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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 482 / 19.3.2004

Frühbucherrabatt wurde nicht wirksam

Nach Aristides überstürztem Rücktritt ist Haitis Zukunft ungewiss

"Nicht für ein, nicht für zwei, nicht für drei, nicht für vier, sondern für fünf Jahre" sei er gewählt worden, skandierte Jean- Bertrand Aristide mit lautstarker Unterstützung seiner Anhänger in der Rede zum haitianischen Unabhängigkeitstag am 1. Januar 2004 in Gonaives, der Stadt im Nordwesten des Landes, in der vor 200 Jahren die Unabhängigkeit ausgerufen worden war. Nachdem nun die Proteste von Oppositionsgruppen gegen den haitianischen Präsidenten immer lauter wurden, bewaffnete Rebellen den Norden unter ihre Kontrolle brachten und sich der Hauptstadt Port-au-Prince näherten und schließlich auch Frankreich und die USA seine Demission forderten, verließ Aristide am 29. Februar das Land, um ins Exil zu gehen. Überraschend war dies umso mehr, als dieser bis zuletzt verlautbart hatte, seine Amtszeit bis zu ihrem regulären Ende am 7. Februar 2006 ausüben zu wollen.

Es ist nun nach 1991 bereits das zweite Mal, dass Aristide den Gang ins politische Exil antreten muss. Als der ehemalige Salesianerpriester und Befreiungstheologe in den ersten freien und demokratischen Wahlen auf Haiti 1990 mit überwältigenden 67% gewählt wurde, war er der große Hoffnungsträger der Armen des Landes. Als ärmstes Land Lateinamerikas, in dem 85% der Bevölkerung mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen müssen, schien Aristide für einen politischen Neuanfang zu stehen - jenseits neoliberaler Wirtschaftspolitik und jahrzehntelanger Diktatur der Duvaliers. Letztere hatten, zuerst der Vater, François, und nach dessen Tod der Sohn, Jean-Claude, Haiti von 1957 bis 1986 mit enormer Brutalität regiert, bis schließlich ein Volksaufstand der Diktatur ein Ende machte.

Aristide war nach seiner Wahl am 16.12.1990 freilich nicht viel Zeit beschieden, seine Amtsgeschäfte auszuführen, denn schon sieben Monate später putschte Brigadegeneral Raoul Cédras und installierte eine Militärdiktatur, so dass Aristide gezwungen war, ins Exil in die USA zu gehen. Die Todesschwadrone von Cédras mit dem zynischen Namen FRAPH (Front révolutionnaires pour l'avancement et le progrès haitien) entfalteten einen unerbittlichen Terror gegen die Bevölkerung, dem nach Angaben der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mehr als 1.500 Menschen zum Opfer fielen. Heute ist bekannt, dass der CIA den Anführer der FRAPH, Emmanuel Constant, auf seiner Gehaltsliste führte, wie inzwischen sogar der damalige US-Außenminister Warren Christopher widerwillig eingestehen musste.

Hoffnungsträger der Armen

1994 billigte der UN-Sicherheitsrat eine militärische Intervention auf Haiti, um die Militärjunta abzusetzen und Aristide wieder als Präsidenten zu installieren. Begeistert wurde dieser von den Massen empfangen, doch der Preis für die Wiedereinsetzung durch die USA war der Verzicht auf die Umsetzung seiner radikalen sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Stattdessen sollte Haiti die altbekannten neoliberalen Strukturanpassungsprogramme durchführen, wie beispielsweise die (Teil-)Privatisierung von Staatsbetrieben und des Telekommunikationssektors sowie die Öffnung des haitianischen Marktes für Importprodukte durch die Senkung von Einfuhrzöllen. Letzteres bewirkte, dass beispielsweise die stark subventionierte US-Landwirtschaft Haiti mit Reisimporten überflutete, mit denen die einheimischen Bauern nicht konkurrieren konnten.

Als Reaktion auf den gegen ihn geführten Militärputsch löste Aristide 1995 die Armee auf, so dass Haiti fortan nur noch über eine kleine, schlecht ausgerüstete Polizeitruppe von 5.000 Mann verfügt. An Stelle des Militärs setzt Aristide auf ihm treu ergebene Gruppen bewaffneter Anhänger, die "Chimères", die im Laufe der Zeit zu seinen persönlichen Schlägertrupps verkamen und Oppositionelle einschüchterten und angriffen. Die Sympathie, die Aristide in weiten Teilen der Bevölkerung genoss, wurde dadurch zunächst jedoch noch nicht nachhaltig erschüttert.

Da die haitianische Verfassung keine konsekutiven Amtsperioden erlaubt, trat am 7. Februar 1996 René Préval, früherer Ministerpräsident in Aristides Regierung, dessen Nachfolge als Präsident an.

Ausgangspunkt der schweren Krise auf Haiti waren die Parlamentswahlen im Jahr 2000. Aristides Partei Lavalas (Erdrutsch) siegte, und die Opposition verlor fast alle ihre Sitze. Die Wahlen wiesen allerdings - wenn auch nur in geringem Umfang - Anzeichen von Manipulation auf, so dass die Opposition das Ergebnis nicht anerkannte. Die Präsidentschaftswahlen, aus denen Aristide als Sieger hervorging, boykottierte sie völlig. Daraufhin froren USA, IWF und Weltbank ihre finanzielle Unterstützung für Haiti in Höhe von 500 Mio. US-Dollar ein und drängten die Regierung auf eine Einigung mit der Opposition. Diese verwies jedoch auf die Wahlfälschung und verlangte die Demission des Präsidenten.

Allerdings ist die politische Opposition alles andere als homogen und kommt über die Forderung nach Aristides Rücktritt hinaus auf keinen gemeinsamen Nenner. Das in der sogenannten "Gruppe der 184" versammelte Spektrum reicht von Feministinnen über SozialdemokratInnen und UnternehmerInnen bis hin zu ehemaligen DuvalieranhängerInnen und steht damit nicht zwangsläufig für progressive Inhalte. Insofern trifft der in einigen linken Publikationen nachzulesende Vorwurf, bei der Opposition handele es sich um konterrevolutionäre Gruppierungen, die von den USA gesponsort würden, in seiner Allgemeinheit zwar nicht zu, aber er ist auch nicht vollkommen aus der Luft gegriffen. So erhielt beispielsweise die Gruppierung Demokratische Konvergenz, die der Opposition angehört, von der den Republikanern in den USA nahe stehenden National Endowment for Democracy Zuwendungen in Millionenhöhe. Dieser Umstand bedeutet jedoch nicht, dass alle Aristidegegner per se neoliberale Reaktionäre sind.

Obwohl Aristide sich nach wie vor in radikaler Rhetorik erging, erwies er sich immer mehr als autoritärer Staatsführer, dem vor allem an der Sicherung seiner Pfründe gelegen zu sein schien. Korruptionsvorwürfe gegen ihn häuften sich, und Aristide verstand es, seine Freunde und Untergebenen in lukrativen Positionen unterzubringen. Kritik wurde insbesondere an der Privatisierung der staatlichen TELECO laut: Pikanterweise ist Aristides Frau an einem privaten Telekommunikationsunternehmen beteiligt. Angesichts dieses Wandels des Präsidenten vom Armenpriester zum korrupten Autokraten nimmt es nicht Wunder, dass sich viele seiner ehemaligen AnhängerInnen und SympathisantInnen von ihm abwandten.

Trotz der Einschüchterungsversuche von Seiten der Chimères tragen Aristidegegner ihren Protest auf die Straße. Die letzten Wochen des Jahres 2003 verliefen politisch außerordentlich turbulent: Nachdem eine Vollversammlung der sozialwissenschaftlichen Fakultät von Aristideanhängern brutal angegriffen wurde und sich auch Übergriffe auf Protestdemonstrationen häuften, traten am 5. Dezember drei Minister aus Aristides Kabinett zurück.

Bis zu den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Unabhängigkeit Haitis am 1. Januar 2004 (1) hatten auch die bewaffneten Proteste ein solches Ausmaß ereicht, dass Aristide aus der Stadt Gonaives im Nordwesten des Landes vorzeitig wieder in die Hauptstadt Port-au-Prince zurückkehren mußte. Schon zu diesem Zeitpunkt galt Gonaives als Hochburg des bewaffneten Widerstands gegen Aristide. Seitdem man im September 2003 den Chef der sogenannten "Kannibalenarmee", Amiot Métayer, erschossen aufgefunden hatte, erhob dessen Bruder Butteur den Vorwurf, Aristide sei dafür verantwortlich. War die Gruppe vormals nach eigenen Bekundungen Aristide ergeben und gezielt dazu eingesetzt worden, Oppositionelle anzugreifen und einzuschüchtern, so nannte sie sich nun um in Front de Résistance Révolutionnaire de l'Artibonite und wechselte auf die Seite der AristidegegnerInnen. Am 5. Februar kontrollierten die Rebellen nach blutigen Auseinandersetzungen mit der Polizei Gonaives vollständig. Die haitianische Regierung war schnell dabei, die Gewalttaten der Rebellen zu verurteilen, ohne allerdings ein Wort darüber zu verlieren, dass diese noch wenige Wochen zuvor die Schmutzarbeit für Aristide erledigt hatten.

Vom Salesianerpriester zum Autokraten

Nach der Eroberung der Stadt konnte die Rebellenarmee ihren Einflussbereich im Norden des Landes stetig ausweiten. Zulauf und Unterstützung erhielten die Aufständischen von ehemaligen haitianischen Militärs, die aus der Dominikanischen Republik zu ihnen stießen. Darunter befanden sich einige sehr zwielichtige Gestalten: Guy Philippe, der die militärischen Operationen der Rebellen befehligte, war Anfang der 1990er Polizeichef auf Haiti gewesen. Während der Cédras-Diktatur ging er ins Exil nach Ecuador, wo er von US-amerikanischen Spezialkräften ausgebildet wurde. Als er nach Haiti zurückkehrte, wurde ihm von der haitianischen Regierung vorgeworfen, an Angriffen auf Polizeistationen und an einem Putschversuch im Jahre 2001 maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Eine andere wichtige Figur in der Rebellenarmee ist Louis Jodel Chamblain, der in der Zeit von 1991 bis 1994 eine Führungspersönlichkeit der Todesschwadrone FRAPH war. Chamblain wurde später auf Haiti in absentia zu einer hohen Haftstrafe wegen Mordes und eklatanter Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Die Tatsache, dass die Rebellenarmee sich teilweise aus solchen Gestalten zusammensetzt, die man beim bestem Willen nicht als Garanten für ein fortschrittlicheres Haiti ansehen kann, erleichterte es Aristides Regierung, die Diskreditierung der gesamten politischen Opposition zu betreiben.

Als Ende Februar praktisch der gesamte Norden des Landes in der Hand der Rebellen war und die verschiedenen Vermittlungsversuche der Gemeinschaft Karibischer Staaten (CARICOM) und anderer Länder gescheitert waren, forderten schließlich erst Frankreich, dann die USA Aristides Demission. Am Sonntag, den 29. Februar, verließ er Haiti schließlich in aller Frühe. Das Zustandekommen seiner überstürzten Ausreise ist nach wie vor noch nicht genau geklärt. Aristide selbst sprach auf CNN davon, von US-Militärs quasi entführt worden zu sein, was Regierungssprecher der USA umgehend dementierten.

Überstürzte Ausreise

Der Interimspräsident ist nun laut haitianischer Verfassung der Vorsitzende Richter des obersten Gerichtshofes, Boniface Alexandre. Eine Woche nach Aristides Rücktritt lässt sich noch schwer abschätzen, wie die weitere politische Entwicklung Haitis aussehen wird. Vorgesehen ist eine "Regierung der nationalen Einheit", die sich aus der ehemaligen Regierungspartei Lavalas sowie den Oppositionsparteien zusammensetzen soll. Nach den blutigen letzten Wochen, die mehr als hundert Menschenleben gefordert haben, scheinen nun die größeren Kämpfe beendet zu sein, und die Rebellen haben angekündigt, ihre Waffen abgeben zu wollen. Wenngleich es immer noch zu Plünderungen kommt und die Lage sich noch nicht vollständig stabilisiert hat, scheinen zumindest die Gewaltexzesse beendet zu sein.

Dass Aristide weg ist, wird von einem Großteil der Bevölkerung begrüßt und als Fortschritt angesehen. Wie die heterogene Opposition jetzt, da ihre Hauptforderung erfüllt ist, weiter politisch agieren wird, ist alles andere als klar. Eine starke linke Partei gibt es auf Haiti bislang nicht. Auch die militärische Präsenz der USA und Frankreichs auf Haiti legt die Vermutung nahe, dass diese ein nicht unerhebliches Gewicht bei der politischen und wirtschaftlichen Gestaltung des Landes einnehmen werden. Doch noch sind auch die Anhänger Aristides, die Chimères, nicht entwaffnet. Dass sie sich noch einmal als politischer Faktor zurückmelden werden, ist ebenfalls nicht auszuschließen.

Philipp Dorestal

Anmerkung:

1) Der 1. Januar 2004 markierte den 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Haitis von seiner ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Haiti hatte 1804 den Sklavenaufstand gegen die Truppen Napoleons mit der Proklamation seiner Unabhängigkeit siegreich beendet und war damit die erste "schwarze Republik" in der Geschichte geworden.