralen Ort stattfinden.

Die leidige Fahrerei durch den hauptsächlich migrantisch bewohnten Pariser Norden förderte allerdings einen interessanten Umstand zu Tage: Das ESF ist eine weiße Veranstaltung. Nicht dass die Sans Papiers, das MIB (Mouvement de l'Immigration et des Banlieues) oder die Gesellschaft für Legalisierung nicht teilgenommen hätten, doch die Masse der ESF-BesucherInnen war weiß. Die Wahl der Veranstaltungsorte demonstrierte so auch nicht die Verbundenheit der Bewegung mit den BewohnerInnen der Vorstädte, sondern vielmehr ihre fehlende Attraktivität für die MigrantInnen und deren Kinder.

Die räumliche Trennung geriet darüber hinaus zum Ausdruck des linksradikalen Bedürfnisses nach Abgrenzung. Die französischen Anarchisten und nahe stehende Gruppen hatten sich schon frühzeitig aus dem gemeinsamen Rahmen der Vorbereitung verabschiedet. Von ihnen hat man nicht viel gesehen oder gehört - abgesehen von der Schlägerei, die sie auf der Demonstration mit den Ordnern der Sozialistischen Partei anzettelten. Aber auch der aktionsorientierte Teil der Bewegung, zu dem etwa die italienischen disobbedienti, außerdem Giovani Comunisti, die Jugendorganisation von Rifondazione Comunista, die französische Erwerbslosenorganisation AC! oder aus Deutschland Attac Campus zählen, zog es vor, sich in räumlicher Trennung vom Rest des ESF (wenn auch noch unter dem gleichen organisatorischen Dach) im GLAD zu versammeln - um den Preis, auf den großen Veranstaltungsorten des ESF nicht sichtbar zu sein.

Fragt man sich, welche Fraktion der Linken in Paris die meisten Punkte gemacht hat, fällt die Antwort schwer. In ak 468 vom Dezember letzten Jahres war mit Blick auf das ESF in Florenz von drei Strömungen die Rede: einer institutionell-reformerischen (die verschiedenen sozialistischen und kommunistischen Parteien, Gewerkschaften und potenziell auch Teile von attac), einer traditionell-kommunistischen oder trotzkistischen (die SWP-Internationale und andere kleinere Parteien) sowie einer bewegungsorientierten linksradikalen (etwa das GLAD-Spektrum plus Autonome). Diese drei hätten sich in etwa die Waage gehalten, keiner sei es gelungen, das ESF zu dominieren. Die Einteilung ist zwar nicht ganz treffend, weil sie etwa basisgewerkschaftliche Ansätze oder auch die migrantische Selbstorganisation nicht erfasst, doch für eine grobe Orientierung im ESF-Dschungel mag sie von Nutzen sein.

Das ESF ist
eine weiße Veranstaltung

Wenn man der Klassifizierung also folgen möchte, dann wurde das diesjährige Forum ebenso wie die Abschlussdemonstration von den beiden erstgenannten Strömungen dominiert. Gerade die Demonstration war ein Schaulaufen der Gruppen und Parteien. Die riesige diffuse Menschenmasse, die die Florentiner Abschlussdemo noch zu einem Bewegungsereignis hatte werden lassen, ist dieses Mal durch einen gut gegeneinander abgrenzbaren Kessel Buntes der europäischen Linken ersetzt worden. Das lässt sich aus der Verschiedenheit der politischen Situation in Frankreich von der in Italien zwar leicht erklären. Es trug aber dazu bei, dass die eher traditionelle Strömung den offiziellen Teil des ESF dominierte.

Die bewegungsorientierte Fraktion der europäischen Linke hat sich mittlerweile in Richtung Ungehorsam entwickelt. Diese Orientierung kam nicht nur etwa bei einem von den Berliner Gruppen FelS (Für eine linke Strömung) und ALB (Antifaschistische Linke Berlin) veranstalteten internationalen Workshop am Freitag zum Ausdruck, auf dem zahlreiche Gruppen und Einzelpersonen aus zehn verschiedenen Ländern über Perspektiven des sozialen Ungehorsams diskutierten. Sie wurde zudem in einer ganzen Reihe von Aktionen umgesetzt. Dabei haben sich durchaus interessante Bündnisse ergeben. Am Donnerstag morgen etwa nutzten italienische disobbedienti die Gelegenheit, gemeinsam mit den prekär beschäftigten Kulturschaffenden Frankreichs, den intermittents du spectacle, deren Protestaktionen das Land den ganzen Sommer über in Atem gehalten hatten, das Arbeitsministerium zu besetzen. Am Nachmittag wurde eine Kundgebung gegen das Abkommen über die sozialen Rechte der Kulturschaffenden, das unter Ausschluss der Betroffenen verhandelt wurde, vom gleichen Bündnis unerlaubterweise in eine Demonstration zum Tagungsort umfunktioniert - übrigens eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen es zu Scharmützeln mit der Polizei kam. Und am Samstag setzten sich die intermittents mit ihrem Transparent an die Spitze der Abschlussdemo. Der internationale disobbedienti-Block folgte ihnen kurzerhand. Zwar scheiterte der gemeinsame Versuch, aus der Demo heraus die für die Kulturprekären zuständige Sozialkasse zu stürmen. Am Vormittag jedoch war eine aus dem GLAD organisierte Besetzung des Air-France-Büros an den Champs Elysées erfolgreich gewesen. Während drinnen um die 50 AktivistInnen gegen das Geschäft des Unternehmens mit der Abschiebung protestierten, blockierten draußen einige hundert die bekannteste Straße von Paris, bis sie von der Polizei weggeräumt wurden.

Diese Beispiele zeigen, welche Möglichkeiten gemeinsamen Handelns sich aktionsorientierten Gruppen auf Anlässen wie dem ESF bieten können - wenn sie denn genutzt werden. Derartige Aktionen sind nicht nur Selbstzweck, sondern machen deutlich, dass das ESF Ausdruck von Bewegung ist - und nicht nur ein Treffen der Parteien und Funktionäre. Aus der insgesamt schwächeren Beteiligung der Bewegungsströmung ist allerdings zu erklären, dass die Aktionen im gesamten Verlauf des Forums eher untergegangen sind - auch am Samstag blieb die Übernahme der Demospitze wegen fehlender Kompaktheit des Aufzugs weitgehend unbemerkt.

Für den politischen Terminkalender der bundesdeutschen Linken dürfte deshalb ein anderes Ereignis von nachhaltigerer Wirkung sein: Beim Treffen mehrerer hundert deutscher ESF-TeilnehmerInnen am Freitag im Rathaus von Saint-Denis wurde über Perspektiven des Widerstands gegen Sozialabbau und über Bedingungen und Möglichkeiten der Gründung eines Deutschen Sozialforums nachgedacht.

Angesichts der noch frischen Erinnerung an die Demonstration gegen Sozialkahlschlag am 1. November in Berlin und ob der Äußerungen führender Gewerkschaftsvertreter, bei den Protesten künftig nach Kräften mitmischen zu wollen (3), witterten viele der TeilnehmerInnen Morgenluft. Ein wenig zu keck führten manche dann auch das Wort vom Generalstreik im Munde. Sicherlich ist die Beteiligung der Gewerkschaften an den Mobilisierungen gegen den Sozialstaatsumbau überfällig und für die Entwicklung der Proteste von großer Bedeutung. Das Augenmerk sollte aber auf der Weiterentwicklung des in Deutschland traditionell schwach ausgeprägten Basisaktivismus liegen, der immerhin für den erfolgreichen Verlauf des 1. November verantwortlich zeichnet. In der Vorbereitung des Aktionstages im nächsten Frühjahr hat das Bündnis zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen erstmals Gelegenheit, sich zu erproben und die Grenzen der Zusammenarbeit auszuloten.

Spielräume für Basisaktivismus

Fragt sich noch, welchen Weg das Projekt Deutsches Sozialforum einschlägt. Die Initiative stützt sich immerhin auf etwa 30 lokale Sozialforen in Deutschland, die allerdings von unterschiedlicher Breite und in unterschiedlichem Zustand sind. Zumindest aus dem Kreis der Initiative für ein Berliner Sozialforum wurden erste Bedenken gegen die übereilte Gründung eines DSF laut. Trotzdem darf wohl davon ausgegangen werden, dass das Projekt in naher Zukunft mit Nachdruck verfolgt wird.

Die Themensetzung für das nächste Jahr nimmt also Gestalt an. Fragt sich nur, wie sich die bewegungsorientierte radikale Linke darin einbringen wird. Ihre Beteiligung am ESF war nicht gerade berauschend. Um Inhalte stärker beeinflussen zu können, ist ein stärkeres Engagement nötig. Schnittstellen gibt es zur Genüge, etwa bei den Kämpfen für Soziale Zentren, an denen sich in mehreren Städten auch die Sozialforumsbewegung beteiligt. Viele der dort Aktiven stehen auch radikaleren Aktionsformen aufgeschlossen gegenüber. Versuche, gemeinsam zu agieren, gibt es - z.B. in Hamburg und Berlin bei Aktionen der Umsonst-Kampagnen.

pp

Anmerkungen:

1) Das Ergebnis kann unter
www.fse-esf.org/francais/article916.html bewundert werden. Eine deutsche Übersetzung findet sich im LabourNet unter
www.labournet.de/diskussion/wipo/seattle/esf2/uebersetzungfinal.html.

2) Weitere Informationen:
Offizielle ESF-Seite: www.fse-esf.org
GLAD: www.intergalactique.lautre.net

Libertäres Forum: http://fsl-sla.eu.org

3) Ver.di-Chef Frank Bsirske sowie IG Metall-Vorstandsmitglied Horst Schmitthenner ließen sich entsprechende Statements entlocken. Letzterer wiederholte seinen Wunsch nach einem gemeinsamen Aktionstag der Gewerkschaften und der globalisierungskritischen Bewegung auf der Abschlussveranstaltung am Sonntag.