Autonome Kunst aus einem leidgeprüften Land
Porträt der israelischen Künstlerin Meira Asher
Meira Asher gewährt tiefe Einblicke durch die Fenster zu den zahlreichen Höllen dieser Welt. Ob Gedanken von Selbstmord-Attentätern, Folter- und Vergewaltigungsopfern oder Tabu-Themen wie AIDS - die israelische Komponistin lässt das Leiden der Menschheit beredt werden, und zwar in einer Sprache, die bewusst auf Sentimentalität, Theatralik und falsches Pathos verzichtet.
Die Künstlerin Meira Asher ist in Tel-Aviv geboren und aufgewachsen. Auf Reisen nach Afrika und Indien lernte sie Perkussions-Instrumente und Dhrupad-Techniken kennen und durch die intensive Auseinandersetzung mit verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen, wie Musik, Tanz und Fotografie, entwickelte sie einen eigenwilligen Stil. Während in ihrem Debüt-Album Dissected Klänge, Stilelemente unterschiedlicher kultureller Herkunft nebeneinander wahrnehmbar waren, hatte sie in dem Nachfolgewerk Spears Into Hooks bereits ihren Sound gefunden. Die elektronische Oper besteht aus einer komplexen Schichtung von Industrial- und Hardcore-Klängen, Geräusch-Samples und einem Gesang, der - ob als sprödes Rezitativ oder exaltierter Belcanto - Sprache als phonetisches, ästhetisches Ereignis behandelt.
1998 verließ Asher ihre Heimat Richtung Europa, um neue Herausforderungen anzunehmen: "Eine Künstlerin, die in ihrer Heimat arbeitet, lebt in einer Art Treibhaus." Das gelte besonders für ein kleines Land wie Israel, sagt die 39-Jährige, "das kaum tausend Avantgarde-Anhänger zählt und dessen Grenzen zu den Nachbarländern geschlossen sind". Nach kurzen Aufenthalten in London und Ljubljana arbeitete sie ein Jahr in Berlin. Heute lebt Asher in Den Haag. Zwar könne sich eine Künstlerin, die aus einem leidgeprüften Land kommt, auf der in Europa oberflächlich herrschenden Stabilität ausruhen, so Asher, andererseits vermisse sie aber auch den Schmerz: "Irgendwann begann ich, mich unwohl damit zu fühlen, dass alles so bequem und dekadent, viel Geld da ist, aber keine kritische Kultur. Europa ist überflutet mit schlechter Kunst."
Als israelische Staatsbürgerin macht Asher aus ihrer Gegnerschaft zu Ariel Sharon keinen Hehl. Diverse politische Mächte, beispielsweise die USA, hätten ein Interesse daran, diesen Konflikt dauerhaft in den Schlagzeilen zu halten: "Der Krieg soll weiter gehen. Natürlich bin ich strikt dagegen.", sagt die Künstlerin. "Es gibt auch an anderen Orten gravierende Probleme. Ich habe das Selbstmitleid satt, das einige Israelis an den Tag legen." Demgegenüber lässt sie aber in ihrem künstlerischen Schaffen jegliches Sendungsbewusstsein vermissen und verzichtet bewusst auf Agitation, wütende Proteste oder moralische Appelle. Vielmehr möchte sie "soziale Konflikte sezieren, Situationen transferieren, aber keine Botschaften", betont die Komponistin und überantwortet den Meinungsfindungsprozess ihrem Publikum. Asher setzt auf eine autonome Ästhetik. Sie will dem Sound-Material - aus dem sie übrigens wunderschöne Lieder macht - Erkenntnis abtrotzen und ihre Werke in Widerspruch zu den bestehenden Verhältnissen setzen. Obwohl ihre Schilderungen schonungslos sind, verfallen sie nicht in pubertäres Schockertum oder peinliche Massaker-Orgien, wie man sie beispielsweise in der Sparte Metall kultiviert findet.
In dem jüngsten Werk Infantry, das die Künstlerin zusammen mit ihrem Landsmann Guy Harries gestaltet hat, vermeidet Meira Asher konkrete semantische Verweise auf den Nahost-Konflikt. Der Titel Infantry bezieht sich auf das Sujet, das im Zentrum des Konzept-Albums steht. Etymologisch stammt der militärische Begriff für "zu Fuß kämpfende Truppen" von dem Wort "Infant" (Kleinkind) ab, das aber auch so viel bedeutet wie "unfähig zu sprechen": Infantry thematisiert die Manipulation von Kindern und eine ihrer mörderischen Konsequenzen: Minderjährige als "Universal Soldiers". In ihrem experimentellen Werk beschreibt das KünstlerInnen-Duo in drastischer Weise den fatalen Weg, zu dem gegenwärtig weltweit rund 300 000 Kinder getrieben werden.
Zurzeit arbeiten Asher und Harries an ihrem interdisziplinären Projekt FACE. Es soll die Erfahrung sozialer Probleme oder Notsituation von Kindern und Jugendlichen in Afrika, Asien und Osteuropa durch Kunstinstallationen vergegenständlichen. FACE ist auf fünf Jahre angelegt und zielt darauf, die Distanz zwischen Kunstwerk und dem jeweils beschriebenen Phänomen zu durchbrechen, den interkulturellen Austausch und lokale KünstlerInnen zu fördern. Die Exponate sollen daher nicht nur in Europa, sondern auch in den betroffenen Regionen selbst zu sehen sein. Im Frühjahr 2003 bildete Ashers Video- und Sound-Installation "Girl" in Berlin den Auftakt des Projekts; im Anschluss wurde sie in Westafrika präsentiert. Das Werk basiert auf der für Infantry vertonten Zeugenaussage des liberianischen Mädchens Josephine Kamara, die von Rebellen-Soldaten verschleppt und vergewaltigt wurde.
Susann Witt-Stahl
Informationen: www.meiraasher.com, dort können auch ihre CDs bestellt werden