Frauen in der Roten Armee
Zeitzeuginnen erinnern an eine verdrängte Geschichte
"Moskau, den 10. Oktober 1941. An diesem Tag war es im ZK des Komsomol besonders laut und voll, doch das Besondere war, es hatten sich fast nur Mädchen versammelt. Sie kamen aus allen Ecken und Enden der Hauptstadt, aus Anstalten, Betrieben, Fabriken. Ganz unterschiedliche Mädchen, übermütig und laut, still und bescheiden, mit kurz geschnittenem Haar und langen dicken Zöpfen (...) Der Reihe nach betraten sie ein Zimmer, wo jemand mit einer Feldbluse hinter einem Tisch saß. ,Seid ihr fest entschlossen, an die Front zu gehen?` ,Ja!` ,Und ihr habt keine Angst davor, dass es hart wird?` ,Nein!` Prüfend betrachtete er jedes Mädchen einzeln, ob da nicht ein Anflug von Zweifel oder Unaufrichtigkeit zu erkennen wäre."
Unterleutnant Galina Dokutowitsch, seit einem Jahr als Navigatorin in einem Fliegerregiment an der Front, schrieb diese Zeilen am 27.5. 1943 in ihr Tagebuch. Zwei Monate später fiel sie bei einem Einsatz.
Beim Durchblättern des Katalogs zur Ausstellung, "Mascha, Nina und Katjuscha - Frauen in der Roten Armee - 1941-1945" blicken uns die jungen Gesichter dieser Frauen an, lachend, fröhlich, ernst, erschöpft und verzweifelt. Einige Fotos wurden offensichtlich in Szene gesetzt, es wurde posiert, andere dokumentieren authentisch den Einsatz im realen Kriegsgeschehen. Offensichtlich hatten während des Zweiten Weltkrieges die Frauen, die in der Roten Armee kämpften, Zugang zu fast allen militärischen Bereichen. Einzigartig für eine Armee zu der damaligen Zeit: die Frauen kämpften mit der Waffe, sie kämpften in vorderster Frontlinie gemeinsam mit den männlichen Soldaten gegen den Feind. Dennoch waren die weiblichen Soldaten nicht automatisch den männlichen gleichgestellt, sie mussten sich gegen männliche Vorbehalte durchsetzen und ihren Mut und ihre Tatkraft beweisen.
Furchtsam, entschlossen, draufgängerisch
"Zuerst einmal sah ich mir die Batteriestellung näher an. Offen gesagt, war mir der Anblick nicht ganz geheuer: ein Mädchen als Wachtposten, ein Mädchen mit Feldstecher auf dem Beobachtungsturm - ich kam ja direkt aus der Feuerlinie! Und so verschieden waren sie alle: schüchtern, furchtsam, kokett, entschlossen, draufgängerisch (...) Nicht alle kamen mit der Disziplin zurecht, die Frauennatur widersetzt sich der militärischen Straffheit. Mal hatte eine vergessen, was ihr aufgetragen wurde, mal hatte die andere einen Brief von zuhause bekommen und heulte den ganzen Morgen. Dann verhängt man eine Strafe - und nimmt sie mitunter auch wieder zurück, weil sie einem leid tun," so der männliche Abteilungskommandeur eines Frauen-Flakregiments. (Zitiert nach Swetlana Alexejewitsch: "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht", Hamburg, 1989)
Nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion betrachteten es viele Jugendliche, Männer und Frauen, als ihre patriotische Pflicht, die sozialistische Heimat an der Front zu verteidigen. Diese Entscheidung genoss hohes gesellschaftliches Ansehen. Während des Zweiten Weltkrieges kämpften 800.000 bis eine Million Frauen in der Roten Armee; sie dienten im Heer, bei den Luftstreitkräften, in der Kriegsflotte und im inneren Dienst. Sie wurden u.a. eingesetzt im Sanitätsdienst, in der Luftabwehr, im Nachrichtenwesen, in der Versorgung und in der politischen Arbeit. Offiziell bestand während des Zweiten Weltkrieges keine Wehrpflicht für Frauen, allerdings sah das allgemeine Wehrgesetz vom 1. September 1939 vor, dass Frauen mit Fachausbildung unterstützend in der Armee tätig sein sollten.
Offiziell wurde das Bild von der Frau an der Heimatfront propagiert. Die Frauen sollten stark und selbstständig sein und den Männern, die an der Front für sie kämpften, durch Übernahme der traditionellen Männerarbeit, z.B. in der Landwirtschaft oder in den Fabriken, nicht nur moralisch den Rücken stärken. Und selbstverständlich sollten sie gleichzeitig fürsorglich und duldsam die heimelige Häuslichkeit für die Rückkehrer bewahren.
Allerdings musste die sowjetische Armee gerade in den ersten Kriegsmonaten große Verluste hinnehmen. Die militärische Notsituation machte den Einsatz von Frauen in der Armee notwendig. Dementsprechend führte das Zentralkomitee des Kommunistischen Jugendverbandes (Komsomol) direkt nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion eine militärische Pflichtübung für Komsomolzen und Komsomolzinnen ein. Zu Beginn des Krieges übernahmen Frauen an vorderster Front, z. B. im Sanitätsdienst oder im Nachrichtendienst, harte und gefährliche Arbeit. Unter feindlichem Beschuss und somit in Lebensgefahr mussten sie Verwundete erstversorgen und bergen. Oder sie mussten zur Aufrechterhaltung der Befehlsstruktur in den Schützengräben Kabel für den Nachrichtendienst verlegen. "Was lässt sich über unsere Arbeit sagen? Der Äther im Krieg, das ist eine einzige Kakaphonie, ein Wirrwarr von Geräuschen und Geknister, denn unzählige Sender - unsere und die Feindsender - arbeiten gleichzeitig. Jetzt finde einmal das erforderliche Signal heraus. (...) Dreiundvierzig bei Orscha alles wie durch den Fleischwolf gedreht - Menschen, Erde, Bäume. Wir hatten einfach keine Zeit, verrückt zu werden. Keine Zeit zu weinen, nicht einmal - zu essen. Rund um die Uhr am Apparat. Und wenn plötzlich die Verbindung abbrach, war man verzweifelt: Irgendwo kamen jetzt Menschen ums Leben ..." (Aussage der Funkerin Walentina Jakowlewna, Mitte der 1980er Jahre)
1942 wurden Spezialeinrichtungen gegründet, in denen Frauen zu Scharfschützinnen, Fliegerinnen oder militärischen Kadern ausgebildet wurden. Nicht zu vergessen sind die vielen Frauen, die als sogenannte Hilfskräfte für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur der Armee unabkömmlich waren, sie arbeiteten, ebenfalls oft frontnah, als Köchinnen oder Wäscherinnen. Diese Frauen sind bis heute zu Unrecht komplett aus dem Raster der Erinnerung gefallen.
Sanitäterinnen, Scharfschützinnen, Bomberpilotinnen
Zum Ende des Krieges wurden fast alle weiblichen Soldaten demobilisiert. Auch wenn oder gerade weil sie Tapferkeit und Mut bewiesen hatten, war es für sie nicht einfach, im normalen Leben, in der zivilen Gesellschaft wieder Fuß zu fassen. Zwar wurden Scharfschützinnen oder Bomberpilotinnen zu Propagandazwecken als Heldinnen gefeiert, doch die gemeine Soldatin zog es vor, den Fronteinsatz zu verschwiegen, um überhaupt wieder ein normales Leben führen zu können - was in der Regel bedeutete, zu heiraten und eine Familie zu gründen. "Ich war Scharfschützin. Siebenundvierzig tote Faschisten gehen auf mein Konto. Nach dem Krieg hab' ich meinen Invalidenausweis zerrissen. Wer hätte mich denn sonst zur Frau genommen? Hab' meine Verwundung versteckt. Dann geheiratet." Selbst ehemalige Kampfgefährten distanzierten sich, nur wenige Liebesbeziehungen, die während des Krieges eingegangen wurden, hatten Bestand. Selbst heute noch ziehen viele weibliche Veteranen es vor, Gedenktage privat im kleinen Kreis der Freundinnen und ehemaligen Mitkämpferinnen zu feiern.
Die authentische Geschichte der Frauen in der Roten Armee lässt sich durch Einzelschicksale anhand von Interviews oder Memoiren nachvollziehen, die Aussagen der ehemaligen Rotarmistinnen sind besonders aufschlussreich und interessant.
Die Ausstellung und der zugehörige Katalog stellen diese Einzelschicksale in einen größeren Zusammenhang und ermöglichen somit vielschichtige Einblicke. Weder das Tabuthema sexualisierte Gewalt noch so profane Alltäglichkeiten wie hygienische Bedingungen oder Wäsche und Kleidung für weibliche Soldaten werden ausgelassen. Das Menstruieren während eines Gefechts konnte mehr als lästig sein, genau so stellte auch das Ausbleiben der Menstruation eine Belastung dar. Viele Frauen gingen Beziehungen zu männlichen Soldaten ein, um sich vor Übergriffen und Vergewaltigungen durch andere Soldaten zu schützen.
Ein Highlight des Kataloges ist sicher der Text von Swetlana Alexijewitsch. Während sie an ihrem Buch "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" arbeitete, führte sie Tagebuch. Jetzt gewährt sie Einblick in die Eingriffe des Zensors; noch mutiger und aussagekräftiger sind allerdings die Stellen, die sie selbst vor 20 Jahren den LeserInnen vorenthielt. Da geht es z.B. um die Tante, die erst ihre Tochter umbringt, weil sie deren Bitte nach Brot nicht erfüllen kann, und sich selbst dann das Leben nimmt, oder um den Bruder, der zusammen mit Partisanen ins Dorf kommt und grundlos den Müller ermordet.
Ein weiterer Pluspunkt der Ausstellung ist die Auseinandersetzung mit dem Bild der Rotarmistin in der deutschen Wahrnehmung und Geschichtsschreibung. Bis heute gibt es in der deutschen Erinnerung das Bild des fanatischen, hinterlistigen und grausamen "Flintenweibes". In der nationalsozialistischen Wahrnehmung wurde der gleichberechtigte Kampf von Männern und Frauen an der Waffe als Beleg für die Entartung der sowjetischen Gesellschaft gesehen. Dies blieb nicht ohne schwerste Konsequenzen für die Frauen der Roten Armee, die den deutschen Soldaten in die Hände fielen. In sowjetischer Kriegsgefangenschaft berichtet ein Soldat über einen Befehl seines Kompaniechefs, möglichst wenige Gefangene zu machen: "Stets zu erschießen" seien "Frauen, die in den Einheiten der Armee dienen". Rotarmistinnen wurden entweder sofort erschossen oder dem SD überstellt. Das bedeutete ebenfalls die sofortige Hinrichtung oder die Überstellung in ein KZ, z.B. in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Dort setzen die Soldatinnen der Roten Armee durch, dass sie wie die männlichen Kriegsgefangenen den Winkel "SU" trugen und nicht als Zivilgefangene galten.
Privates Gedenken im kleinen Kreis
Warum sich nicht nur Männer schwer tun zu akzeptieren, dass Frauen bewaffnet kämpften und kämpfen, ist ein weiteres Thema, über das sich nachzudenken lohnt. Noch interessanter erscheint die Frage, was die Integration von weiblichen Soldaten in Armeen für das gesellschaftliche Geschlechterverhältnis bedeutet. Die Frauen in der Roten Armee gewannen sicherlich an Selbstbewusstsein, ihr Platz in der zivilen Gesellschaft, das Bild der Frau, ihre Aufgaben und Möglichkeiten, änderten sich aber kaum. Und der Preis war hoch: Viele Soldatinnen starben oder kehrten physisch und psychisch versehrt aus dem Krieg zurück. Insofern lässt sich der Ausstellungskatalog auch als Plädoyer gegen Krieg lesen.
Raphaela Kula
Mascha, Nina und Katjuscha - Frauen in der Roten Armee - 1941-1945, Ch. Links Verlag, 2002, 206 Seiten, 19,80 EUR