Das Geschäft mit der Betroffenheit
PatientInnenorganisationen als "Bodentruppen" der Pharmaindustrie
Seit einiger Zeit blüht die Liaison zwischen Gesundheitsindustrie, Selbsthilfe- und PatientInnenorganisationen. Auf diese Weise können pharmazeutische "Studienobjekte" direkt in der Selbsthilfeorganisation rekrutiert und die Dynamik von Angebot und Nachfrage angekurbelt werden - und zwar ohne dass die Akteure in den Konzernen und Biofirmen sichtbar werden. Denn die in PatientInnenvereinigungen organisierten Betroffenen fordern selbst, was Markt und Forschung brauchen.
Laboratorien, Forschungsinstitute und Kliniken sind Orte der Wissensproduktion und des Marktes. Üppig finanziert etwa die Deutsche Forschungsgemeinschaft derzeit die Verzahnung zwischen Grundlagenforschung und klinischer Anwendung. Gemäß der dominierenden biowissenschaftlichen Weltanschauung werden molekulargenetische Forschungsstrategien favorisiert. Doch um klinische Studien für innovative Medikamente und Verfahren zu realisieren, braucht es einen möglichst reibungslosen Zugriff auf große PatientInnengruppen. Und "erfolgreiches" Handeln, das medizinisches Wissen und Karrieren befördert, ist längst nicht mehr allein auf Kliniken und Expertenkreise fixiert.
Unter dem Label "Vertrauen und Partnerschaft" kooperieren Firmen, PR-Agenturen, Dienstleister für das Management klinischer Studien, Medien und Politik mit PatientInnenorganisationen. Jedes zehnte Pharmaunternehmen pflegt den Kontakt zu letzteren. Selbstlos ist dieses Engagement nicht. So träumte der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) auf seiner Homepage im Jahr 2001 von "direktem Prä-Marketing mit geringsten Streuverlusten". Im Klartext: Für verschreibungspflichtige Medikamente werben die Firmen direkt beim Selbsthilfeverband. Auch "überzeugendes Prä-Marketing" will der BPI in der neuen "Partnerschaft" betreiben. Das heißt: Bedarf und Nachfrage für Produkte schaffen, bevor sie überhaupt auf dem Markt sind. Außerdem wünscht der Dachverband "Risikominimierung bei eventuell auftretenden Nebenwirkungen". Dafür sorgen soll die beruhigende "Stellungnahme von Selbsthilfegruppen". Noch deutlicher formuliert es der Dachverband der britischen Pharmahersteller ABPI, der nach eigenen Angaben "Bodentruppen in Form von Patienten-Unterstützergruppen und Professionellen" bilden will. Das konkrete politische Ziel: Das Werbeverbot für verschreibungspflichtige Medikamente soll fallen.
Unsichtbare Allianzen
All dies lässt sich die Pharmaindustrie einiges kosten. Sie finanziert Broschüren, Kongresse - oder gründet gleich eigene PatientInnengruppen. Sie bezahlt für so genannte Awarness-Kampagnen, die bestimmte Krankheiten in ihrer volkswirtschaftlichen und forschungspolitischen Bedeutung ins öffentliche Bewusstsein rücken sollen. Der Löwenanteil des PR-Budgets fließt mittlerweile in so genannte non-profit-Organisationen. Auch PR-Unternehmen partizipieren am Geschäft mit der Betroffenheit. Die fünf großen PR-Firmen im Gesundheitssektor haben 2002 über 260 Millionen Euro verdient, um Fachkreise, Medien und Betroffenengruppen für ihre Auftraggeber zu bewerben. Die dominierende Strategie, so Paul Keirnan von der führenden PR-Firma Edelman, ist die "Technik der Dritten Partei". Und die "Dritte Partei", das sind neben pharmafreundlichen JournalistInnen und werbewirksamen ExpertInnen eben auch PatientInnengruppen.
Viele Selbsthilfeorganisationen erweisen sich in der Praxis als eine ideale soziale Form, um pharmaförderliche Bedürfnisse zu schaffen und auch, um eine Art Stellvertreterpolitik für die pharmazeutischen Industrie zu betreiben. So machen sich auch die Internationale Allianz der Patientenorganisationen (IAPO) und die europäische Abteilung der Globalen Allianz zu psychischen Erkrankungen (GAMIAN) dafür stark, das Werbeverbot für verschreibungspflichtige Medikamente aufzuheben. Bislang scheiterte die Liberalisierungsoffensive noch vorm europäischen Parlament. Doch gerade der Einsatz von PatientInnenorganisationen ist auch hier eine aussichtsreiche Strategie, denn Kritik an Betroffenen fällt schwer.
Besonders für chronisch Kranke und Behinderte, die sich oft im gesellschaftlichen Abseits befinden, können Medienkampagnen attraktiv wirken, um endlich sichtbar und anerkannt zu werden. Allerdings gibt es zu denken, dass sie besonders dann als eine Art Kollektivsubjekt in PR-Kampagnen vorgezeigt werden, wenn es um die Erleichterung von Forschungsbedingungen oder um Nachfrage nach immer neuen Medikamentengenerationen geht.
Wer beispielsweise die Zeitschrift der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft e.V. (DMSG) aufschlägt, der blickt auf ein Liebespaar: "Multiple Sklerose? Wir lassen Sie nicht allein! Aufklären, beraten, helfen", heißt die Botschaft unter dem Bild. Abgebildet ist hier übrigens ein Paar, das den ästhetischen und altersbezogenen Normen so sehr entspricht, dass es durchaus auch für Deodorant oder Multivitaminsäfte vor die Kamera treten könnte. Auch das Industrieforum Multiple Sklerose, bestehend aus den Unternehmen Aventis, Biogen, Schering, Serono, macht mit bei der bundesweiten PR-Kampagne der DMSG. Schon seit 1996 interessieren sich die Pharmagiganten für den Verband, denn die inzwischen zur Basistherapie von MS zählenden Interferone lassen sich seither Gewinn bringend produzieren. Biogen und Serono sind bedeutende Interferon-Hersteller und pflegen kontinuierliche Kontakte zur DMSG.
Die DMSG ihrerseits präsentiert sich kritisch und verbietet einseitige Werbung für bestimmte Produkte. Doch über den Ärztlichen Beirat werden klinische Studien kommentiert und für bestimmte Präparate Empfehlungen ausgesprochen. Solche wissenschaftlichen Empfehlungen fördern die Glaubwürdigkeit des Herstellers, denn der Ärztliche Beirat gilt ja als unabhängig. Seine ExpertInnen arbeiten unentgeltlich und genießen Vertrauen. Im Gegenzug finanziert die DMSG einen Teil jener Forschungsprojekte, die Mitglieder des Beirates durchführen. Auch "Prä-Marketing" wird betrieben, zum Beispiel für den Einsatz von Stammzellen. Die vielen MS-PatientInnen allerdings, die nicht - oder nicht mehr - auf molekulare Problemlösungen hoffen, die abweichende Erfahrungen machen, sie kommen in den PR-Kampagnen nicht vor. Ihr Verhalten wird zunehmend begründungspflichtig: Hätten sie nicht an Forschungsprojekten zum Wohle anderer, zukünftiger PatientInnen teilnehmen können? Haben sie jede, auch hoch-experimentelle "Chance" des Heilversuches wahrgenommen?
Biomaterial für Europa
Wie weit die Gestaltungskapazitäten von PatientInnenorganisationen reichen können, zeigt das Beispiel der AFM, einer französischen Betroffenengruppe für Muskeldystrophie. Ihr Vorsitzender machte schon in den 1980er Jahren die genetische Forschung zur Priorität. Die Zusammenarbeit mit der französischen Mammut-Talkshow Téléthon brachte erhebliche Einnahmen, die in den Aufbau des französischen Genomforschungszentrums Généthon flossen, das sicherlich die Entwicklung der pränatalen Diagnostik von Muskeldystrophien und anderen Behinderungen voranbrachte. Die Muskeldystrophien gehören zur Klasse der "orphan diseases", der seltenen Erkrankungen. Weniger als 5 von 10.000 Menschen sind definitionsgemäß an diesen, meist als erblich geltenden Leiden erkrankt.
AFM macht mit bei EURODIS, der Europäischen Organisation für seltene Erkrankungen. PatientInnenverbände, Pharmaindustrie, Universitäten und Regierungskreise haben mit EURODIS eine politisch wirksame Koalition gegründet. Ihre "Mission": klinische Studien promoten, Medikamentenentwicklungen fördern. Aus EU-Mitteln gefördert, startet nun das größte EURODIS-Projekt, die "EuroBioBank". Zwölf Biomaterial-Banken in Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Malta, Slowenien, Spanien und Ungarn haben mit EU-Mitteln ein Netzwerk gegründet. Die Banken sind gefüllt mit Blut und Gewebe von PatientInnen; beides soll der molekulargenetischen Forschung zugeführt werden. Das Ergebnis sind Patente, mit denen geistige Eigentumsmonopole entstehen. Das Forscherteam oder die Firma kann damit dann andere daran hindern, im gleichen Problemfeld zu arbeiten, oder es gegen Zahlung hoher Lizenzgebühren erlauben.
Die Beteiligung von Selbsthilfeorganisationen soll den Zugang zur begehrten Bioressource und zum Menschenexperiment ebnen. Etwa im Rahmen des gerade neu entworfenen deutschen Kompetenznetzwerkes zu seltenen Erkrankungen. Die Förderrichtlinien des Forschungsministeriums besagen, dass das Netz "eine 50%ige Rekrutierung der in Deutschland von den jeweiligen Erkrankungen betroffenen Patienten sicherstellen" soll. Rekrutiert werden diese nicht nur wegen ihres wertvollen "Biomaterials". Es geht um klinische Studien, um Gen"therapie"-Versuche. Diese molekulargenetische Methode wird seit zehn Jahren ohne jeden Erfolg experimentell verfolgt, jedoch mit zum Teil tödlichen Folgen für die Kranken.
Direkt am molekulargenetischen Forschungsgeschehen beteiligt sich auch Mamazone, eine Patientinneninitiative brustkrebskranker Frauen. Ihr Vorzeigeprojekt ist die "Tumorbank der Hoffnung", abgekürzt PA.T.H. (patients tumorbank of hope) Die gleichnamige Stiftung wurde von Mamazone gegründet, gilt als selbständig und nicht profitorientiert. Das Angebot für Frauen mit Brustkrebs: Die Brustzentren der Kliniken Augsburg und Kassel und die Biotech-Firma LipNova aus Hannover frieren auf Wunsch eine Gewebeprobe für die Patientin und eine Forschungsprobe für die Stiftung PA.T.H ein. LipNova ist in der Krebsforschung tätig; außerdem gehören Produktion, klinische Prüfung und Zulassung neuer Arzneimittel aus dem Bereich der Zelltherapie zu ihren Kernkompetenzen. Als Spezialgebiet gibt die Firma an: Entwicklung von Tumorimpfstoffen auf Basis patienteneigenen Tumorgewebes. Und LipNova ist eine starke Partnerin für Mamzone: Der Firmensitz ist identisch mit dem Sitz der "unabhängigen" Stiftung PA.T.H., die rein ehrenamtlich arbeiten soll und nach Sponsoren Ausschau hält. Besonders engagiert ist der Roche-Konzern, weitere Geldgeber sind Ortho Biotech von der Janssen-Cilag-Gruppe, Bristol-Myers Squibb, Bayer HealthCare, LipoNova sowie die Kliniken in Augsburg und Kassel. Das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen, doch es folgt der internationalen Euphorie der GenomforscherInnen, die allerorten Biobanken gründen. Das "kostbare Bio-Material", schreibt Mamazone, sei ein "leibhaftiger Beitrag" von Patientinnen für die Forschung. Die Initiative ruft zu weiterem Einsatz auf: "Patientinnen, die an Tests für die Forschung teilnehmen, sind keine Versuchskaninchen, sondern Pionierinnen." Studien seien "ein Härtetest für die Hoffnung". Bei Mamazone können sich Betroffene auch zur "Diplom-Patientin" ausbilden lassen. Die ist "mündig und pharmafähig", heißt es auf der Homepage. Auch WissenschaftlerInnen winkt ein symbolischer Lohn - der Preis "Busenfreund" für engagierte Brustkrebsforschung.
Identitätspolitik pur
Wem nun Bedenken kommen, dass sich die Fraueninitiative vor den Karren der Industrie spannen lasse, wird präventiv beruhigt: "Dass mündige Patientinnen und Arzneimittelhersteller Joint-venture-Aktivitäten zum gemeinsamen Nutzen ergreifen können ... scheint hier zu Lande noch unvorstellbar ... Pharmaunternehmen und nicht Krankenkassen oder Staat haben mit ihrer finanziellen Förderung dazu beigetragen, eine professionelle Patientenkultur zu schaffen." Hauptfinanzier von Mamazone ist der Pharmariese Roche, der sich in Krebsforschung und Krebsmittelherstellung engagiert und eigens einen Arbeitsplatz für die Kommunikation mit Selbsthilfegruppen eingerichtet hat.
Doch die schillernde Partnerschaftsrhetorik der neoliberalen Gegenwart verklärt nicht nur partielle ökonomische und wissenspolitische Interessen zum Anliegen der PatientInnen. Eine erfolgreiche Identitätspolitik im Stil der "Initiative Mamazone" wird es PatientInnen in Zukunft immer schwerer machen, sich und anderen zu erklären, warum sie am biomedizinischen Innovationskarussell um Pharmaka und produktive Körpersubstanzen nicht teilnehmen möchten.
Erika Feyerabend
www.bioskop-forum.de