Henker überflüssig
Der Flächentarifvertrag wird ausgehebelt - auch ohne Gesetz
Im Rahmen der Agenda 2010 geht es auch um das Schicksal des Flächentarifvertrags. Eine gesetzlich verordnete Aushebelung wird es nun nicht geben. Doch das ist auch nicht nötig. Schließlich bieten die Gewerkschaften freiwillig die Beseitigung des Tarifvertrages an.
Die Forderungen von CDU und BDA-Funktionären im Vorfeld der abschließenden Sitzung des Vermittlungsausschusses waren weitgehend. Tarifverträge sollten nur noch lockere Richtlinien werden, die in den Betrieben problemlos unterlaufen werden können. Auf der anderen Seite hatten Beschäftigte in den Betrieben bundesweit deutlich gemacht, dass die Abschaffung des Flächentarifvertrages eine massive Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zur Folge hat. Selbst zu einer Mahnwache vor der SPD-Bundeszentrale hatten sich hauptamtliche Gewerkschaftssekretäre durchgerungen. "Wir befürchten, dass es beim Vermittlungsverfahren von Bundestag und Bundesrat zu Eingriffen in die Tarifautonomie kommt. CDU/CSU und FDP wollen das massiv", so Roland Tremper, Geschäftsführer ver.di-Bezirk Berlin.
Dennoch argumentierten Gewerkschaftsvorstände auffallend oft mit der "Flexibilität der Tarifverträge". "Die Kritiker des vermeintlich zu starren deutschen Flächentarifvertrags wissen nicht, wovon sie reden", betonte auch Reinhard Bispinck, Tarifexperte des WSI-Instituts der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung. "Es gibt keine wichtige Branche, für die nicht in den vergangenen Jahren bereits eine oder mehrere substanzielle Öffnungsklauseln vereinbart worden sind". So können Löhne, Urlaubs- und Weihnachtsgeld betrieblich gesenkt werden. In der Chemieindustrie gibt es niedrigere Einstiegstarife für Langzeitarbeitslose. Eine Härtefallklausel in der Metallindustrie sieht vor, die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich auf 30 Stunden zu verkürzen, wenn der Unternehmer dies will. Eine Klausel im Einzelhandel in Ostdeutschland sieht geringere Gehälter in kleineren und mittleren Firmen vor.
Nach der Einigung im Vermittlungsausschuss vom 14.12.2003 wird es nun keine Änderungen am Tarifvertragsgesetz geben. "Die besonnenen politischen Kräfte in Deutschland haben sich durchgesetzt", lobt IG Metall Chef Jürgen Peters. Ein "Freiheitsrecht aus der Verfassung" sei vor marktliberaler Vereinnahmung geschützt worden, der Erhalt der Tarifautonomie ein Erfolg der Gewerkschaften. Der Grund für den Verzicht auf eine Gesetzesänderung ist im Verhalten der Gewerkschaftsvorstände selbst zu finden. Nachdem Gespräche zwischen Unternehmervertreter Dieter Hundt und dem DGB-Vorsitzenden Michael Sommer über eine weitere freiwillige Öffnung der Tarifverträge gescheitert waren, hatte sich schon der Ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske optimistisch gezeigt. Eine Einigung über eine gemeinsame Erklärung mit den Unternehmern sei "durchaus denkbar". Kurz danach legte Peters mit einer Erklärung zur Tariföffnung nach. Die IG Metall sei bereit -"wenn es erforderlich ist" - den Spielraum für weitere "betriebliche Gestaltungsmöglichkeiten in den Tarifverträgen" zu vergrößern. Die Zusage, die Tarifverträge weiter zu öffnen, stellt letztendlich den Flächentarifvertrag in Frage. Eine Gesetzesänderung ist deshalb aus Sicht der Unternehmer zunächst überhaupt nicht erforderlich.
Gewerkschafts-
logik I: Lob des Verzichts
Das Verhalten der Gewerkschaftsvorstände überrascht kaum. Erinnert sei an die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes 2001. Zunächst hatte der DGB weitgehende Forderungen zur Ausweitung der Mitbestimmung erhoben. Die Vorschläge der Bundesregierung blieben weit hinter diesen Vorstellungen zurück. Die Gewerkschaftsspitze verzichtete jedoch auf eine breite Mobilisierung und traf stattdessen Absprachen mit der Schröder-Regierung. Auch bei der Riester-Rente wurde die Wut in den Betrieben auf die Abschaffung der paritätischen Sozialversicherung nicht zur Gegenwehr genutzt. DGB und IG Metall trugen vielmehr die Rentenkürzungen mit, da Möglichkeiten der betrieblichen Altersvorsorge in Großbetrieben verbessert wurden. Das Muster dieser Doppelstrategie der Gewerkschaftsvorstände ist vergleichbar: Proteste in den Betrieben werden genutzt, um Gespräche mit der Bundesregierung zu führen, die bei Kleinigkeiten Entgegenkommen zusagt, letztendlich jedoch die grundlegenden Änderungen nicht verhindert.
Gewerkschafts-
logik II: Bloß keine Gegenwehr
Bei der Diskussion um die Flächentarifverträge verlief die Strategie des Zurückweichens ähnlich: Der IG Metall-Vorstand macht weitgehende Zugeständnisse zur Einschränkung der Tarifautonomie, ohne dass Gewerkschaftstage dazu Beschlüsse fassen. Im Gegenzug verzichtet die Regierung Schröder zunächst auf eine Tarifvertragsgesetz-Änderung. In den nächsten Tarifrunden werden die Unternehmer entsprechenden Druck ausüben, um Öffnungsklauseln zur Lohnsenkung durchzusetzen.
Dabei standen die Chancen für entschlossene Gegenwehr auch diesmal nicht schlecht. Die Wut in den Betrieben war greifbar. Selbst vom "Wirtschaftsweisen" Jürgen Kromphardt erhielten die Beschäftigten Unterstützung. Der hatte sich gegen eine weitere Öffnung der Flächentarifverträge ausgesprochen. Zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bestehe ein "ungleicher Wettbewerb". Arbeitnehmer müssten von ihrer Arbeit leben und seien daher erpressbarer als Arbeitgeber, betonte das Mitglied des "Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung".
Ein Gutachten - von den Gewerkschaften in Auftrag gegeben - hatte jüngst gezeigt, dass gesetzliche Eingriffe in die Tarifautonomie verfassungswidrig seien. Der IG Metall-Vorsitzender Peters kündigte daraufhin vollmundig an, seine Gewerkschaft werde ggfs. "auf jeden Fall Verfassungsklage" einreichen. Mit seiner Erklärung zur weitgehenden Öffnung des Flächentarifes hat er diesen Weg nun verbaut.
Marcus Schwarzbach