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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 479 / 19.12.2003

Kein Thema: Antisemitismus in der Türkei

Drei Wochen nach den Anschlägen gegen die beiden Synagogen, denen fünf Tage später die Anschläge gegen zwei britische Einrichtungen folgten, sind in der türkischen Öffentlichkeit die jüdischen Opfer und der antisemitische Charakter der Anschläge auf die Synagogen nicht mehr präsent. Fast alle deutschsprachigen Zeitungen hatten in den Tagen nach dem Anschlag "Hintergrundberichte" veröffentlicht, die fast litaneiartig beteuerte, in der Türkei gäbe es keinen Antisemitismus, die Türkei sei das Land der Erde, wo Juden seit 1492 - dem Jahr ihrer Vertreibung aus Spanien im Rahmen der Reconquista und ihrer Aufnahme durch den osmanischen Sultan - in Frieden mit ihren muslimischen Nachbarn zusammenlebten.

Der antisemitische Charakter des Anschlages vom 15. November ist in der allgemeinen Diskussion über Organisation und Taktik des Al- Qaeda-Netzwerkes und um die Konsequenzen aus den Anschlägen auf den EU-Beitritt der Türkei weitgehend aus dem Blickfeld geraten. Währenddessen gab einer der verhafteten Täter, Yusuf Polat, der als Planer gilt, unumwunden zu: "Aus Unerfahrenheit haben wir die Bomben zu früh gezündet (...), wenn wir noch zehn bis 15 Minuten gewartet hätten, wären die Juden alle zusammen vom Gottesdienst gekommen." (1) Er bedauert, dass nicht noch viel mehr Juden ermordet wurden.

Der Anschlag war bereits der dritte Anschlag auf die Neve-Salom-Synagoge. Am 6. September 1986 - ebenfalls während des Sabbat-Gottesdienstes kurz vor 9.30 Uhr - wurden bei einem Anschlag 22 Gottesdienstteilnehmer ermordet (2). Drei verschiedene palästinensische Kommandos bekannten sich zu dem Blutbad. Erst am 20. Mai 1987 wurde die Synagoge wieder für den Gottesdienst geöffnet, eine Tafel mit den Namen der Opfer sowie die zur Tatzeit stehen gebliebene Uhr erinnern daran. Die 1986 verstärkte Mauer verhinderte dieses Mal eine noch höhere Zahl an Opfern.

Ein zweiter Anschlag ereignete sich am 1. März 1992, als Angehörige der Hizbullah mit Schusswaffen und Handgranaten in die Synagoge eindrangen. (3) Auf Grund der Sicherheitsvorkehrungen kam es dieses Mal jedoch "nur" zu Verletzten, keinen Todesopfern. Der Haupttäter - Musa Özer - wurde zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er gehörte dem eng mit den Sicherheitskräften verflochtenen "ilimli"-Flügel der Hizbullah an. (4)

Doch diese drei Anschläge sind bei weitem nicht die einzigen antisemitischen Gewalttaten der jüngeren Zeit: Am 28. Januar 1993 wurde ein Mordanschlag auf den jüdischen Industriellen Jak Kamhi verübt; der Präsident der "500-Jahres-Stiftung" (Feier des 500. Jahrestages der Aufnahme der aus Spanien vertriebenen Juden im damaligen Osmanischen Reich), überlebte den Anschlag zum Glück fast unverletzt.

Anschläge auf Synagogen

Ende Dezember 1994 wurden bei einem Bombenanschlag auf ein Intellektuellencafé in Istanbul der Filmkritiker Onat Kutlar und die jüdische Archäologin Ayse Cebenoyan getötet. Das Bekennerschreiben betonte die Bereitschaft, "noch mehr Juden zu töten". Am 15. Juni 1995 wurde gegen den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Ankara, Yuda Yurum, ein Anschlag mit einer Autobombe verübt, bei dem er überlebte. Sechs Monate später traf es den jüdischen Geschäftsmann Nessim Malki, im Sommer 2001 schließlich wurde Üzeyir Garih, ebenfalls einer der bekanntesten jüdischen Geschäftsleute und herausragendsten Mitglieder der jüdischen Gemeinde, ermordet (5). Im April 1994 wurde der jüdische Friedhof in Istanbul geschändet, 1996 die Synagoge in Ankara.

Übersetzungen der radikalsten antisemitischen Machwerke - Mein Kampf und Die Protokolle der Weisen von Zion - finden in der Türkei erhebliche Verbreitung: allein in der Dekade von 1991 bis 2000 erschienen acht Auflagen von Mein Kampf (türkisch kavgam) und 25 Auflagen der Protokolle. Dies ist jedoch nur die Spitze des Eisberges. Zunehmend bedienen sich Antisemiten beider Strömungen (Nationalisten wie Islamisten) auch moderner Technologie. Internetseiten mit "einschlägigen" Inhalten schossen und schießen wie Pilze aus dem Boden. Eines der beliebtesten Themen gedruckter wie virtueller Medien ist die vermeintlich intellektuelle Kontrolle der Türkei durch die Dönme. Als Dönme (wörtlich: Konvertiten) werden die Nachfahren der Anhänger des "falschen Messias" Sabbatai Zwi bezeichnet, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Osmanischen Reich lebte und eine enorme Ausstrahlung auf Juden in ganz Europa, vor allem Polen, hatte. Unter dem Druck des osmanischen Sultans konvertierte der "Messias" jedoch mit der Mehrheit seiner Anhänger zum Islam. Nachfahren dieser Sekte, die tatsächlich in der modernen Türkei unter engagierten Journalisten und linken Intellektuellen stark vertreten sind, werden bis heute als Kryptojuden denunziert und diffamiert. So wird auch Atatürk, der aus Saloniki, der Hochburg der Dönme stammte, gern als Werkzeug von Juden und Freimaurern bezeichnet. Zwei weitere "Spitzenreiter" unter den neueren Themen antisemitischer Propaganda in der Türkei sind die Leugnung des Holocaustes sowie die Behauptung, Israel und "die Juden" stünden hinter dem GAP-Projekt. (6)

Das Copyright auf Antisemitismus liegt keineswegs allein bei den islamisch-islamistischen Strömungen: Die türkische Linke bietet mit ihrer Affinität zu Verschwörungstheorien seit jeher eine offene Flanke. Mitte der 1990er Jahre tat sich die PKK-nahe Presse mit einer Reihe antisemitischer Hetzartikel hervor (7), und aktuell ist es die links-nationalistische Isci Partisi (Arbeiterpartei) mit der Zeitschrift Aydinlik (Helligkeit), die sich besonders widerwärtig hervortut. So veröffentlichte einer der Autoren von Aydinlik, Prof. Yalcin Kücük (8), kürzlich ein Buch Gizli Yahudiler, die Kryptojuden, in dem er die Beherrschung der Türkei durch die o.g. Dönme "aufdeckt". Die "kurdisch-jüdische" Verschwörung gehört ebenfalls zu seinen Lieblingsthemen, seine Thesen fanden in der islamistischen Presse begeisterte Aufnahme.

Hochkonjunktur antisemitischer Publikationen

Während türkische Politiker - auch Vertreter der islamischen Parteien - offiziell stets betonen, die Türkei sei "ihren Juden gegenüber freundlich gesinnt", antijüdische Stimmen gäbe es schlicht nicht, fällt auf, dass es nur äußerst selten zu Verboten oder Beschlagnahmung von Druckerzeugnissen wegen antisemitischer Inhalten kommt.

Auch für die Linken und Demokraten ist der Antisemitismus in der Türkei kein Thema. "Gemäßigte" islamische Intellektuelle sind seit den Diskussionen um die "zweite Republik" beliebte Diskussionspartner linker Intellektueller, Zeitschriften wie Zaman gelten als "seriös", die Tatsache, dass auch dort beinahe täglich antisemitische Klischees verbreitet werden, fällt niemandem auf.

Rifat Bali, einer der wenigen Wissenschaftler der Türkei, der sich des Themas antijüdische Politik und Antisemitismus in der Türkei angenommen hat und mehrere fundierte Untersuchungen veröffentlicht hat, bezeichnet den Antisemitismus als "das bestgehütete Geheimnis der Türkei". Sowohl Israel als auch das jüdische Establishment in der Türkei, die türkischen Intellektuellen wie die einflussreichen jüdisch-amerikanischen Organisationen und der türkische Staat verschweigen dieses Thema.

Leider schlägt sich das auch in den Einschätzungen verschiedener Medien und Forschungszentren, die zum Thema Antisemitismus arbeiten, nieder: Noch 1994 bezeichnete der vom Londoner Institute of Jewish Affairs herausgegebene Antisemitism world report die Türkei als das Land, in welchem der Antisemitismus weltweit besonders bedrohlich sei. Auch in den folgenden Jahren (1995 und 1996) fällt der Jahresbericht in Bezug auf die Türkei kritisch aus, während in den folgenden Jahren Entwarnung gegeben wird.

Antisemitismus kein Thema

Während die Spitzenvertreter des türkischen Staates der jüdischen Gemeinde sofort nach den Anschlägen Beileidsbesuche abstatteten und durch öffentliche Gesten um Schadensbegrenzung für das Image der Türkei bemüht waren, reagierten Anwohner, vom Fernsehsender atw befragt, mit Kommentaren der Art: "Wenn die Synagoge und andere jüdische Einrichtungen aus dem Viertel verschwinden, würden nicht unschuldige Muslime zum Opfer solcher Anschläge."

Derweil veröffentlicht die türkisch-jüdische Wochenzeitung Salom Ratschläge von Psychologen, wie Opfer von Anschlägen und ihre Angehörigen mit dem Trauma weiterleben können: "... nehmen Sie sich Zeit um zur Ruhe zu kommen (...) laufen Sie z.B. ein paar Minuten (...) Organisieren Sie Ihren Tagesablauf in möglichst kleinen Zeitabschnitten (...) Vermeiden Sie es, Ihre Kinder anzuschreien oder zu schlagen."

Nora Mielke

Anmerkungen

1) Salom vom 5.12.2003

2) Auch bei dem Anschlag sprengten sich zwei der Attentäter selbst mit in die Luft.

3) Laut Milliyet vom 16.11.2003 hatte die Hizbullah bei den beiden ersten Anschlägen ihre Hände im Spiel.

4) Derzeit ist er in Diyarbakir mit 24 weiteren Angeklagten der Ermordung von 156 Personen angeklagt. Milliyet 16.11.2003

5) Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollzähligkeit.

6) Die kurdischen Gebiete werden im offiziellen türkischen Sprachgebrauch als "Süd- oder Südost-Anatolien" bezeichnet, "Güney-Anadolu", daher der Name GAP

7) siehe dazu entsprechende Artikel in der jungen welt sowie ak 379

8) Professor Yalcin Kücük, der beim Militärputsch 1980 aus dem Universitätsdienst entlassen wurde, verfasste in den 1980er Jahren "Thesen über die türkischen Intellektuellen" und "Thesen über die türkische Linke", die damals zur linken Standardliteratur gehörten. Er avancierte Anfang der 1990er Jahre zum "Berater" von Abdullah Öcalan. Ende der 90er Jahre kehrte er in die Türkei zurück und wurde 2002 erneut in den Universitätsdienst aufgenommen. Auf den Internetseiten der demokratischen Radikal entbrannte eine Diskussion, ob er nach so langer Abwesenheit noch als Professor tauglich sei, seine antisemitischen Hetzschriften spielten in dieser Diskussion keinerlei Rolle.