LESERINNENBRIEFE
Zwangsläufige Verkürzungen
Betr.: Roth-Debatte, ak 483/484
Gegen Roths Analyse in ak 483 wurde eingewandt, seine Gegenperspektiven seien "verkürzt". (...) Ich glaube nicht, dass in einem Artikel, der ursprünglich als Rede konzipiert war, alles Notwendige und alle Details angesprochen werden könnten, die bei einem solchen Generalthema angesprochen werden müssten.
Der Wert dieses Beitrags von Roth sollte mehr an dem Vorgeschlagenen gemessen werden. Roth sagt völlig richtig, dass die neokonservative Form der sozialen Demontage "weltweit" - das schließt natürlich geographisch-gesellschaftliche Unterschiede ein - stattfindet. Und es ist ein Fakt, dass von einer weltweiten Mehrheit - zwar in unterschiedlicher Weise - die Demontage (noch) geduldet wird.
Der Widerstand gegen die vom kapitalistischen Weltsystem zu verantwortenden und regional-kulturell immer geringer werdenden Anpassungs- und Diversifikationsmöglichkeiten einer vernünftigen und gerechten Lebensorganisation hat nur dann Sinn und Zukunft - so verstehe ich Roth -, wenn er mit demokratischen Veränderungen der Lebensweise der jetzt Leidenden einhergeht, deren Art der Leidensreaktionen - die Geschichte ist voll davon - in der Regel geprägt ist von denen, deren Macht sie ausgeliefert waren. Insofern ist "Opfer des Kapitalismus" zu sein, keinerlei Legitimation für künftige und soziale Weltgestaltung.
Die vorherrschenden und zu verändernden gesellschaftlichen Bedingungen begünstigen fast ausschließlich die Reproduktion aggressiver Verhaltensweisen, die in besseren Verhältnissen solchen Menschen nicht notwendig erscheinen müssten.
Auch hierin ist Roth Recht zu geben: Die demokratische Vorgestaltung der Akteure von Gegenmacht kann nur in einer internationalen Perspektive gelingen. Insofern sind antikapitalistische Organisationsmodelle im EU- oder Europa-Rahmen bestenfalls Fragmente oder dysfunktional, wenn sie sich auf diesen Rahmen beschränken. (...)
Eine imperialismus-frei Menschlichkeit bzw. Lebendigkeit kann sich nur dann entwickeln, wenn die Veränderungswilligen jene menschen- und natur-feindlichen ökonomistischen Sichtweisen und Motive exakt kennen, die sie minimieren müssen, um diesem gerupften Globus eine weniger düstere Zukunft anbieten zu können. Die gerechte möglichst herrschaftsfreie Gestaltung der Ökonomien von Gesellschaften kann die einzige Rettung der kapitalistische Fall von Überproduktion durch Wenige und Fehlkonsumption von vielen sein.
Vor lauter Details sollten aber die wichtigsten Faktoren auf dem Weg zu diesem Ziel nicht vergessen werden, die ich - wie Roth - für unabdingbar halte:
1. Der demokratische Umgang innerhalb und außerhalb der sozialen Gegenbewegungen,
2. der Aufbau globaler Netzwerke von Basisdemokratien.
Karl-Rainer Fabig
Kampfbereitschaft wecken
Betr.: ak 482, Perspektiven von oben - Gegenperspektiven von unten
(...) Ich habe keine Illusionen über das, was vom deutschen Proletariat übrig geblieben ist. Schließlich hat der größte Teil der Bevölkerung bis zum 9. November 1989 und etwas drüber hinaus durch und mit dem Konsumterror im "Schaufenster des Westens" nicht schlecht gelebt. Arbeitskämpfe in dieser Zeit, auch wenn sie teilweise heftig geführt wurden, endeten immer in der Form, dass die westdeutschen Gewerkschaften als staatstragende Organisationen anerkannt wurden und somit ihren entscheidenden Beitrag dazu geleistet haben, besonders die Lohnabhängigen in dieses kapitalistische System zu integrieren. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe erlebt wie sich Aufsichtsratmandate oder Sozialpläne zu Lasten eines Klassenbewusstseins ausgewirkt haben und auch weiterhin auswirken. Unter diesen Umständen ist es einfach notwendig darüber nachzudenken, wie sich unter dem Eindruck des spürbaren Sozialabbaus das Bewusstsein der Menschen entwickelt. (...)
Es müssen auch kritisch die Großdemos am 3. April in Berlin, Köln und Stuttgart eingeschätzt werden. Zweifelsohne war eine große Mobilisierung gegen den Sozialabbau vorhanden, nur im Nachhinein wird deutlich, mit Latschdemos kann niemand das Kapital und seine politischen Helfer beeindrucken. Es reicht auch nicht aus, wenn Spitzenfunktionäre des DGB auf solchen Großdemos die Backen aufblasen, aber spürbare Aktionen, die das kapitalistische System treffen, ausbleiben. Es geht dabei nicht um einen Generalstreik, von dem der eine oder andere träumt, es geht schlicht und einfach darum, darüber nachzudenken, wie und wo mensch möglichst viel Sand ins Getriebe des Kapitalismus schmeißen kann. (...)
Es muss mit und aus dem vorhandenen Protest gegen den Sozialabbau ein Bewusstsein entwickelt werden, damit es zu einer Kampfbereitschaft für radikale Reformen kommt. Dabei darf auf keinen Fall der Anschein erweckt werden, es gehe um die Reformierung dieses kapitalistischen Systems. (...) In diesem Zusammenhang kommt die radikale Linke nicht daran vorbei, Vorstellungen zu entwickeln, wie ein selbstbestimmtes Leben und ein selbstbestimmtes Arbeiten aussehen könnte.
Paul Michalowicz