Kein Regen, aber Streik
Mike Davis über den Supermarktstreik in Südkalifornien
Viel ist in den hiesigen Medien über die Wahl Arnold Schwarzeneggers zum Gouverneur von Kalifornien berichtet worden. Dass dort seit Anfang Oktober ein erbitterter Arbeitskampf tobt, war kein Thema. Dabei hat der Streik in den Supermärkten Südkaliforniens durchaus landesweite Bedeutung. Der folgende Beitrag stammt von Mike Davis, einem profunden Kenner der amerikanischen ArbeiterInnebewegung und Autor von "City of Quarz", der bahnbrechenden Studie über Los Angeles.
Das häufigste Bild, was sich einem dieser Tage in Südkalifornien zeigt, ist weder ein Filmdreh noch eine Strandparty. Es sind vielmehr militante Streikketten. Von Malibu bis zur mexikanischen Grenze streiken 70.000 ArbeiterInnen von Supermärkten, zwei Drittel von ihnen Frauen. Seit dem 11. Oktober sind sie im Ausstand oder ausgesperrt. Betroffen sind 850 Läden. In der Privatwirtschaft ist es der größte gewerkschaftliche Kampf an der Westküste seit dem Hollywood-Generalstreik 1946. Aber noch bedeutsamer ist der Umstand, dass es in der jüngeren Vergangenheit keinen Streik gegeben hat, der die allgemeine Öffentlichkeit dermaßen umfassend berührt. Nahezu jeder und jede der 20 Millionen EinwohnerInnen in der Region muss die persönliche moralische Entscheidung treffen, ob er oder sie eine Streikkette ignorieren will oder nicht. Weder bei den jüngsten Arbeitsniederlegungen bei den Buslinien noch bei den Schulen ist das der Fall gewesen.
Die Angelegenheiten, um die es geht sind gewichtig. Die Streikenden, vertreten durch die United Food and Commercial Workers Union (UFCW), wehren sich gegen den brutalen Versuch der drei größten kalifornischen Supermarktketten, ihre vertraglich geregelten Krankenversicherungen auszuhebeln und die Löhne für Neueingestellte zurück zu drehen. Das Kampfterrain mag zwar lokal sein, die Themen, vor allem das Thema Gesundheitsversorgung, haben jedoch landesweite Bedeutung. Der Sozialhistoriker Neldon Lichtenstein hat es jüngst in der Los Angeles Times so formuliert: "Für die ArbeiterInnenbewegung insgesamt ist dies mit Sicherheit eine entscheidende Auseinandersetzung. Für viele Jahre wird hier die Richtung für die Sozialpolitik in den USA bestimmt."
Streikthema Gesundheit
Unter den reichen Industrienationen sind die USA in Bezug auf das Gesundheitssystem einzigartig. Es gibt hier nämlich keinerlei umfassende Ansprüche und Regelungen in Bezug auf die Gesundheitsversorgung. Traditionellerweise besteht ein Zugang zu medizinischen Versicherungsleistungen nur über die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, nicht aber über den Status der Staatsbürgerin. Doch der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Privatwirtschaft ist auf unter neun Prozent gesunken. Gleichzeitig sind die Kosten im Gesundheitsbereich explodiert. Ein ständig größerer Anteil der Haushaltseinkommen vieler Familien muss deshalb dafür verwand werden, sich eine Mitgliedschaft in einer so genannten "Health Maintenance Organisation" (HMO) zu erkaufen.
Eine zahlenmäßig bedeutsame Minderheit von Arbeiterfamilien kann sich die Mitgliedschaft in einer privaten HMO nicht leisten. Los Angeles, die Hautstadt der Schwitzbuden, ist dafür ein besonders schockierendes Beispiel. Unglaubliche vier Millionen EinwohnerInnen sind hier nicht versichert. Ihnen fehlt selbst die elementare ärztliche und zahnärztliche Versorgung. In lebensbedrohlichen Situationen belagern diese Menschen die Notaufnahmen der Krankenhäuser, die selbst chronisch unterfinanziert sind und am Rande des Zusammenbruchs stehen.
Der Einzelhandel ist die "Dritte Welt" innerhalb der US-Wirtschaft. Hier arbeitet der höchste Prozentsatz von niedrig bezahlten, befristet beschäftigten und unversicherten ArbeiterInnen. Gewerkschaftlich organisierte Supermärkte sind eine dramatische Ausnahme, und deren Löhne und Sozialleistungen sind schon lange ein gewaltiges Stück Speck in den Augen der Nichtorganisierten. Das heißt nicht, dass die Mitglieder der UFCW ArbeiteraristokratInnen wären. Die meisten rackern sich auf der Basis von Stundenlöhnen von 12 bis 14 Dollar ab. Aber die betrieblichen Sozialleistungen sichern einer Familie immerhin eine sichere Gesundheitsversorgung, von der die meisten nicht organisierten ArbeiterInnen nur träumen können.
Der wichtigste aktuelle Trend in den US-amerikanischen Arbeitsbeziehungen ist jedoch der Versuch der großen Unternehmen, sich ihre Versorgungsverpflichtungen vom Hals zu schaffen. Das Modell für diese Bestrebungen ist Wal Mart, der moderne Inbegriff von Superausbeutung und Habgier. In der Tat begründen die Supermarktketten ihre Rückzahlungsansprüche gegenüber der UFCW in der Öffentlichkeit damit, dass Wal Mart mit Macht auf den kalifornischen Markt drängt. Der gewerkschaftsfreie Einzelhandelsriese ist "die dritte Partei, die jetzt immer mit am Verhandlungstisch sitzt", wie es ein Gewerkschaftsfunktionär formuliert. Die drei Lebensmittelketten behaupten, ohne massive Zugeständnisse der Gewerkschaft seien sie nicht in der Lage, mit den 40 neuen "Supercentern" zu konkurrieren, die Wal Mart im Jahr 2004 eröffnen will. Sie weisen darauf hin, dass Wal Mart-Beschäftigte oft nur die Hälfte von dem verdienen, was gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnen bekommen. Zudem müssen sie einen sehr viel höheren Eigenanteil bei der Krankenversicherung aufbringen (ein Grund, warum die Mehrzahl über gar keine Krankenversicherung verfügt).
Wal Mart hat inzwischen General Motors als größtes Unternehmen der Welt abgelöst. Mit einer Kombination von "just-in-time"-Technologie einerseits und den wüstesten Bestandteilen eines viktorianischen Kapitalismus und Kolonialismus andererseits hat die Kette aus Bentonville, Arkansas, den Walton-Clan zur reichsten Familie der USA gemacht. Wal Mart ist berüchtigt für Hungerlöhne und dafür, seinen eine Million ArbeiterInnen in den USA unbezahlte Überstunden abzupressen. In Übersee agiert die Gesellschaft noch unheimlicher. Sie zwingt ihre Tausende von Zulieferern in Bangladesh, China und Zentralamerika ununterbrochen dazu, die Arbeitskosten zu senken und ArbeiterInnenrechte außer Kraft zu setzen. Tatsächlich ist Wal Mart der größte indirekte Anwender von Schwitzbuden- und Kinderarbeit auf der Welt.
Wal Mart wirft Schatten
"Wal Martisierung" ist somit zu einem Synonym geworden für einen Wettlauf nach unten, für ein komplettes Auslöschen von ArbeiterInnen- und sozialen BürgerInnenrechten. "Wal Martisierung" ist aber auch die gebräuchlichste Ausrede für andere Einzelhandelsunternehmen, wenn es um vorauseilende Strategien gegen ihre Beschäftigten geht. Alle Gewerkschaften sind sich dessen sehr wohl bewusst, und die UFCW hat eindrucksvolle Solidaritätsbekundungen von LehrerInnen, MaschinenschlosserInnen, Hausmeistern und Reinigungskräften sowie von Krankenhausbeschäftigten erhalten. 3.000 HafenarbeiterInnen sind gar vor die Kaianlagen in Los Angeles marschiert, um dort vor einem nahe gelegen Supermarkt zu demonstrieren. Selbst die mächtige Teamster-Gewerkschaft hat sich kürzlich geweigert, Lebensmittel und andere Produkte von den Verteilzentren zu den Märkten zu transportieren; ein bemerkenswerter Bruch mit den für gewöhnlich sehr egoistischen Teamster-Tradition.
Die bemerkenswerteste und unerwartetste Entwicklung jedoch stellt die anhaltende Solidarität der allgemeinen Öffentlichkeit dar. Hundertausende, wenn nicht Millionen von SüdkalifornierInnen haben ihre Einkaufsgewohnheiten geändert, um nicht Streikketten passieren zu müssen. Sie haben dabei oft gewaltige Entfernungen in Kauf genommen. Es liegt dieser Tage ein kräftiger Hauch der 30er Jahre in der Luft. Trotzdem: Die drei Supermarktketten weigern sich nach wie vor, ihre Forderung nach einer Begrenzung ihrer Krankenversicherungsbeiträge aufzugeben. Sie haben dafür sogar einen - höchstwahrscheinlich illegalen - "Pakt zur gegenseitigen Unterstützung" geschlossen. Es herrscht Krieg bis zum bitteren Ende. Der Streik wird deshalb auch im Jahr 2004 fortgesetzt werden. Es mag merkwürdig klingen, einen Arbeitskampf im sonnigen Kalifornien als Wasserscheide für die US-amerikanische Gewerkschaftsbewegung anzusehen. Doch jeder und jede ist sich unerbittlich klar darüber, dass die UFCW diesen Kampf um jeden Preis gewinnen muss, wenn sie jemals die Chance haben soll, in Wal Marts finsterem Schwitzbudenimperium Fuß zu fassen.
Mike Davis
Dieser Beitrag erschien in der britischen Zeitung Socialist Worker, Nr. 1882 vom 20.12.2003; Übersetzung: Dirk Hauer