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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 483 / 23.4.2004

Der folgende Text von Karl Heinz Roth basiert auf einer Rede, die er am 20. Februar anlässlich der Aktionskonferenz des Bremer Sozialplenums gehalten hat. Aus Platzgründen haben wir diesen Text in ak 481 nur gekürzt abgedruckt, hier liegt er jetzt vollständig vor. ak ist sehr an einer breiten Debatte über diesen Text interessiert und räumt schriftlichen Diskussionsbeiträgen in den nächsten Ausgaben entsprechend Platz ein.

 

Karl Heinz Roth

 

Der Sozialkahlschlag: Perspektiven von oben – Gegenperspektiven von unten

 

 

Der aktuelle Umbruch in Deutschland

 

Seit der berüchtigten „Agenda 2010“ der SPD-grünen-Regierung wird auch in Deutschland der Sozialstaat unwiderruflich geschleift. In allen seinen Funktionsbereichen findet eine pausenlos zugreifende und arbeitsteilig abgestimmte Demontage statt. Der Sozialkahlschlag konzentriert sich auf die Arbeitsmärkte, das Gesundheitswesen, den Bildungssektor, die Altersrenten und die Migrationspolitik.

 

Durch die so genannten Hartz-Reformen (Deregulierungspaket I – IV der Hartz-Kommission der Bundesregierung) ist auf den Arbeitsmärkten ein qualitativer Sprung eingeleitet worden, der weit reichende Folgen haben wird. Die auf abhängige Erwerbsarbeit Angewiesenen werden weitgehend entrechtet. Die Sozialfonds für Erwerblose werden auf ein Minimum zusammengestrichen. Der Bezug der bisherigen Arbeitslosenhilfe wird auf das Niveau der Sozialhilfe zurückgeführt und mit dieser gleichgesetzt, und auf diese Weise nimmt das seit längerem verfolgte Projekt der Arbeitserzwingung konkrete Gestalt an. Das Ergebnis ist die massive Ausweitung des Sektors ungeschützter Arbeitsverhältnisse, die schon jetzt mehr als die Hälfte des gesamten Arbeitsvolumens ausmachen, und die endgültige Abkehr vom Modell der „Kernbelegschaften“. Auch in Deutschland hält die Arbeitsarmut Einzug. Auf die weitgehende Auflösung der Sozialfonds für Erwerbslose folgt die breite Einführung eines Niedriglohnsektors.

 

Das Gesundheitswesen wird auf allen Strukturebenen um ein Drittel demontiert und zugleich verteuert. Die Kranken sind seit Jahresbeginn mit  weiteren Gebührensteigerungen konfrontiert, die auf mehreren Ebenen greifen. Auf diese Weise wird  in allen Strukturbereichen die Privatisierung vorangetrieben. Die Versicherungs- und Pharmakonzerne übernehmen die Regie und unterwerfen das Gut Gesundheit einer an der Rendite orientierten Rationierung.

 

Auch im Bildungssektor werden drastische Abbaumaßnahmen vorangetrieben. Parallel dazu werden vor allem finanziell greifende Zugangshürden errichtet. Die pluralistisch-demokratischen Strukturreste in Ausbildung und Forschung sind Makulatur geworden und werden auch hier von den Berufsschulen bis zu den Universitäten einer rasch um sich greifenden Privatisierungsoffensive geopfert. Unter dem zunehmenden Anpassungs- und Selektionsdruck wächst die Bereitschaft vieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ihre Denk- und Forschungsstrukturen der Scheinlogik der Märkte zu unterwerfen. Die Gefahr wächst, dass die in Jahrhunderten gewachsenen Fähigkeiten zur kritischen Systemreflexion über die Geschichte und Perspektiven der Gesellschaft beseitigt werden.

 

Inzwischen werden auch die Bezieher von Altersrenten in den Strudel der Sozialdemontage hineingezogen. Durch hinterhältige Eingriffe in die Leistungskataloge werden die Anwartschaftszeiten fortschreitend verlängert, die Anrechnungszeiten für die Berufsausbildung vollends gestrichen  und die Zahlungen schrittweise auf unter 50 Prozent des vorher erzielten Arbeitseinkommens gedrückt. Auch aus diesem besonders sensiblen Kernbereich verabschiedet sich der Sozialstaat und öffnet dem Versicherungskapital durch die Liquidierung des Generationenvertrags und des Umlageverfahrens das Tor für den Zugriff auf die Ersparnisse der kleinen Leute.

 

Im Gegensatz zu diesen dramatischen Angriffen auf die soziale Sicherheit der Masse der Durchschnittsbevölkerung war die Marginalisierung der Migrantinnen und Migranten schon im Verlauf der letzten fünfzehn Jahre vorangetrieben worden. Die Gesellschaft hat sich an den Skandal der Heimunterbringung, der Aufenthaltsbeschränkungen und der Abschiebeknäste für Flüchtlinge gewöhnt . Bekanntlich wird aber an den Minderheiten nur durchexerziert, was letztlich allen bevorsteht, und deshalb wird sich die Hinnahme dieser brutalen Ausgrenzungsmaßnahmen noch bitter rächen. Es ist jedenfalls ein bedrohliches Zeichen, dass selbst die Einführung beschränkter Immigrationsregulierungen unterbleibt,

 

Wenn wir diese Veränderungen in ihrem Zusammenwirken reflektieren, dann fällt die Zwischenbilanz bitter aus. Der Bruch mit dem sozialen Sicherungssystem findet jetzt auch zwischen Elbe und Oder statt, und dabei ist es kein Trost, dass der Sozialkahlschlag trotz seiner Vorentwicklungen seit den 1980er Jahren vergleichsweise spät zu greifen beginnt. Er hat bei der Masse der Löhne und Sozialeinkommen beziehenden Bevölkerung genau so wie bei den durch den Umbau des Bildungswesens betroffenen Jugendlichen eine tief greifende Desillusionierung und Verunsicherung ausgelöst, und es ist zum erstenmal wieder zu breiteren Protestaktionen gekommen. Es ist dringlich geworden, sich über die wahrscheinlichen Folgen dieses sozialen Umbruchs Klarheit zu verschaffen.

 

 Die aktuelle arbeits- und sozialpolitische Entwicklung kann indessen erst in ihren internationalen Zusammenhängen richtig verstanden werden, und deshalb beginne ich mit einigen Überlegungen und Hypothesen über ihren globalen Kontext.

 

Der globale Kontext

 

In Deutschland wird gegenwärtig im Eiltempo nachgeholt, was in den 1980er Jahren in den USA und Großbritannien unter Reagan und Thatcher begonnen hatte und in den 1990er Jahren in Italien, Spanien, Frankreich und der Schweiz sowie in den meisten Schwellen- und Transformationsländern des kapitalistischen Weltsystems ausdifferenziert worden war. Dabei sind in der Taktik des Vorgehens zwar gewisse nationale Differenzierungen zu erkennen, die vor allem durch das unterschiedliche Ausmaß des Widerstands gegen den Sozialabbau bedingt sind. Durch sie werden jedoch die identischen Grundlinien nicht in Frage gestellt. Weltweit ist eine Spirale der sozialpolitischen Demontage in Gang gekommen, die die bisherigen strukturellen Unterschiede zwischen Metropolen, Semiperipherie und Peripherie aus der Perspektive der arbeitenden Armen zunehmend verwischt. Zwar bestehen aufgrund der unterschiedlichen Lebensstandards zu Beginn des sozialen Angriffs auch heute noch erhebliche Unterschiede. Aber für die Obdachlosen und Flüchtlinge ist es nicht mehr so entscheidend, unter welchen Brückenpfeilern und in welchen Asylen sie dahinvegetieren.

 

Auch die deutsche Entwicklung ist Teil eines weltweiten Deregulierungskonzepts des Kapitals und seiner internationalen Institutionen, das nicht neoliberal, sondern neokonservativ und zutiefst reaktionär ist. Seit den 1980er Jahren erobern die Kapital- und Finanzgruppen die sozialstaatlichen Schalthebel. Sie verkehren die bisherige Richtung der  Umverteilungsmechanismen zur Existenzsicherung der Schwachen in ihr Gegenteil. Gleichzeitig erzwingen sie in einem alle Nationalstaaten erfassenden Domino-Effekt eine massive Senkung der Steuereinnahmen. Während die Budgets für die Sozialeinkommen der Armen gedrosselt werden, erfahren die Etatposten für den Ausbau des Repressionsapparats  – Polizei-, Gefängniswesen und Psychiatrie – einen rasanten Aufschwung. Die sozial ausgleichende „linke Hand“ der Staaten verkümmert zunehmend, und die Vordenker und Akteure des neokonservativen Umbaus betonen die Notwendigkeit einer „starken Rechten,“ um die sozialen Desintegrationsfolgen ihres Vorgehens vorbeugend unter Kontrolle zu bringen. Wer sich mit dem Elendsdasein eines arbeitenden Armen nicht abfinden will und in die kriminalisierten Sektoren der Schattenwirtschaft ausweicht, soll die Schlagkraft des abstrafenden Repressionsstaats zu spüren bekommen.

 

Dieser Umbau war und ist nur möglich, weil sich die in den parlamentarischen Repräsentationssystemen verankerten politischen Klassen aller Lager den Strategien und Verheißungen des neokonservativen Zugriffs unterworfen haben. Da sie sich selbst jedoch bei der Verabschiedung ihrer sozialpolitischen Gesetzes- und Verordnungspakete von den nachteiligen und existenziell verunsichernden Folgen ausnehmen, ist ihr Kotau mit folgenreichen kollektiven Korruptionserscheinungen verbunden. Die kollektive Selbstbevorteilung macht die politischen Klassen weithin sichtbar und löst bei denjenigen, die unter der von ihnen dekretierten sozialen Ungerechtigkeit zu leiden haben, Ressentiments und Hassgefühle aus. Dies führt mittelfristig zu einer Demontage der repräsentativ-demokratischen Systeme von innen heraus und kann gefährliche Folgen haben. Unter diesen Vorzeichen erleben wir nun auch in Deutschland – fünfzehn Jahre nach Frankreich und zehn Jahre nach Italien – die Selbstzerstörung der Sozialdemokratie aller Varianten, wobei sich auch die PDS durch ihre Beteiligung an der Berliner Stadtregierung und deren Kapitulation vor den aus dem Kalten Krieg überkommenen Finanzspekulanten selbst das Grab geschaufelt hat. Aber auch in solchen Ländern, in denen wir es mit unbezweifelbar integren politischen Führungen zu tun haben wie beispielsweise in Brasilien, scheint es keine Handlungsräume für wirksame Gegeninitiativen mehr zu geben.

 

Die inneren Umwälzungen finden unter nicht weniger dramatischen äußeren Rahmenbedingungen statt. Sie sind in die Formierung eines neuen kollektiven Imperialismus eingebettet, der die Weltinstitutionen an die militärische Weltherrschaft der USA anpasst und sich in den strategischen Krisenzonen des Weltsystems mit Methoden festsetzt, die an den klassischen Kolonialismus erinnern. Trotz aller Rivalitäten unter den Großmächten scheint ein neues Netzwerk imperialistischer Herrschaft zu entstehen, das innere Gegensätze ständig ausgleicht und die gemeinsame Kontrolle über die strategischen Ressourcen sowie die Stagnations- und Depressionsgebiete des Weltsystems durchsetzt. Auch die Frage, in welchen Regionen als bedrohlich geltende Blockaden gegen die Ausweitung der Wertschöpfung gewaltsam beseitigt werden sollen, scheint trotz des jüngsten Alleingangs der angelsächsischen Kriegskoalition gegen den Irak letztlich kollektiv entschieden zu werden – im Rahmen  „ultra-imperialistischer“ Abstimmungsverfahren, wie sie KarlKautsky ausgerechnet 1915/16, auf dem Höhepunkt eines zerstörerischen Hegemonialkampfs der Großmächte, vorausgesehen hatte.

 

Die Ziele des neokonservativen Projekts und die Folgen der Zerstörung des bisherigen sozialstaatlichen Klassenkompromisses

 

Der innere Sozialkahlschlag und die veränderten äußeren Weichenstellungen zur Regulierung des kapitalistischen Weltsystems sind zweifellos zwei Seiten einer Medaille. Auf der Grundlage weltweit verschärfter und zugleich kollektiv-gewalttätig abgesicherter Ausbeutungsverhältnisse soll ein neues Akkumulationsregime durchgesetzt werden. Es unterscheidet sich vom voraufgegangenen Zyklus vor allem dadurch, dass es die Vollbeschäftigungsmaxime und das Massenkonsumversprechen des keynesianisch-fordistischen Zeitalters durch ein System der strategischen Unterbeschäftigung ersetzt. Weltweit soll zu Spottpreisen eine wirtschaftliche Reservearmee verfügbar gemacht werden, und weltweit werden die sich vergrößernden unverwertbaren Segmente der Massenarmut auf neue Weise ausgegrenzt und eingefriedet. Die postkoloniale Bewegungsfreiheit der transkontinentalen Massenmigrationen wird wieder aufgehoben. Die von den Migrantinnen und Migranten erkämpfte Freizügigkeit stößt inzwischen überall auf der Welt auf elektronische Grenzzäune und auf weithin sichtbare Mauern. Diese Monumente einer neuen Ausschließungskultur demonstrieren auf drastische Weise, dass die Annahme, die ungezügelte Mobilität des Kapitalverkehrs würde auch eine „neo-liberale“ Freizügigkeit der Menschen hervorbringen, eine Illusion war. Nicht nur in dieser Hinsicht hat sich der so genannte Neo-Liberalismus als kompromisslos menschenfeindlicher Neo-Konservatismus entlarvt, der immer unverhüllter auf autoritäre Herrschaftsmechanismen zurückgreift.

 

Zusätzlich soll dieses neu dimensionierte äußere Wachstumsmodell langfristig durch eine innere Expansionsdynamik gesichert werden. Durch diesen Weg in das Innere der Gesellschaften unterscheidet sich das gegenwärtige  Akkumulationsregime am weitesten von seinen Vorläufern. Denn seine Planer und Vordenker sind sich der Tatsache bewusst, dass die letzten noch verbliebenen äußeren Wachstumsquellen – vor allem die Rekonstruktionszone in Ostmitteleuropa  und der gigantische late comer China – in zehn bis fünfzehn Jahren erschöpft sein werden. Dann hat das kapitalistische Weltsystem endgültig einen Zustand erreicht, in dem es sich die lebenden und toten Schätze dieser Erde restlos einverleibt hat. Es ist an seine äußeren Grenzen gestoßen, und damit entfällt eine der entscheidenden Voraussetzungen seiner geschichtlichen Dynamik. Da aber der Expansionsdruck einer „endlosen Kapitalakkumulation“ (Immanuel Wallerstein) das Wesen des Weltsystems ausmacht, wäre es zum Untergang verurteilt, wenn ihm der Umschlag zu einer nach innen zurückschlagenden Dynamik nicht gelingen sollte. Hier sehe ich die entscheidende Ursache für die gnadenlose Härte, mit der die Planungs- und Aktionszentren des Kapitalismus sich gegenwärtig die bisherigen „allgemeinen Produktionsbedingungen“ des Wachstums – gesellschaftliche Reproduktionssphären, soziale Sicherungssysteme, Infrastrukturen und Bildungswesen – aneignen.

 

Nun hat der Kapitalismus auch bei der Strukturierung der nationalstaatlichen „Volkswirtschaften“ schon immer eine entscheidende Rolle gespielt. Aber der jetzige Umbruch signalisiert eine neue Qualität des Zugriffs. Im Dienst der inneren Expansion wird die „Agenda 2010“  die „Kommodifizierung“ der Gesellschaft auf eine qualitativ neue Stufe heben, indem im Dienst der nach innen umschlagenden Kapitalexpansion jetzt allgemeine Alltagsbedürfnisse – Bildung, Gesundheit, Alterssicherung usw. – hemmungslos privatisiert und unter das Diktat der Rendite gestellt werden. Der Kapitalismus weitet seine Kontrolle über den Produktions- und Verteilungssektor  auf die Gesellschaft aus und macht sie sich tributpflichtig. Er wandelt sich zu einem Kapitalismus der Gebühren und Dienstleistungsrenditen, die er von Millionen kleiner Einkommensbezieher eintreibt. Ein solches Akkumulationsmodell wäre den Heroen des industriellen Kapitalismus selbst in ihren wildesten Träumen nicht eingefallen.

 

Für die Mehrheit der Gesellschaft ist dieser Aufbruch des Kapitals „nach innen“ außerordentlich folgenreich.  Alle, die ihre Arbeitskraft vermieten müssen, um leben zu können, geraten in allgemein ungesicherte Arbeitsverhältnisse. Als neue Form der „Vollbeschäftigung“ entsteht ein breiter Niedriglohnsektor. Um ihr Dasein zu fristen, müssen immer mehr Menschen ihren Arbeitsalltag nacheinander auf drei oder vier miserable Jobs verteilen. Ihre Arbeitszeiten steigen dramatisch, während ihre Einkommen sinken. Sie sind zur Arbeitsarmut bis ans Lebensende verurteilt Wer hätte es vor 20 Jahren für möglich gehalten, dass angesichts der rasanten Produktivkraftentwicklung der Kampf für den Achtstundentag und ein freies Wochenende jemals wieder zu einem Hauptanliegen der Assoziation der Ausgebeuteten werden könnte?

 

Als besonders folgenreich werden sich die Eingriffe in das Bildungs- und Wissenschaftssystem erwesen. Es entstehen neue Zugangsbarrieren auf allen Ebenen. Wissenschaftliche Qualifikationen werden sich nur noch die Kinder der einkommensstarken Gewinner des neokoneservativen Umbruchs aneignen können. Mit dieser „elitären“ Neuorientierung wird die Marginalisierung des selbstkritischen gesellschaftlichen Reflexionsvermögens einhergehen. Je stärker sich diese Tendenz durchsetzt, desto höher wird der Preis sein, den die Gesellschaften für ihren Rückfall in den Obskurantismus vor-aufklärerischer Marktvergötzung und analphabetisierter Ressentiments zu zahlen haben.

 

Ein weiterer Schritt zu Dehumanisierung des gesellschaftlichen Lebens wird durch die Beschränkung des Zugangs zu den Ressourcen des Gesundheitswesens eingeleitet. Wer kein ausreichendes Einkommen hat, um den Wechselfällen einer schweren Erkrankung zu begegnen, wird seine gesamten Ersparnisse in die Waagschale werfen oder auf die  Errungenschaften der neuen – und kostspieligen -  Gesundheitstechnologie verzichten müssen. Auf diese Weise wird eine alte und bittere Parole wieder belebt: Weil Du arm bist, musst Du früher sterben.

 

So erzeugt der nach innen expandierende Kapitalismus eine neue Massenarmut. War es ihm im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts gelungen, durch das Ingangsetzen der Industrialisierung die „gefährlichen Klassen“ der Eigentumslosen in Arbeiterklasse und Subproletariat aufzuspalten, so hat er heute, 200 Jahre später, damit begonnen, den umgekehrten Weg einzuschlagen. Die Arbeitsproduktivität seiner Produktions- und Verteilungssysteme ist heute derart angewachsen, dass zur Erzeugung immer größerer Gütermengen immer weniger lebendige Arbeit benötigt wird. Zugleich ist der Kapitalismus dazu übergegangen, dort zu produzieren, wo die Arbeitskosten weltweit am geringsten sind. Deshalb tritt seine „Globalisierung“ zunehmend im Gewand einer De-Industrialisierung der klassischen Akkumulationszentren in Erscheinung, und die von den Propagandisten des Kapitals verhöhnte Marxsche Verelendungstheorie realisiert sich unter umgekehrten Vorzeichen. Die Massenarmut kehrt im Prozess der D-Industrialisierung in die Metropolen zurück, und dabei scheint auch ihre historische Spaltung in Arbeiterklasse und Subproletariat rückgängig gemacht zu werden. So betreten die  „classes dangereuses“ wieder die historische Bühne. 

 

Den Denkfabriken des Kapitals ist diese Tendenz nicht verborgen geblieben. Schon in den 1980er Jahren sind die herrschenden Klassen der USA dazu übergegangen, die Massenarmut vorbeugend zu filtern und ihre potentiell gefährlichen Elemente hinter immer höheren Gefängnismauern wegzuschließen. Im neuen Gulag-System der USA sind inzwischen 2,2 Millionen Menschen interniert, und weitere 7,8 Millionen unterliegen der Justizaufsicht, das heißt sie können bei der geringsten Unangepasstheit wieder inhaftiert werden. Diesem Trend sind die EU-Länder bislang nur begrenzt gefolgt. In Deutschland und Italien ist statt dessen eine weniger auffällige Technik der Ruhigstellung der Ausgegrenzten und Gestrandeten in Gang gekommen. Sie werden entmündigt, psychiatrisiert und anschließend von den gemeindepsychiatrischen Zentren kontrolliert und medikamentös ruhig gestellt. Ihre Zahl hat sich in den letzten fünf Jahren verdreifacht.  Sicher hätten es sich die Väter und Mütter der italienischen und deutschen Psychiatriereform nicht träumen lassen, dass ihre in bester Absicht betriebenen Initiativen zur Auflösung der großen Verwahranstalten und zur Durchsetzung einer humaneren Gemeindepsychiatrie auf  derart zynische Weise instrumentalisiert werden könnten.

 

Wo man derartig mit der „hausgemacht“ entstehenden Massenarmut umgeht, haben die Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten ohnehin keine Chance. In einem weit gesicherten europäischen beziehungsweise zentralamerikanischen Vorfeld – der „Schengener Grenze“  und dem neuen Grenzregime im Süden der USA– werden sie inzwischen vor dem Zutritt abgefangen. Soweit sie nicht umgehend deportiert werden, wird die Bewegungsfreiheit der Zugewanderten drastisch beschnitten. Gleichzeitig wird der erneuerte kollektive Kolonialismus die Menschen der Peripherie auf ihren Subkontinenten wieder einfrieden. Wie dies im einzelnen geschehen soll, wurde im Irakkrieg durchexerziert. Während des Golfkriegs von 1990/91 waren unter den unfreien Migrationsarbeitern der Golfstaaten und den irakischen Minderheiten noch Massenfluchten ausgelöst worden. Im vergangenen Jahr sorgten die angelsächsischen Expeditionstruppen dagegen in einem makabren Zusammenspiel mit den irakischen Verwaltungsbürokratien dafür, dass Massenfluchten unterblieben.

 

Alles in allem haben wir ein Projekt zur Polarisierung und Re-Proletarisierung w der Weltgesellschaft vor uns, die zum Spielball einer neuen Spirale der „endlosen Kapitalakkumulation“ geworden ist. Dieser Umbruch erfolgt nicht spontan, sondern wird durch die Herrschaftszentren des Weltsystems vorangetrieben. Jedoch ist es ziemlich wahrscheinlich, dass sie in absehbarer Zeit die Kontrolle über ihn verlieren, und dass das Weltsystem auf eine chaotische Transformationsperspektive zusteuert, deren Ergebnis völlig ungewiss ist.

 

Wie unsicher sich die Akteure selbst über den Ausgang ihrer Transformationsinitiative sind, bezeugt der Aufwand, den sie betreiben, um ihre Vorgehensweise medial, sprachlich und ideologisch abzusichern. Die Reaktion definiert sich als „Reform“, aus den Entmündigungsgesetzen werden „Betreuungsgesetze“, und in Zeiten steigender Massenerwerbslosigkeit werden die  neuen Instrumente zur Arbeitserzwingung als „aktivierende Sozialpolitik“ verharmlost. Im Dienst dieser semantischen Umdeutungen werden die Medien  zum wichtigsten Scharnier zwischen den herrschenden Kapitalgruppen, den Entscheidungsträgern der großen Transformation, und den politischen Klassen als ihren Erfüllungsgehilfen. Tag für Tagproduzieren und reproduzieren die Medien semantische Verdrehungen und visualisierte Lügen, um eine zweite, rein virtuelle Realität hervorzubringen, welche die katastrophalen Folgen des Restaurationsprozesses in Erfolgsberichte ummünzt. Wer nur im Reich dieser  virtuellen zweiten Wirklichkeit zu Hause ist, kann keine Erfahrungen mehr sammeln und keine sozialen  Lernprozesse mehr mitgestalten, weil er von seinen Mitmenschen isoliert ist und die Wirklichkeit der harten sozioökonomischen Tatsachen nicht mehr wahrnimmt. Diese beiden Funktionen erklären die Macht der Medien: Sie haben die politischen Klassen einzugemeinden und bei den Objekten der Restauration alle gesellschaftlichen Kommunikationsstrukturen, die elementaren Voraussetzungen für soziale Lernprozesse, vorbeugend zu zerstören. Dank der Medien ist der Kapitalismus in Dimensionen der „Gouvernementalität“ (Michel Foucault) hineingewachsen, vor denen die Herrschaftsinstrumente der voraufgegangenen Akkumulationszyklen verblassen. Er hat begonnen, die langen Dauern des Mentalitätswandels zu manipulieren und zu verkürzen, indem er die bislang  mit ihnen verknüpft gewesenen gesellschaftlichen Erfahrungszusammenhänge beseitigt.

 

Gegenperspektiven

 

Wie könnten die Umrisse einer Gegenperspektive aussehen, die die Entschiedenheit zum Widerstand mit Vorstellungen über eine humane und sozial gerechte Welt verbindet? Über diese Frage ist inzwischen weltweit eine breite Diskussion in Gang gekommen, und sie beginnt immer deutlichere Konturen anzunehmen.

 

Im Rahmen dieses Beitrags kann ich nur auf einige Aspekte verweisen, die mir besonders wichtig erscheinen. Ich werde abschließend einige Hypothesen über die elementaren Voraussetzungen eines neuen emanzipatorischen Aufbruchs, über die Offenheit der aktuellen Situation und über erste mögliche Handlungsansätze formulieren.

 

Die vier Voraussetzungen eines Gegenprogramms

 

Ansatzpunkte zu realistischen Gegenprogrammen und aussichtsreichen Handlungsmöglichkeiten gibt es meines Erachtens nur noch in einer internationalen Perspektive. Die Nationalstaaten und die aus ihnen hervorgegangenen übernationalen Blockbildungen (EU, NAFTA usw.) sind der neokonservativen Radikalisierung des kapitalistischen Weltsystems nicht mehr gewachsen. Die Gegenperspektive sollte sich vor allem nicht in Block-Konzepte einbinden lassen, denn dann würde sie nur Teil eines vielleicht noch gefährlicheren Umschlags des globalisierten Netzwerkkapitalismus in katastrophale innerimperialistische Machtkonflikte.

 

Zum zweiten bin ich davon überzeugt, dass die Eroberung der politischen Macht kein Weg mehr ist, der zum emanzipatorischen Ziel hinführt. Die „traditionellen antiystemischen Bewegungen“ (Immanuel Wallerstein) der Arbeiterbewegung  wollten die gesellschaftliche Befreiung über den Staat in Gang bringen und vollenden. Dieses Projekt ist gescheitert. Aus dem Untergang des so genannten Realsozialismus können wir nur noch lernen, vor welchen strategischen Fehlentscheidungen wir uns hüten sollten. Auch aus dieser Perspektive sind der Nationalstaat und die durch ihn begründeten Blockbildungen für uns kein Adressat mehr.

 

Aussichtsreich erscheint mir deshalb nur noch ein breites soziales Bündnis, das von den SubproletarierInnen der neuen Massenarmut über die ungesichert Beschäftigten und die industrielle Arbeiterklasse  bis zu den selbständigen Arbeiterinnen und Arbeitern alle Verlierer des Umbruchs einbezieht, also zwei Drittel bis drei Viertel der Gesellschaft. Es gibt keine „zentrale Arbeiterklasse“ mehr. In jedem Standort werden andere Segmente des neuen Proletariats überwiegen, in den Schwellenländern sicher auch einmal die Belegschaften großer Industriebetriebe. Aber aus der Gesamtperspektive lässt sich keine Priorität für eine spezifische Schicht – seien es Erwerbslose, Jobber, Scheinselbständige oder Industriearbeiterinnen und –arbeiter - mehr festlegen.  Vielleicht hat die Festlegung der historischen Arbeiterbewegung auf jene Klassensegmente, die aus zumeist männlichen freien Lohnarbeitern bestanden – beispielsweise die Facharbeiter oder die Massenarbeiter des Fordismus –, schon immer ihre Perspektiven und Aktionsmöglichkeiten unnötig eingeengt.

 

Das Klassenbündnis aller derjenigen, die ihre Arbeitskraft vermieten oder Sozialeinkommen beziehen müssen, um leben zu können, ist viertens nur auf der Grundlage gemeinsamer Rahmenbedingungen und Vereinbarungen möglich. Seine entscheidende Voraussetzung aber ist und bleibt die konsequente innere Demokratie. Ich halte diese Hypothese für besonders wichtig, und deshalb möchte ich sie etwas näher erläutern:

 

a) Nur in basisdemokratischen Strukturen lässt sich die elementare Forderung nach sozialer und politischer Gleichheit jenseits von Klasse, Geschlecht und Ethnizität dauerhaft verwirklichen. Mit dieser Grundforderung nehmen wir zugleich die Ziele vorweg, auf die sich eine Gegenperspektive verständigern sollte: Keine Macht für niemand – kein Eigentum für niemand – kulturelle Gleichberechtigung alles Heterogenen.

 

b) Auf allen Ebenen des sich organisierenden Gegenprojekts sollte ein konsequentes Delegations- und Rotationsprinzip durchgesetzt werden, um die Entstehung neuer abgehobener Funktionärsschichten von vornherein zu vermeiden. Diese Forderung erscheint banal. Aber wer sich nicht erst seit gestern für emanzipatorische gesellschaftliche Perspektiven engagiert, weiss, wie wichtig eine schon im Vorfeld des Neubeginns getroffene Verabredung über diese Frage ist.

 

c) Das Bündnis hat nur dann eine Perspektive, wenn die inneren Strukturen seiner Partner und Teilnehmer demokratisiert werden. Deshalb sollten auf mittlere Sicht bei allen Bündnispartnern basisdemokratische Strukturen geschaffen werden. Beispielsweise ist es sehr zu begrüßen, dass einzelne DGB-Gewerkschaften inzwischen auf die Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen Wert legen. Für die Vertiefung zum Bündnis wären jedoch einige Voraussetzungen zu klären, die keineswegs auf die lange Bank geschoben werden können. So wären die extrem hohen Gehälter der Gewerkschaftsspitzen auf ein vertretbares Niveau zu senken. Sicher würde die Mehrheit dieser Spitzengruppe daraufhin kündigen, aber dies wäre nur zu begrüßen, weil sie qua Einkommen und Habitus nicht einer Gegenperspektive zuneigen, sondern im Innersten der politischen Klasse der Deregulierer angehören. Darüber hinaus sollten sich die Gewerkschaften von den Knebelungen des Betriebsverfassungsgesetzes – Stichwort: Aufsichtsratsmandate – und von der Mitbestimmung verabschieden, nachdem die Kapitalseite den historischen Kompromiss von 1944 längst informell aufgekündigt hat.

 

In allen diesen Fragen sollten wir uns keinen Illusionen hingeben und nichts auf die lange Bank schieben. Auch die linken Gewerkschaftsgruppen sollten sich einmal darüber Rechenschaft ablegen, inwieweit sie von den Gewerkschaftszentralen nur deshalb toleriert werden, weil sie einen für das Image unverzichtbaren Rest von Basis-Aktivismus aufrecht erhalten. Letztlich werden sie aber nur nützliche Idioten bleiben und immer auf der Stelle treten, solange sie nicht die Frage nach der innergewerkschaftlichen Demokratie auf die Tagesordnung setzen. Solange sind auch sie für die Masse der Beschäftigten unglaubwürdig und werden zwischen der skeptischen Zurückhaltung der Belegschaften und der Blockadepolitik der Gewerkschaftsleitungen zerrieben.

 

Die Offenheit einer emanzipatorischen Perspektive

 

Wir sind Teil eines seit über 500 Jahren bestehenden Systems, das sich gegenwärtig in einem gravierenden Umbruch befindet, ohne dass sich dabei irgendwelche historische „Gesetzmäßigkeiten“ ausfindig machen ließen, von denen wir ableiten könnten, wohin die Reise gehen wird. Es ist völlig unklar, ob die als „Deregulierung“ bezeichnete Umlenkung der Kapitalakkumulation in das Innere der gesellschaftlichen Reproduktion wirklich gelingt, denn dies würde zur Zerstörung jeglicher Gesellschaftlichkeit führen. Genau so unsicher sind die Chancen des Widerstands und einer darauf aufbauenden Gegenperspektive. Selbst eine globale soziale Konfrontation ist denkbar, bei der sich keine der beiden zentralen Konfliktparteien durchsetzt, so dass aus der sich dann ergebenden Patt-Situation eine völlig neue Gesellschaftsformation hervorgehen könnte, die weder etwas mit den Restaurationsvorstellungen der kapitalistischen Denkfabriken noch mit unseren sozialistischen Erneuerungshoffnungen zu tun hat. Die Richtung, die der Umbruch nehmen wird, ist deshalb völlig offen. Gewiss wird der Widerstand gegen das seit Ende der siebziger Jahre vorangetriebene neokonservative Projekt Massencharakter annehmen, denn das ihm innewohnende Programm grundsätzlicher sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit ist für die große Mehrheit der Menschheit unerträglich. Der Ausgang der Konfrontation ist jedoch völlig offen: So offen, wie er es in der Großen Depression der 1930er Jahre war. Damals waren Faschismus und zweiter Weltkrieg das traurige Ergebnis. Heute sind chaotische Zustände wahrscheinlicher, die sich unterhalb der Ebene weltweiter militärischer Konfrontationen abspielen und in 20 bis 30 Jahren zu einer wie auch immer gewandelten komplexen Gesellschaftsformation überleiten.

 

Auf jeden Fall bewegen wir uns auf ein Chaos zu. In dieser Phase der Instabilität können auch kleinere Initiativen große Wirkungen erzielen, wie Immanuel Wallerstein in seiner „Utopistik“ betont hat. Wenn wir uns klar machen, dass ein Durchbruch zu mehr sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit keineswegs gesetzmäßig ist; wenn wir also die Falle der sich von selbst gesetzmäßig verwirklichenden „Utopie“ umgehen und mit einem möglichst großen Maß an Skepsis vorgehen, haben wir noch am ehesten die Chance, etwas zu bewirken. Gleichzeitig bewahren wir uns vor allzu großen Desillusionierungen.

 

Umrisse einer neuen Vermittlung zwischen konkretem Handeln und Gegenperspektive

 

Bei  jedem handlungsorientierten Ansatz wäre vom jeweiligen lokalen „Standort“ auszugehen, wo es handlungsbereite Menschen gibt und ihre Assoziation zu einem Bündnis gegen den Sozialkahlschlag möglich ist. Denn das vernetzte kapitalistische Weltsystem besteht heute aus 700-800 Standorten plus jeweiligem Hinterland. Wenn wir uns in diesen Standorten verankern, befinden wir uns innerhalb der entscheidenden Nervenzentren des Weltsystems, von denen aus die Weltinstitutionen, supranationalen Machtblöcke und Nationalstaaten dirigiert werden.

 

Je nach der sozialen Zusammensetzung der Standorte könnten im Prozess des Aufbaus der ersten Kommunikationsnetze spezifische Aktionsformen entwickelt und erprobt werden. Generell denkbar wären Initiativen zur Durchsetzung eines existenzsichernden Mindestlohns, von radikaler Arbeitszeitverkürzung und betrieblicher Demokratisierung. In unseren Breiten könnte man hier an die Erfahrungen der Jobber- und Erwerbslosenbewegungen der 1980er Jahre anknüpfen, aber auch an die Praxis der neuen italienischen und französischen Basisgewerkschaften; die hiesige Gewerkschaftslinke könnte hier ihren Platz finden, falls das Projekt der innergewerkschaftlichen Demokratisierung  misslingen sollte. Dass in vielen Schwellenländern ganz andere Voraussetzungen bestehen und beispielsweise die in den maquiladores ausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeiter eine wesentliche Rodle spielen werden, versteht sich von selbst.

 

 Parallel zu diesen Aktivitäten in der Produktions- und Verteilungssphäre könnten Stadtteilbüros gegründet werden, in denen die vom Sozialkahlschlag Betroffenen beraten werden, zugleich aber auch selbstorganisierte Netze der sozialen Kommunikation (lokale Radios und TV-Stationen) und der sozialen Aneignung aufbauen. Diese soziale Aneignung könnte man konkret – Gebührenboykott - , aber auch perspektivisch verstehen: Die Sozialfonds, Bildungseinrichtungen und das Gesundheitswesen sollten in kommunale Selbstverwaltung zurückgeholt werden, bevor sie vollends geplündert sind. Auch hier gibt es inzwischen erste Erfahrungen, beispielsweise aus Berlin und Ostdeutschland.

 

Wie aber könnten derartige lokale Initiativen miteinander in Kontakt treten? Als Brücke zwischen der lokalen Verortung und der weltweiten Vernetzung mit anderen Standort-Bewegungen könnten vor allem die Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten fungieren. Sie sind überall als kleinere oder größere Sozialgruppen präsent, und es dürfte nicht schwer fallen, ihre ohnehin schon bestehenden Kommunikationsstrukturen in das Gegenprojekt einzubeziehen, sofern sie an den jeweiligen Standorten geschützt und als gleichwertige Partner respektiert werden. Wenn es gelingt, beispielsweise die reichen Bremer Erfahrungen in der antirassistischen Flüchtlingsarbeit in eine lokal oder regional vernetzte Selbstorganisation einzubringen, dann wäre dies  ein exemplarischer Schritt, der vielleicht  auch andernorts vollzogen werden könnte. Mittelfristig sollte aber auch die Gründung global agierender Basisgewerkschaften – vor allem im Transport- und Kommunikationssektor – hinzukommen.

 

Von großer Bedeutung wäre es nun, diese drei Komponenten eines social movement unionism auf der jeweiligen Ebene einer lokalen beziehungsweise regionalen Agglomeration miteinander zu verknüpfen und parallel dazu durch die Netzwerke der MigrantInnen und Flüchtlinge, aber auch durch den Auf- und Ausbau internationaler Transportarbeitergewerkschaften den globalen Kontext herzustellen.

 

Zu einem glaubwürdigen Gegenprojekt gehören aber auch Überlegungen und Vereinbarungen darüber, wie eine sozial gerechte und egalitäre Welt in ihrem globalen Kontext durchzusetzen  wäre. Zweifellos kann eine ernsthafte Alternative gegen die neokonservative Zurichtung der Welt nur aus ihren lokalen und durch die MigrantInnen und Transport- und Kommunikationsarbeiter vernetzten Gegenbewegungen hervorgehen. Aber diese Einsicht macht die seit einigen Jahren forcierten Bemühungen um weltweite Gegenforen und die in diesen Kontexten beispielsweise bei „attac“ entstandenen Modelle für globale Alternativen nicht gegenstandslos. Sie sollten allerdings über ihre punktuellen Ansätze (Tobin-Steuer) hinaus getrieben und systematisiert werden. Ein Schritt dazu wäre die Auflistung der wichtigsten Probleme, die nur noch auf Weltebene gelöst werden können, und das Nachdenken über mögliche Strukturen zur Umsetzung. Hier muss ich mich mit ein paar schlagwortartigen Hinweisen begnügen.

 

Zu den wichtigsten Aufgaben gehört zweifellos eine sofortige weltweite Abrüstung und die Auflösung aller Armeen. Parallel dazu müssten die internationalen Finanzmärkte liquidiert und ein globales monetäres Restrukturierungsprogramm mit transkontinental egalisierender Tendenz aufgelegt werden. Darüber sollte jedoch nicht die Dringlichkeit der Überleitung des Know how der internationalen Rohstoffkonzerne und Energiekartelle zur Ingangsetzung eines egalisierenden und zugleich ökologisch orientierten Weltenregieprogramms übersehen werden. Von großer Bedeutung wäre auch die Entmachtung des internationalen Agro-Business und die Entwicklung eines egalisierenden globalen Agrarprogramms. Dass auch die Oligopole und Kartelle der Informations- und Medientechnologie durch global greifende Technologieprojekte mit egalisierender Tendenz zu ersetzen wären, versteht sich von selbst. Innerhalb der Internet- und Linux-Kultur gibt es ja durchaus Ansätze in diese Richtung. Das ist eine sehr unvollkommene Liste, die lediglich die Bedeutung dieser Reflexionsebene unterstreichen soll.

 

Auf welcher institutionellen Ebene sollte man aber ansetzen? Ich denke, dass es sich lohnen würde, jene Weltinstitutionen zu studieren, die in den letzten Jahren des zweiten Weltkriegs von den Alliierten geschaffen wurden. Zweifellos sind sie in der Folgezeit durch den Kalten Kriegs und bei der Bekämpfung der Befreiungsbewegungen der Drei Kontinente bis zur Unkenntlichkeit deformiert sowie in den vergangenen zwei Jahrzehnten zur Initiierung der  „Schocktherapien“ des globalen Sozialkahlschlags  missbraucht worden. Wenn wir davon aber abstrahieren und uns diese Modelle – vor allem IMF, Weltbank und Vereinte Nationen – in ihrer ursprünglichen Konzeption ansehen, dann erscheinen sie als durchaus brauchbare Ausgangspunkte: Als Ausgangspunkte wohlgemerkt, die durch eine kollektive Repräsentation der global vernetzten Alternative demokratisiert und in Instrumente einer weltweit greifenden sozialen und wirtschaftlichen Egalisierung umgewandelt werden müssen. Sie könnten dann als Dachkonstruktion eines föderativ-egalitären Projekts angesehen werden, das den Globus umspannt und  das immer stärker zur Barbarei tendierendeneokonservative Projekt beendet.

 

Schlussbemerkung

 

Das alles sind nur erste Überlegungen. Jedoch sprechen gewichtige Annahmen dafür, dass es drei wesentliche Elemente sein werden, die geeignet sein könnten, eine realistische Gegenperspektive mit Leben zu füllen: Erstens die Maulwürfe der sozialen Gegenbewegungen in den Agglomerationen, zweitens die Netzwerke der MigrantInnen sowie die AktivistInnen einer weltweit agierenden gewerkschaftlichen Basisbewegung, und drittens die „organischen Intellektuellen“, die in diesen Netzwerken verankert sind und auf den globalen Gegen-Foren übe r die Wege zu einer sozial gerechten und egalitären Welt nachdenken.

 

In diesem Sinn sollten wir gemeinsam an die Arbeit gehen – skeptisch und vorschichtig, aber auch im Vertrauen darauf, dass eine Wende zu sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit grundsätzlich möglich ist.