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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 484 / 21.5.2004

Aktivierung im trauten Heim

Hartz-Gesetze flexibilisieren auch die Geschlechterverhältnisse

Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe zum 1.1.2005 werden nicht nur Erwerbslose "aktiviert". Grundsätzlich sind jetzt alle Mitglieder von Familien oder "Bedarfsgemeinschaften" gefordert, die Hilfebedürftigkeit "zu überwinden"; ein System des internen Drucks, das tradierte Geschlechterverhältnisse nicht unberührt lässt.

Das "4. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" (SGB II) beinhaltet die "Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe in das nicht sichernde und deshalb aktivierende ALG II". Feministische Analysen gehen häufig davon aus, dass diese Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 ausschließlich eine Festschreibung traditioneller Geschlechterverhältnisse bedeuten. Unseres Erachtens greift diese Betrachtungsweise der "Reformvorschläge" zu kurz, da das Verhältnis zwischen vorherrschenden Geschlechterverhältnissen und den aktuellen Reformen widersprüchlicher ist. Am Beispiel des SGB II begründen wir dies exemplarisch.

Mit Einführung des SGB II regelt ausschließlich dieses Gesetz den Anspruch auf staatliche Leistungen für alle erwerbsfähigen Hilfebedürftigen. Als erwerbsfähig gilt dabei, "wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein kann und darf oder voraussichtlich innerhalb von sechs Monaten erwerbstätig sein kann und erwerbstätig sein darf" (§ 8). Alle so definierten Erwerbsfähigen verlieren damit ihren Rechtsanspruch auf Sozialleistungen nach dem bisherigen Bundessozialhilfegesetz (BSHG, zukünftig SGB XII). Im Sinne der Ideologie vom "aktivierenden Staat" soll dabei die "Grundsicherung für Arbeitssuchende", also das ALG II, die "Eigenverantwortung" stärken und dazu beitragen, dass diese Personen "ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können" (§ 1).

Dieses trifft nun auch auf alle nicht erwerbsfähigen Personen zu, die mit einer erwerbsfähigen Person in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Ihre Ansprüche sind künftig ebenfalls durch das SGB II geregelt; sie erhalten das so genannte Sozialgeld. Explizit werden auch diese Personen in die Aktivierungslogik einbezogen: Alle Personen einer hilfebedürftigen Bedarfgemeinschaft werden im Rahmen des SGB II dazu verpflichtet, alle Möglichkeiten zur "Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit" (§ 2) auszuschöpfen. Damit gilt im Rahmen des SGB II grundsätzlich das Subsidiaritätsprinzip, nach dem einer "staatsfernen" Versorgung durch Familie oder Partnerschaft Vorrang gegeben wird.

voll flexible Bedarfsgemeinschaften

Das deutsche soziale Sicherungssystem basiert von Beginn an auf der Verschränkung von "Familiensubsidiarität" und sozialer Sicherung. Mit diesem Begriff wurde legitimiert, dass Frauen, die im Bereich der individuellen Reproduktion tätig waren, nur über die Versicherungsansprüche des Familienernährers Zugang zum sozialen Sicherungssystem erhielten. Im Rahmen des SGB II erfährt die "Familiensubsidiarität" allerdings eine Zuspitzung: Im Gesetzestext wird explizit darauf eingegangen, dass auch jene, die ausschließlich in der Familie tätig sind (nach wie vor meist Frauen), für das "Fortkommen" der Einzelnen und der Familie als Ganzes wesentliche Verantwortung tragen (müssen). Die Bedeutung der traditionell weiblichen Tätigkeiten wird somit explizit aufgenommen. Die innerfamiliären Praxen sind auf diese Weise fest in die Logik des aktivierenden Sozialstaats eingeschrieben. Das SGB II verpflichtet alle Familienmitglieder, aufeinander und auf den Familienvorstand einzuwirken, um die Hilfebedürftigkeit der Bedarfsgemeinschaft zu mildern oder zu beenden. Gleichzeitig entsteht ein Druck auf die Frauen, selber erwerbstätig zu werden.

Diese Regelung ist auch deshalb wichtig, weil im Gesetzestext ausdrücklich festgehalten wird, dass ein Rechtsanspruch auf staatliche Leistungen nicht mehr besteht. Bei allen Bestimmungen des SGB II handelt es sich um "Kann"-Bestimmungen. Im Gegensatz kannte das bisherige BSHG an einigen prägnanten und ausschlaggebenden Stellen durchaus noch "Muss"-Bestimmungen. Die einzelnen Hilfesuchenden sind also perspektivisch stärker von der Willkür bzw. Effizienzlogik derjenigen abhängig, die ihre Anträge bearbeiten. Wenn also SachbearbeiterInnen Leistungen streichen, weil z.B. das Verhalten von Erwerbslosen nicht ihren eigenen Wünschen oder Vorschlägen entspricht oder sie grundsätzlich schwer vermittelbar sind, so gibt es in Zukunft keine oder nur massiv eingeschränkte einklagbare Rechtsansprüche.

Die Bedeutung, die hier den traditionell weiblichen Tätigkeiten für die Einfügung der Einzelnen in gesellschaftliche Strukturen gegeben wird, ist keinesfalls neu: Schon die Familiarisierung der unteren Schichten gegen Ende des 19. Jahrhunderts kann als eine wesentliche Strategie interpretiert werden, um auf die soziale Frage in einer herrschaftsstabilisierenden Weise zu reagieren: Mit der Durchsetzung der Kleinfamilie als hegemonialer Lebensform wurden Bedürfnisse der Einzelnen nach einer Verbesserung ihrer Lebensqualität ins Private und Moralische gewendet; Bedürfnisse, die sich ansonsten in politischen Bewegungen ebenso artikulierten wie etwa in Plünderungen und individueller Verweigerung.

Die damaligen philanthropischen Vereinigungen haben dabei insbesondere die Position der Frauen innerfamiliär gestärkt und ihre - mit Zwang verbundene - Beratungsangebote dazu genutzt, neue Normen durchzusetzen und sie gleichzeitig mit den individuellen Existenzweisen der Einzelnen zu vermitteln. (1) In seinen Analysen zur Herausbildung der fordistischen Gesellschaftsformation weist auch Gramsci auf die zentrale Bedeutung hin, die die strategische Einflussnahme auf die privaten Lebensformen der (Lohn-)ArbeiterInnen für die erfolgreiche Durchsetzung der Massenproduktion hatte: Genau wie die staatliche Prohibitionspolitik (etwa gegenüber Alkohol) interpretiert er auch das Interesse der Unternehmer am Sexual- und Familienleben der ArbeiterInnen als Strategie, um die psychophysische Anpassung der Einzelnen an die Anforderungen monotoner Fabrikarbeit abzusichern. (2)

prekäre Familienmodelle

Das Bemerkenswerte an der SGB II-Regelung besteht also vor allem darin, dass die disziplinierende und "aktivierende" Einflussnahme nun explizit als Aufgabe der "Bedarfsgemeinschaften" gesetzlich festgeschrieben wird. Das wirft die Frage auf, ob dies nicht eher ein Hinweis darauf ist, wie sehr die traditionellen Formen der innerfamiliären Reproduktion gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse in die Krise geraten sind. Die Anpassungsleistung, die dort stattgefunden hat, war nur so lange ausreichend zuverlässig, wie die Orientierung von weiblicher Sinnstiftung auf die heterosexuelle Kleinfamilie genauso als natürliche Grundlage menschlicher Existenz allgemein anerkannt war wie der männliche Wunsch, Familienoberhaupt zu sein. Beides wurde weitgehend in die individuelle Lebensplanung übernommen.

Diese traditionellen Vorstellungen sind inzwischen auf allen Ebenen brüchig. Doch ihrer Krise kann der Staat mit Sicherheit nicht allein durch Kontrolle und Repression begegnen. Insofern ist es eine zentrale Frage, wie das Bild der eigenverantwortlichen, sich ewig selbst aktivierenden "Bedarfsgemeinschaft", deren größte Angst es ist, anderen oder der Allgemeinheit auf der Tasche zu liegen, mit entsprechenden kulturellen und moralischen Diskursen korrespondiert und wie es im Alltagsverstand der Einzelnen festgeschrieben wird.

Bleiben wir bei dem SGB II und dem Arbeitsmarkt. Welches Bild einer "flexibilisierten Bedarfsgemeinschaft" ist hier enthalten? Man kann u.E. nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass der traditionelle männliche Ernährer auch weiterhin als Familienvorstand fungiert bzw. die Bedarfsgemeinschaft vertritt. Betrachtet man die Berechnungen der Regelsätze und Freibeträge für den Hinzuverdienst (§§ 11 und 30 SGB II), so zeigt sich, dass der Gesetzgeber einen Nettoverdienst von knapp 800 Euro für einen Zwei-Personen Haushalt als ausreichend ansieht. Ab dieser Grenze besteht kein Anspruch auf ALG II mehr. Ist der bisherige (männliche) Haushaltsvorstand länger als 12 Monate arbeitslos (und hat er daher keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld I mehr) und hat seine Frau einen so genannten Minijob in Höhe von 800 Euro, so wird ihr Einkommen zum Familieneinkommen. Die bisherigen "Zuverdienste" von Frauen werden nun als Alleinverdienste für die Familie "anerkannt". Das bedeutet in der Regel ein Leben auf Sozialhilfeniveau ohne weitere Ansprüche - auch nicht des Mannes.

Der Arbeitsmarkt bietet schon lange nicht mehr die Möglichkeit, problemlos die Anforderungen des traditionellen männlichen Alleinverdieners mit entsprechendem Einkommen und kontinuierlicher Erwerbsbiografie zu erfüllen. Dabei treten die Geschlechter auf Grund des geschlechtsspezifisch gespaltenen Arbeitsmarktes zweifellos von unterschiedlichen Startpositionen aus in die massiven Kürzungen und sozialen "Reformen" ein. Außerdem kommen Frauen nun seltener in den Genuss der - ohnehin knapper bemessenen - Beschäftigungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, weil das Vermögen des Partners stärker berücksichtigt wird: Wer deswegen keine Leistung erhält, bekommt auch keine Maßnahme mehr. Zusätzlich zu dem Umstand, dass Frauen ohnehin vor allem auf prekäre, sozialversicherungsfreie Niedriglohnverhältnisse festgelegt werden, wird ihnen somit der Zugang zu den "aktiven Arbeitsmarktpolitiken" weiter erschwert.

Weiterhin sind es Frauen, die hauptsächlich für die Pflege und Erziehung der Kinder sowie für die individuelle Reproduktion verantwortlich sind. Doch auch im Niedriglohnsektor wird ein/e voll flexible ArbeitnehmerIn erwartet. Unternehmensinterne Maßnahmen zur "Verbesserung von Vereinbarkeit von Familie und Beruf", wie sie seit Jahren von der Bundesregierung als familienpolitische Strategie gepriesen werden, sind hier nicht zu erwarten. In Zukunft ist damit zu rechnen, dass in steigendem Maß auch Männer in die Billigjobs gedrängt werden - zu Lasten der Frauen, die auf Grund ihrer diskontinuierlichen Erwerbsbiografien auch hier die Verliererinnen sein werden.

Dennoch gehen wir davon aus, dass die aktuellen Regulierungen des Arbeitsmarktes von Widersprüchen geprägt sind, an denen Widerstand ansetzen kann: Selbst wenn bei den Architekten von Hartz-Gesetzen und Agenda 2010 althergebrachte Ideologien und Moralvorstellungen vorherrschen: die sozialen Entwicklungen, die mit diesen Konzepten verbunden sind, unterlaufen das längst obsolet gewordene traditionelle Familienbild und konterkarieren seine Festigung. Die Regulierung von Arbeitsverhältnissen und die Zugangsberechtigungen für staatliche Leistungen insgesamt werden faktisch an die Lebenspraxen von Frauen angepasst - mitsamt den inhärenten extrem hohen Armutsrisiken und prekären Beschäftigungssituationen. Für den männlichen Ernährer bleibt hier wenig Platz. Insofern müssen neue analytische Begriffe gefunden werden, mit denen die Benachteiligungen von Frauen gefasst werden können, die wir in den immer weiter prekarisierten Lebensverhältnissen finden. Zugleich sollten wir darin zum Ausdruck bringen, dass wir kein Interesse haben an einem Leben in "Bedarfsgemeinschaften", in denen wir - geschlechterflexibel oder nicht - unsere Lebensgestaltung daran ausrichten, wie wir fit werden für ein Überleben in einer an Profit orientierten Gesellschaft.

Kirsten Wendt,

Iris Nowak

Anmerkungen:

1) Jaques Donzelot: "Die Ordnung der Familie", Frankfurt/Main, 1979

2) Antonio Gramsci. "Gefängnishefte", Bd. 3, Hamburg/Berlin 1992