Fensterreden gegen das Böse
Die EU und der Kampf gegen den Antisemitismus
"Antisemitismus-Vorwürfe schockieren EU" - so und ähnlich lauteten Anfang des Jahres die Schlagzeilen. Namentlich EU-Kommissar Chris Patten und Kommissionspräsident Romano Prodi reagierten ungehalten auf die Kritik jüdischer Verbände. Inzwischen ist man zum Dialog zurück gekehrt. Prodi und andere EU-Spitzenkräfte haben den Schmollwinkel verlassen und tun wieder das, was sie am besten können: Reden halten gegen das Böse in der Welt.
Der Streit währte nur kurz. Zwei Tage nachdem Romano Prodi das gemeinsame Antisemitismus-Seminar der EU, des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC) und der Konferenz europäischer Rabbiner abgesagt hatte, kam der Rückzieher. Dabei mag die Intervention des Sondergesandten Israel Singer eine Rolle gespielt haben, der Prodi das "volle Vertrauen" des EJC und des Jüdischen Weltkongresses (WJC) aussprach. Vielleicht ist Prodi auch die Unglaubwürdigkeit der eigenen Position klar geworden. Denn die Absage erschien wie ein willkommener Anlass, sich einer lästigen Pflicht zu entziehen. Begründet hatte er sie mit den heftigen Vorwürfen jüdischer Repräsentanten an die EU-Kommission: "Untätigkeit kann ebenso eine Form des Antisemitismus sein wie direkte Schritte gegen Juden. Die Europäische Kommission hat beides zu verantworten." Mit diesen Sätzen hatten Edgar M. Bronfman und Cobi Benatoff, die Präsidenten von WJC bzw. EJC, ihren Gastkommentar für die Financial Times vom 2.1. 2004 eingeleitet. (Financial Times Deutschland, 5.1.)
Als "Schritt gegen Juden" werten Bronfman und Benatoff die Veröffentlichung einer Umfrage unter 7.515 EU-BürgerInnen im November vergangenen Jahres: Dabei hatten 59% aus einer Liste von 15 Staaten Israel als einen der Staaten ausgewählt, von dem eine Gefahr für den Weltfrieden ausgehe; es folgten Iran, Nordkorea und die USA mit jeweils 53%. Bronfman und Benatoff bezeichnen die Umfrage mit Recht als "fehlerhaft" und "gefährlich" - denn zweifellos wurde Israel auch von vielen angekreuzt, die den Nahen Osten insgesamt (die nicht zur Wahl stehende palästinensische Konfliktpartei eingeschlossen) als möglichen Ausgangspunkt größerer kriegerischer Auseinandersetzungen betrachten. So gesehen war sowohl die Konzeption der Meinungserhebung als auch ihre unkommentierte Veröffentlichung ein grober Fehler.
Mit Sharon
und Fini gegen MuslimInnen
Einen Akt der Zensur sehen Bronfman und Benatoff dagegen in der Entscheidung der EU-Kommission, die von ihr selbst in Auftrag gegebene Studie zum Antisemitismus in der EU nicht zu veröffentlichen. (vgl. ak 480) Obwohl diese Studie problematische Aussagen und falsche Pauschalisierungen enthält - insbesondere über die Tätergruppe "junge Muslime" bietet sie doch eine nützliche Materialsammlung, die als Diskussionsgrundlage durchaus geeignet ist. Mit dem Versuch, die Studie zu unterdrücken, hat die EU-Kommission - genauer: die ihr angegliederte Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) - ein Eigentor geschossen. Ob man ihr deshalb "mangelnden Willen und Anstand" sowie "intellektuelle Unaufrichtigkeit und moralischen Betrug" vorwerfen muss, ist Ansichtssache. Bronfman und Benatoff, die noch Anfang Januar solch starke Worte für geboten hielten, ruderten schon wenige Wochen später zurück: In einem weiteren Gastkommentar für die Financial Times (FTD, 19.2.) betonten sie nun das "lobenswerte Engagement" der EU-Kommission, eine Konferenz über Antisemitismus abzuhalten.
Wie nicht anders zu erwarten, bot die Konferenz, die am 19. Februar in Brüssel stattfand, vor allem diversen Spitzenpolitikern eine Bühne, auf der sie sich mit wohlfeilen Bekenntnissen profilieren konnten. Allen voran Joschka Fischer gab einmal mehr den wackeren Kämpfer gegen den Antisemitismus. Gleichzeitig suchte er die israelische Regierung zu beruhigen: Er sei keineswegs gegen die Mauer im Westjordanland, solange diese nicht auf palästinensischem Gebiet errichtet werde. Romano Prodi seinerseits stellte mehrere konkrete Initiativen der EU zur Bekämpfung des Antisemitismus in Aussicht: Sondertreffen der EU-Justiz- und Bildungsminister; einen Vorschlag für eine UNO-Resolution zur Verurteilung des Antisemitismus; eine neue Studie über antisemitische Tendenzen in Europa. Ansonsten produzierte er einen Schwall schöner Worte, um die alltägliche Praxis des europäischen Rassismus zu vernebeln: "Der Respekt für die Menschenrechte, die Minderheiten und die Menschenwürde ist eines der Grundprinzipien der EU; deshalb sind Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus eine offene Verletzung all dessen, was die Union verkörpert." (Il Manifesto, 20.2.)
Bronfman und Benatoff dürften damit zufrieden sein. Dass sie ganz auf staatliche Maßnahmen setzen, wurde schon in ihrem zweiten Gastkommentar deutlich. Darin lobten sie ausdrücklich die "wichtigen Schritte" der Herren Chirac und Berlusconi: "Sie haben Gremien gebildet, in denen Kabinettsmitglieder die Gefahr des Antisemitismus bewerten sowie Maßnahmen zur Bekämpfung empfehlen sollen." (FTD, 19.2.) Für Italien drängt sich Vizepremier Gianfranco Fini als Verantwortlicher auf. Ein Schönheitsfehler ist allerdings, dass er nach seinem von demokratischem Gesäusel geprägten Besuch in Israel (vgl. ak 479) die Maske des Geläuterten schnell wieder fallen ließ; auf dem kleinen Parteitag seiner neofaschistischen Alleanza Nazionale Anfang Januar erinnerte er an die faschistischen "Märtyrer" der 1970er Jahre und beteiligte sich demonstrativ an den Ovationen für den rechten Hardliner Mirko Tremaglia, der die Verteidiger von Mussolinis Sozialrepublik der Jahre 1943 bis 1945 als "Patrioten" würdigte. (Il Manifesto, 11.1.) Auch Umberto Bossi von der Lega Nord könnte über antisemitische Tendenzen in Italien wachen; wenn er auch früher durch judenfeindliche Tiraden auffiel, so gilt seine Sorge heute vor allem der "Überfremdung" durch die Einwanderung von MuslimInnen - das freut nicht nur Stoiber und Merkel, sondern auch Ariel Sharon, der schon die derzeitige "riesige Zahl von 17 Millionen Muslimen in der EU" als Gefahr "für das Leben der Juden" ansieht. (FTD, 24.11.2003)
Abstumpfender Alarmismus
Weniger drastisch, aber tendenziell ebenfalls grobschlächtig äußerte sich auf der Brüsseler Konferenz der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel, der drei Gruppen für den europäischen Antisemitismus verantwortlich macht: "Wir haben die rechtsradikalen Antisemiten, wir haben die linken Israel-Gegner, die ihre Kritik überziehen und dadurch antisemitisch wirken, und wir haben die breite Masse der Muslime." (taz, 20.2., Hervorhebung ak) Wenn Wiesel an anderer Stelle das Seminar mit den Worten charakterisierte, "dass ja alle dasselbe redeten", dann beweist das, dass eine differenzierte Auseinandersetzung mit den in der EUMC-Studie aufgeworfenen Fragen nicht stattgefunden hat.
Aber von einem Seminar, auf dem europäische Spitzenpolitiker den Ton angeben, ist das wohl auch nicht zu erwarten. Dass sich die richtigen Fragen zumindest stellen und diskutieren (wenn auch nicht abschließend beantworten) lassen, beweist die von der Heinrich-Böll-Stiftung organisierte Konferenz "Antisemitismus heute - Europäische Debatten im Vergleich", die Ende Januar in Berlin stattfand. Deren Ergebnisse werden erst im Herbst allgemein zugänglich sein. Aber auch ohne genauere Analyse der dort ausgetauschten Argumente (die in einer späteren ak-Ausgabe nachgeholt werden soll) zeigt der Vergleich mit dem Event von Brüssel, dass die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und die Erarbeitung von Vorschlägen zu seiner Bekämpfung nicht an staatliche Institutionen delegiert werden kann. Diese sind damit keineswegs aus der Verantwortung entlassen. Staaten und Staatenbünde wie die EU müssen Studien und Bildungsprogramme finanzieren, und zum Schutz von Juden und jüdischen Einrichtungen wie zur Bekämpfung von Antisemiten werden bis auf weiteres auch Polizei und Justiz unverzichtbar sein.
Die radikale Linke in Deutschland hat bisher wenig zur Bekämpfung des Antisemitismus beigetragen. Verbale Kraftmeiereien ersetzen keine Analyse, sondern tragen auf die Dauer eher zur Abstumpfung bei. Zeitungen wie die verfeindeten Schwestern junge Welt und Jungle World bieten nicht einmal ein Minimum an Informationen. So begnügte sich die junge Welt mit einem Kurztext zur Berliner Konferenz mit der dpa-würdigen Überschrift "Fischer kritisierte ,Antisemitismus der Mitte`" (jW, 31.1.), während sie das Brüsseler Seminar schweigend überging; die Jungle World dagegen fand beide Konferenzen nicht weiter erwähnenswert und referierte lieber die Thesen von Bronfmann und Benatoff. (Jungle World, 14.1.) Wo "der Kampf gegen Antisemitismus immer mehr zum Objekt von Hegemoniekämpfen innerhalb der Linken zu werden droht" (Editorial der iz3w, November/Dezember 2003), scheint die Kenntnis von Fakten und Argumenten entbehrlich.
Dabei sind viele Fragen nach wie vor offen: Gibt es einen "neuen Antisemitismus" in Europa? Was ist daran wirklich neu? Hält die in der EUMC-Studie dokumentierte Welle antisemitischer Vorfälle vom Frühling 2002 bis heute an? Wird sie noch stärker? Wer sind die Täter? In wieweit stimmt Werner Bergmanns Behauptung, in Deutschland "erodiere die Tabuisierung des Antisemitismus"? In welchem Verhältnis stehen Antisemitismus und Antiislamismus bzw. Antisemitismus und Antiamerikanismus? Wer sind die Träger des muslimischen Antisemitismus in Deutschland und in anderen europäischen Ländern? Gibt es "no-go-areas" für Jüdinnen und Juden in Deutschland? Wie unterscheiden sich Antisemitismus und Antizionismus? Das alles sind keine Fragen von lediglich akademischem Interesse, sondern für die potenziellen Opfer von größter, im Extremfall lebenswichtiger Bedeutung: "Wenn wir nicht verstehen, warum wir angegriffen werden, werden wir uns nicht gut verteidigen können", sagte der Oxforder Philosophie-Professor Brian Klug in Berlin. (taz, 31.1.2004)
Wettstreit der HeuchlerInnen
Aber nicht nur Blindheit gegenüber der realen Bedrohung, auch Alarmismus macht auf die Dauer wehrlos. Micha Brumlik hat hier in einem Diskussionsbeitrag für die Frankfurter Rundschau vom 18.2. die Relationen zurechtgerückt. Seiner Einschätzung nach gibt es keine signifikanten Unterschiede, was die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Westeuropa und in den USA betrifft. Die Behauptung des US-Botschafters bei der EU, Rockwell Schnabel, in Europa sei der Judenhass ähnlich verbreitet wie in den 1930er Jahren, weist er als "verantwortungsloses Gerede" zurück. Gleichzeitig hebt er die Gefährlichkeit des radikalen Islamismus hervor und veranschaulicht sie an der Forderung des inzwischen zurückgetretenen malaysischen Premiers Mohammed Mahatir im Oktober vergangenen Jahres, nicht mit Selbstmordattentaten, sondern mit Bomben und Raketen gegen die Juden zu kämpfen. Brumliks Beitrag endet mit dem Satz: "So wäre schon viel gewonnen, wenn man die radikalislamistische Bedrohung hier zu Lande endlich ernst nehmen würde, statt sie mit modernisierungs- und immigrationssoziologischen Floskeln zu verdrängen."
Worüber zu diskutieren wäre. Die staatstragenden Parteien in Deutschland bereiten statt dessen ihren nächsten Auftritt vor. Ende April wird in Berlin die OSZE-Antisemitismus-Konferenz stattfinden, eine weitere Gelegenheit für die RepräsentantInnen der Berliner Republik, sich als MusterschülerInnen zu präsentieren. Richtschnur ist hier der im Dezember vergangenen Jahres von allen Bundestagsfraktionen eingebrachte Antrag "Antisemitismus bekämpfen". (Bundestagsdrucksache 15/2164) Der Text, formuliert als Reaktion auf die Hohmann-Affäre (vgl. ak 478), ist ein Dokument der Heuchelei. "Die Erinnerung an das Geschehene (die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden; Anm. ak) ist Teil unserer nationalen Identität", heißt es da, und weiter: "...wer ,die Juden` sprachlich ausbürgert, indem er sie ,den Deutschen` gegenüberstellt und sie damit zu Fremden im eigenen Land macht, wer die Ermordung der europäischen Juden relativiert, steht außerhalb der demokratischen Wertegemeinschaft." Wörtlich genommen, wäre das die Ankündigung einer Kampagne gegen wesentliche Teile der bundesdeutschen "Eliten", massenhafte Parteiausschlüsse eingeschlossen. Schade eigentlich, dass das alles nicht so gemeint ist.
Js.