Verarmung auf breiter Front
Hartz IV beraubt nicht nur Erwerbslose
Der 1. Januar 2005 wird zum großen Verfallstag für soziale Leistungen. Mit dem neuen Alg II will sich der Bund u.a. auch von den Kosten der Massenerwerbslosigkeit befreien. Das Manöver geht zu Lasten der Erwerbslosen und der politischen Handlungsspielräume der Kommunen.
Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe entfällt eine Leistung, die seit Anfang der 1990er Jahre bei ständig wachsender Massenarbeitslosigkeit immer wichtiger geworden war. Von durchschnittlich 759.187 im Jahr 1993 wuchs die Zahl der Personen mit Alhi-Bezug auf zuletzt 2.034.062. (vgl. Tabelle 1) Zugleich stieg der Anteil der Alhi-Beziehenden von 28,7% auf knapp 50%. Da die Alhi überwiegend aus Steuermitteln des Bundes finanziert wird, wuchs somit auch die vom Bund getragene Last der Massenarbeitslosigkeit. Für den Bund geht es folglich auch darum, sich dieser Last mehr und mehr zu entledigen: Schon durch die Senkung der Krankenkassenbeiträge für Alhi-Beziehende wurden dreistellige Millionenbeträge auf die Beitragszahler abgeschoben, und die geringeren Rentenbeiträge bei der Alhi entlasten den Bundeshaushalt auf Kosten einer verschärften Altersarmut und einer reduzierten Altersgrundsicherung.
Die Abschaffung der Alhi wird nun zusätzlich den Kommunen gewaltige Kosten aufbürden. Allein in der Ruhrgebietsstadt Herne werden die Mehrausgaben zwischen 6,5 und 10,5 Mio. Euro jährlich betragen. Auch in Oldenburg rechnet die Stadtverwaltung für 2005 mit 1,5 Mio. Euro Mehrausgaben. (Nord-West-Zeitung, 16.2.04) Entgegen der Regierungspropaganda, wonach die "Zusammenlegung von Alhi und Sozialhilfe" Kommunen entlasten soll, werden die Kommunen nun in erheblichem Umfang zu Trägern und Finanziers der Leistungen der "Grundsicherung für Arbeitssuchende".
Die Bundesagentur trägt
- die Regelleistung (RL) des Alg II für Lebensunterhalt, Bekleidung, Wohnungseinrichtung, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (345 bzw. 331 Euro - West/Ost) bzw. die anteiligen Beträge für Haushaltsangehörige und Kinder
- Mehrbedarfe für werdende Mütter (17% der RL), Allein Erziehende (36% der RL bis drei Kinder, 12% mehr ab 4. Kind, höchstens 60%) sowie für erwerbsfähige Behinderte (35% der RL) sowie für kostenaufwendige Ernährung auf Grund von Krankheit
- Leistungen zur beruflichen Förderung; das, was heute beim Arbeitsamt bekannt ist (ABM, Lohnkostenzuschuss, Bewerbungskosten, Trainingsmaßnahmen, berufliche Bildung, "Ich-AG" usw.) gilt in Zukunft nur noch als "kann"-Leistung
- das "Einstiegsgeld" (ein für eine gewisse Zeit gezahlter Zuschlag zur Regelleistung, wenn ein Niedriglohnjob angenommen wird).
Die Kommune hingegen trägt die Kosten für
- "angemessene" Unterkunft und Heizung, die regional unterschiedlich pauschaliert werden können
- die Erstausstattung der Wohnung (einschließlich Hausrat) sowie die Erstausstattung mit Bekleidung (auch für Schwangerschaft und Geburt), die auch pauschal oder als Sachleistung erbracht werden können
- mehrtägige Klassenfahrten.
Die Kommune kann (muss aber nicht) Kosten für weitere Leistungen zur Eingliederung in das Erwerbsleben tragen wie
- Betreuung minderjähriger oder behinderter Kinder oder häuslich gepflegter Angehöriger
- Schuldner-, psychosoziale oder Suchtberatung
- darlehensweise Mietschuldenübernahme, wenn bei drohender Wohnungslosigkeit eine konkrete Arbeitsaufnahme verhindert würde
- Mietschuldenübernahme per Zuschuss oder Darlehen zur Sicherung der Unterkunft.
Werden Einkommen oder Vermögen (1) der "Hilfebedürftigen" (das sind alle im Haushalt lebenden Personen, auch die/der ggf. 40 Std. Arbeitende) auf die Leistungen der Grundsicherung angerechnet, mindert das zuerst die Geldleistungen der Agentur für Arbeit. Nur wenn die Anrechnung über den dem Bund zuzurechnenden Teil hinausgeht, wird auch die Kommune entlastet.
Eine Prognose des Wirtschafts- und Arbeitsministeriums (BMWA) rechnet für das Jahr 2005 mit knapp 3,1 Mio. erwerbsfähigen Arbeitssuchenden in insgesamt 2,1 Mio. Alg II-Haushalten. (2) Die Kommunen werden zwar von den Regelsatzleistungen der bisherigen erwerbsfähigen Sozialhilfebeziehenden entlastet, müssen aber in Zukunft die Unterkunftskosten der ehemaligen Alhi-Beziehenden (und von deren Haushaltsangehörigen) tragen. Die Netto-Belastung der Kommune durch das Alg II ist am größten, wenn nur wenige "ihrer" SozialhilfebezieherInnen ins Alg II wechseln, sie aber vielen ehemaligen Alhi-BezieherInnen die Unterkunft zahlen muss. Dies trifft v.a. die neuen Bundesländer.
Umverteilung
zu Lasten der Kommunen
Die Agenturen für Arbeit können die Kosten für die Regelleistung des Alg II durch provozierte Sperrzeiten ("Verfolgungsbetreuung") senken. Den Kommunen bleibt als Mittel zur Kostensenkung lediglich der Weg, die Kostenübernahme für Unterkunft und Heizung zu drosseln. Aus Sachsen wurde z.B. von der Forderung von Kommunen berichtet, für das Alg II eine Unterkunftspauschale von 50 Euro festzusetzen. Absehbar sind Mietschulden, Obdachlosigkeit, Billigst- und Elendsquartiere, Armenvertreibung usw.
Die Kommune kann sich entscheiden (bei Zustimmungspflicht der obersten Landesbehörden), die Grundsicherung für Arbeitssuchende ganz zu tragen. Bis zum April 2004 sollen nähere Einzelheiten in einem eigenen Bundesgesetz geregelt werden; das betrifft auch die Regelung von Pauschalen für Bedarfsgemeinschaften, "aktivierende" Leistungen, Verwaltungskosten sowie die Kooperationsmöglichkeiten zwischen Kommune und Agentur oder was zu tun ist, wenn auf dem Gebiet einer Gebietskörperschaft (z.B. Landkreis) bisher zwei Arbeitsämter zuständig waren.
In dieser Debatte finden sich einige Anhaltspunkte dazu, wie "Aktivierung" von Alg II-BezieherInnen aussehen soll. Dabei wird zwischen der so genannten "Aktivierungsquote" (d.h. dem Prozentsatz der betroffenen Personengruppen) und dem durchschnittlichen Aufwand je MaßnahmeteilnehmerIn unterschieden. Auffällig ist dabei, dass die "Aktivierungsquote" bei den Jungerwachsenen zwischen 15 und 24 Jahren nur 52% betragen soll. Diese Arbeitslosen sollen laut Gesetz "unverzüglich nach Antragstellung in eine Arbeit, eine Ausbildung oder eine Arbeitsgelegenheit (vermittelt werden)." (§ 3,2 SGB II) Es ist kaum zu glauben, dass wirklich erwartet wird, dass für 48% dieser Arbeitslosen bei Meldung zum Alg II sofort eine Arbeit auf dem freien Markt gefunden wird. Vielmehr besteht der Verdacht, dass das BMWA bereits bewusst damit kalkuliert, dass Maßnahmen für diese Arbeitslosengruppe nur schikanös genug gestaltet werden müssen, um einen erheblichen "Schwund" erreichen zu können - zurück zu Eltern, in Schwarz- oder Gelegenheitsjobs. Die durchschnittlichen Maßnahmekosten je TeilnehmerIn sagten bei näherer Betrachtung viel über die spärliche Qualität der ins Auge gefassten Aktivierungsmaßnahmen aus. (vgl. Tabelle 2)
Immer noch gibt es erhebliche Verwirrungen um das neue Alg. So wird etwa in der Januar-Ausgabe der IG Metall-Zeitschrift direkt behauptet, nach Bezug von Alhi gäbe es zwei Jahre lang zusätzlich zum Alg II einen Zuschlag, der den Einkommensverlust beim Übergang von Alhi zu Alg II bis zu zwei Drittel kompensieren würde. Dies ist ganz eindeutig falsch. Das Gesetz sagt in aller Deutlichkeit, dass der befristete Zuschlag nach Ende des Arbeitslosengeldbezuges gezahlt wird, und auch dann nur bis zu einer Obergrenze von 160 Euro im ersten und 80 Euro im zweiten Jahr. Diesen Zuschlag erhält man zudem nur, wenn das Alg II/Sozialgeld unter dem vormaligen Arbeitslosengeld (Alg) zuzüglich Wohngeld liegt. Hat ein Haushalt (zwei Erwachsene + zwei Kinder) von einem Erwerbseinkommen (zzgl. Kinder- und Wohngeld) gelebt und verliert der/die Erwerbstätige seine/ihre Arbeit, so wird es beim späteren Wechsel ins Alg II den Zuschlag nicht geben, da der Alg II/Sozialgeldbetrag für vier Personen einschließlich Unterkunft das Alg zzgl. Wohngeld i.d.R. übersteigen wird.
Aktivierung
durch Verarmung
Bis Oktober 2003 hieß es noch, Erwerbslosen solle bei zusätzlichen Erwerbseinkommen ein Freibetrag in Höhe von 20% der Regelleistung (ca. 68 Euro) bzw. von mehr als 15 Cent von jedem Euro anrechnungsfrei verbleiben. Nunmehr haben die Berliner Parteien solchem "Großmut" ein Ende gemacht. Beim Alg II bleiben Erwerbstätigen bei einem Bruttolohn bis 400 Euro 15%, vom bereinigten Nettoeinkommen, 30% bei einem Einkommen von 400 bis 900 Euro und 15% bei einem Einkommen zwischen 900 und 1.500 Euro. Wer heute bei Alhi-Bezug 300 Euro dazu verdient, darf davon i.d.R. 165 Euro für sich behalten; beim neuen Alg II sind es nur 45 Euro. Wenn jetzt jemand 35 Euro durch Zeitungsaustragen dazu verdient, kann er/sie diese Summe komplett behalten. In Zukunft, bei Alg II, muss alles bis auf 5,25 Euro abgeführt werden. Ein weiteres Beispiel: Ein Brutto-Verdienst von 900 Euro entspricht ca. 703 Euro netto (bei St.-Kl. III). Von den ersten 400 Euro dieses Einkommens behält man mit Alg II-Bezug 60 Euro (15%), von den weiteren 303 Euro bleiben 90,09 Euro (30%). Insgesamt kommt man auf 150,09 Euro. Bei einem Einkommen von 1.500 Euro brutto würde der Freibetrag um gerade noch 70 Euro steigen, obwohl der Nettoverdienst um ca. 480 Euro zuzunimmt.
An dieser Freibetragsregel sind die Grundprinzipien des SGB II gut abzulesen: Ziel des Gesetzes ist es, den Umfang der Hilfebedürftigkeit zu verringern, daher wird Einkommen auf die gezahlte Leistung hart angerechnet. Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnbereich sollen gefördert werden, daher ist im Bereich bis 900 Euro brutto der vergleichsweise günstigste Einkommensfreibetrag zu finden. Und: "Man soll sich nicht in der Arbeitslosigkeit einrichten." Daher entfällt der Grundfreibetrag der heutigen Sozialhilfe bzw. der 165-Euro-Freibetrag der Alhi.
Über den Druck auf Erwerbslose bzw. deren materielle Not sollen nicht zuletzt noch bestehende Arbeitsmarktregularien gekippt werden. Dagegen hilft - so traurig das ist - auch keine Tarifautonomie. Vielmehr müssen gesellschaftliche Standards zu Einkommen und Arbeitsbedingungen durchgesetzt werden, die ihrerseits sicherstellen, dass Tarife nicht immer weiter in den Keller gedrückt werden. Auf der Tagesordnung steht ein gesetzlicher Mindestlohn in ausreichender Höhe sowie der Widerstand gegen die Deregulierung aller Lebens- und Arbeitsverhältnisse.
Guido Grüner
Eine ungekürzte Fassung dieses Artikels erscheint in der Ausgabe Februar/März 2004 der Erwerbslosenzeitung quer.
Anmerkungen:
1) Auch Kindergeld zählt zum Einkommen.
2) Lt. Unterlage aus dem BMWA, 13.02.2004, IIC 1
-20033, S. 3; im Netz:
www.arbeitnehmerkammer.de/sozialpolitik/
seiten/3_gesetze_gesetzgebung.tm