Genosse Komma will Alles
Ein Porträt des italienischen Autors Nanni Balestrini
Als Dario Fo 1997 den Nobelpreis für Literatur bekam, galt das als mittelschwere Sensation. Immerhin wurde damit auch die fröhliche und subversive Militanz von "Bezahlt wird nicht" gewürdigt. Der Schritt von dort zu "Wir wollen Alles" scheint gering, und dennoch wird Nanni Balestrini auch weiterhin in Stockholm leer ausgehen.
Ein Schwarz-weiß-Foto von einem Mann. Elegante Erscheinung: Jackett, helles, kragenloses Hemd, lässig über die Schulter geworfener, langer gestreifter Mantel. Das Gesicht erinnert an Marcello Mastroianni, ein bisschen Lebemann, ein bisschen Dandy; das Mikrofon in der Hand irritiert ein wenig, unwillkürlich würde man eher ein Sektglas erwarten. Der Mann wirkt wie Mitte vierzig, doch er ist 34 Jahre; das Bild ist alt, von 1969, aufgenommen in Rom. Der Mann ist Schriftsteller. Er heißt Nanni Balestrini.
"Und dann versetzen wir den Materialkisten Fußtritte, um Rabatz zu machen, einen heftigen, dumpfen Radau, tututu tututu tututu, zwei Stunden dauert dieser Heidenkrach, zwischendurch halten wir Versammlungen ab, mal am Nordende der Bänder, mal im Süden der Bänder. Kreuz und quer laufen wir durch die Bänder, und dabei schreien wir alle im Chor: Mehr Geld, weniger Arbeit! Oder: Wir wollen Alles! Immer die Bänder auf und ab, und dabei machen wir Versammlungen. Bis zum Feierabend." Diese Geschichte ist auch alt, ebenfalls aus dem Jahre 1969. Sie spielt in Turin, bei FIAT-Mirafiori.
"Wir wollen Alles. Roman der FIAT-Kämpfe" ist zuerst 1972 auf deutsch bei Trikont erschienen. Im September 2003 wurde das Buch bei Assoziation A neu herausgegeben. Es ist die ultimative literarische Hommage an die Kämpfe des Massenarbeiters Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Auf 167 Seiten verdichtet beschreibt Balestrini in diesem grandiosen Roman ein Proletariat, das die Fabrikarbeit hasst. Sie ist nicht "Sinn des Lebens" oder "Mittel zur Selbstverwirklichung", sondern Qual und Terror, Gewalt und Herrschaft par excellence. Die neue Arbeiterfigur kennt kein "Arbeitsethos"; sie hasst die Hetze an den Fließbändern und die Überwachung und Kontrolle durch Werkschützer und Vorarbeiter. Sie hasst die Monotonie und den Raubbau an Gesundheit, Kreativität und Lebenszeit. Die Revolte des Massenarbeiters ist eine Revolte gegen das Fabriksystems auch außerhalb der Arbeit; es ist eine Revolte gegen die Spaltungsmechanismen der Akkordlöhne und der Lohngruppen, und es ist nicht zuletzt eine Revolte gegen die traditionellen Instanzen der politische ArbeiterInnenbewegung, gegen die Gewerkschaften und die Kommunistische Partei, die die Kämpfe abwiegeln, kanalisieren und spalten.
Balestrinis Buch ist der Roman des Operaismus. Die Analyse der neuen Klassenzusammensetzung in den Fabriken Norditaliens, die Analyse des Lohnsystems und des Zusammenhangs von Fabrik und Gesellschaft - alle Themen dieser linksradikalen Strömung der Arbeiterautonomie kulminieren in der Geschichte des jungen süditalienischen Arbeitsmigranten, den es auf der Suche nach Geld und Leben nach Turin und in den Moloch der FIAT verschlagen hat
"Wir wollen Alles" ist nicht das Werk eines neutralen literarischen Beobachters, sondern das eines linkradikalen intellektuellen Militanten. Balestrini ist ein umstürzlerischer Literat - ein Umstand, der so manchen aus dem italienischen Kulturbetrieb schwer verstört hatte: "Es ist überflüssig zu sagen, dass Balestrini ein wohlhabender Herr ist, dessen Hobby Revolution heißt." (1) 1935 in Mailand geboren, veröffentlicht Balestrini bereits mit 19 Jahren sein erstes Gedicht (Vorbilder sind u.a. Brecht, Pound sowie der Dadaismus). 1956 wird er Redakteur der Zeitschrift il verri, einer Art "Zentralorgan" der so genannten "Neo-Avantgarde". Zusammen mit Autoren wie Umberto Eco, Germano Lombardi und anderen begibt sich Balestrini auf die Suche nach neuen Ausdrucksformen, auf die Ebene des literarischen Experimentierens mit Form und Inhalt.
Romancier
des Operaismus
Sprachzweifel und Sprachkritik der "jungen Wilden" in Italien provozieren schon frühzeitig das literarische Establishment. Sie werden als "Unbefugte und unerwünschte Gäste der literarischen Welt Italiens" beschimpft, und 1957 verstieg sich selbst Pier Paolo Pasolini zu einer harschen Kritik an den MacherInnen von il verri: "nutzlose und aprioristische Suche nach längst anerkannten Neuigkeiten." (2) Die künstlerischen Neo-AvantgardistInnen finden den etablierten Kulturbetrieb zum Kotzen und kritisieren ihn gleichzeitig auf allen Ebenen. Über die radikale Kunst- und Kulturkritik stoßen sie dabei rasch zu einer schonungslosen Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Gesellschaft als Ganzes vor. Das demonstrative und destruktive Element verbindet die neue Ästhetik mit den neuen politischen Bewegungen der 60er Jahre. "Gruppe 63" und "Nuovissimi" (die Allerneuesten) nennen sich die literarischen Zirkel der 60er Jahre um Balestrini, Eco, Sanguinetti, Giuliani und andere. Vor allem Balestrini ist es, der zwischen 1963 und 1967 eine Vielzahl literarischer Konferenzen organisiert, an denen jeweils 40 Autorinnen und Autoren teilnehmen.
Inzwischen beim Verlag Feltrinelli unter Vertrag gründet Balestrini 1969 nach dem Zerfall der kulturkritischen Zeitschrift Quindici die Nachfolgerin Compagni. Gleichzeitig beteiligt sich der "Genosse Komma" an der Gründung von Potere Operaio (PO, Arbeitermacht), des ersten dezidiert operaistischen Organisationsansatzes der radikalen Linken Italiens. Von 1976 bis 1978 betreibt Balestrini in Mailand ein verlegerisches Dienstleistungszentrum, die "Area". Sie hilft Kleinverlagen dabei, ihre Bücher auch gegen den Druck der großen Häuser zu veröffentlichen. Das Unternehmen unterstützt mit insgesamt zehn Reihen unterschiedliche Projekte, die aus der "1977er Bewegung" hervorgegangen sind, so etwa die "Cooperativa Scrittori" mit ihrer Veröffentlichung sämtlicher Akten der Anti-Mafia-Kommission. In dieser Zeit, wo die militanten ArbeiterInnenkämpfe abflauen, der Massenarbeiter in den Fabriken systematisch eingekreist wird und die Organisationen der radikalen Linken zerfallen, schließt sich Balestrini den "Autonomen" an, der "Autonomia Operaia".
1978 muss "Area" unter dem Druck der politischen Repression schließen, am 7. April 1979 findet sich Balestrini selbst auf den Fahndungslisten der Staatsschutzorgane wieder. Der große Schlag gegen die radikale und autonome Linke Italiens mit tausenden von Festnahmen trifft auch ihn. Aus dem unerwünschten Provokateur des Literaturbetriebs der 60er Jahre ist ein steckbrieflich gesuchter Staatsfeind geworden. Wie vielen anderen auch wird ihm "bewaffnete Subversion" sowie pauschal 19facher Mord, u.a. der an Aldo Moro, zur Last gelegt. Durch eine Fahndungspanne sucht ihn die Polizei zunächst an falscher Stelle. Balestrini kann gewarnt werden und flieht auf Skiern über die Alpen nach Frankreich. Die Jahre des Exils in Paris dauern bis 1984, dann wird er freigesprochen.
1987 in Italien und 1988 auf deutsch erscheint "Die Unsichtbaren", Balestrinis Geschichte der "1977er Bewegung" und gewissermaßen die Fortsetzung von "Wir wollen Alles". Beide Bücher sind in Romanform gegossene Stücke einer kollektiven Oral History. Hier wie dort manifestiert sich im jeweiligen Ich-Erzähler das kollektive Subjekt einer ganzen Generation, einer ganzen gesellschaftlichen Figur, einer ganzen Bewegung. "Wir wollen Alles" mündet noch in den furiosen "Aufstand", in die Schlacht am Corso Trajano in Turin, wo die streikenden ArbeiterInnen in blutigen 24-stündigen Straßenkämpfen ihre Demonstration gegen die Polizei, Fabrikherren, Staat und Gewerkschaften durchsetzen. "Die Unsichtbaren" hingegen endet im Hochsicherheitsknast, in der Zerschlagung und Zersprengung einer antagonistischen Bewegung. Es ist der beeindruckende und erschütternde Roman einer katastrophischen Niederlage.
P38 und Staatsterror:
Die Unsichtbaren
Zusammen mit Primo Moroni hat Balestrini in der ungemein genauen Studie "Die Goldene Horde. Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien" u.a. nachgezeichnet, was sich zwischen 1969 und 1976/77 verändert hat: Die Trennung der Bewegung von den Fabrikkämpfen, der Angriff der Prekarisierung und Verarmung, die Krise der organisierten radikalen Linken, Historischer Kompromiss und Guerilla. Es entstehen die Centri sociali und die "Stadtindianer" und eine neue politische Jugendkultur, die Familie, Schule, Universität und Arbeit gleichermaßen zum Teufel schicken will und diesem Ansinnen mit Mollies und Knarren Nachdruck verleiht. "Die Unsichtbaren" ist die Geschichte dieser Jugendlichen und ihrer Kämpfe gegen Staat und Familie, Faschisten und Ausbeuter, Lehrer und Miethaie, umzingelt von Repression, Heroin, Knast und bürgerlicher Normalität.
"Der Verleger", sein 1992 erschienenes Buch über Giangiacomo Feltrinelli, schließt Balestrinis große Trilogie über den Kampfzyklus von 1969 bis 1977 ab. Die ProtagonistInnen des Romans, die 1972 auf sehr unterschiedliche Art und Weise auf den Tod Feltrinellis bei einem missglückten Anschlag auf die Stromversorgung Mailands reagieren, versuchen 15 Jahre später, einen Film über "den Verleger" und die Bedeutung seines Todes für die Linke zu machen. Im Gegensatz zu "Wir wollen Alles" und "Die Unsichtbaren" werden in diesem Roman zwei Zeitebenen ineinander montiert. Es entsteht somit eine sehr komplexe literarische Reflexion sowohl über bewaffnete Politik und Guerilla wie auch über die Entwicklung der linken Bewegungen in Italien.
Das letzte in Deutschland erschienene Buch von Ballestrini knüpft formal wieder an "WWA" und "Die Unsichtbaren" an. "I Furiosi. Die Wütenden" ist ein Roman über die "schwarz-roten Brigaden", die Ultras des AC Milan. Ein scheinbar unpolitisches Buch, vielleicht auch das ein Grund dafür, dass "Die Wütenden" in der deutschen Linken eher mit Zurückhaltung bis Ablehnung aufgenommen worden ist. Unkritische Umgehensweise mit seinen Protagonisten und Verherrlichung von Hooligan-Gewalt waren etwa die Vorwürfe. In der Tat be- oder verurteilt Balestrini die Jugendlichen und ihr Leben zwischen verwüsteten Trabantenstädten, Drogen- und Gewaltexzessen und stinkenden Sonderzügen nicht. Er ist ihr Sprachrohr, nicht ihr Richter, so wie die frühen OperaistInnen den jugendlichen FabrikarbeiterInnen aus dem Süden und ihren für die Orthodoxie der politischen ArbeiterInnenbewegung so "befremdlichen" Einstellungen, Aktionen und kommunikativen Codes erstmal zugehört haben. Die Welt der Rotschwarzen hat sicher nichts mehr mit Klassenkampf und Revolte zu tun, sehr wohl aber mit der Realität eines großstädtischen jugendlichen Proletariats Anfang der 90er Jahre.
Ein anderer ehemalige PO-Gründer, Sergio Bologna, hat sich selbst einmal kokett als "angeschimmelten Operaisten" bezeichnet, ein Label, mit dessen Selbstironie Nanni Balestrini wohl sehr einverstanden wäre. Dabei hat es der Schimmel bei ihm besonders schwer. Balestrini schreibt und kämpft immer noch, z.B. im BeraterInnenkreis des postoperaistischen Zeitungsprojekts Derive Approdi. Und in seinem Vorwort zu deutschen Neuauflage von "WWA" heißt es: "Eine neue Epoche erwartet die Menschheit, befreit von der Notwendigkeit und Mühsal der Arbeit, befreit von der Sklaverei des Geldes. Dies ist die Bedeutung der alten Parole, die auch heute und morgen ihren Sinn und ihre Gültigkeit nicht eingebüßt hat: Wir wollen Alles!"
Dirk Hauer
Lieferbare Bücher von Nanni Balestrini: "Wir wollen Alles. Roman der FIAT-Kämpfe", Berlin/Hamburg/Göttingen 2003, "Die Unsichtbaren", Berlin/Hamburg/Göttingen 2001, "Die Wütenden", Berlin/Amsterdam 1995, "Der Verleger", Hamburg 1992, "Die Goldene Horde. Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien" (mit Primo Moroni), Berlin/Göttingen 1994
Anmerkungen:
1) Sebastiano Vassali zitiert nach Peter O. Chotjewitz: "Nanni Balestrini und die ,Neo-Avantgarde' der 60er Jahre", in: Nanni Balestrini: Alles auf einmal, Berlin 1991
2) Peter O. Chotjewitz, a.a.O.