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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 486 / 20.8.2004

Shoah-Gedenken und "europäische Identität"

Replik auf "Old Europes Verführungsstrategien" in ak 485

Ein Alarmruf mobilisiert die antideutsche Szene: Die seit einiger Zeit zu beobachtenden Bemühungen um ein "identitäres Projekt Europa" - verstanden als eine dem US-amerikanischen Unilateralismus gegenüber tretende europäische "Wertegemeinschaft" - würden zwangsläufig auch eine "deutsch-europäische Verdrehung der nationalsozialistischen Vergangenheit" mit sich bringen und der "Relativierung der Shoah" Vorschub leisten. (1) Die Light-Version dieser These ist in dem Artikel "Old Europes Verführungsstrategien" der Berliner Gruppe Kritik & Praxis (K&P) in ak 485 nachlesbar. Was eine Replik herausfordert.

Zwei der "Verführer" werden von K&P beim Namen genannt: Es handelt sich um die Philosophen Jürgen Habermas und Jacques Derrida. Mit ihrem Text "Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas" (FAZ, 31.5.2003), haben sie, wie K&P richtig feststellt, den Versuch unternommen, "eine gewissermaßen ,geläuterte` europäische Identität" zu erfinden. Brandgefährlich erscheint mir vor allem ihr Bekenntnis zu einer "gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik". Habermas und Derrida schreiben: "Europa muss sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren." Das erfordert aus ihrer Sicht den kontinentalen Schulterschluss: "Im Rahmen der künftigen europäischen Verfassung darf und kann es keinen Separatismus geben. (...) Das avantgardistische Kerneuropa darf sich nicht zu einem Kleineuropa verfestigen; es muss - wie so oft - die Lokomotive sein." Während die deutschen und französischen Lokführer bestimmen, wohin die Reise geht, dürfen die Fahrgäste nicht einmal aussteigen - eine deutlich schlimmere Vision als die des "Kerneuropa"-Erfinders Wolfgang Schäuble, der seinerzeit ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten" propagiert hatte.

Die AutorInnen von K&P widmen sich indes vor allem dem Versuch von Habermas und Derrida, eine europäische Wertegemeinschaft zu konstruieren. Dieser Versuch sei "nicht besonders erfolgreich" gewesen. Mit einer Einschränkung: "Allerdings wurde in den Feuilletons immer wieder der angeblich reflexive Bezug auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts aufgegriffen, der die europäischen Völker verbinde und von anderen unterscheide. Damit wird aus der Erinnerung an die Shoah ein europäisches Projekt. Die Unterschiede zwischen Opfern - den Ländern, die von den Deutschen besetzt waren - und den Tätern wird verdeckt."

Deutsche Täter, europäische Komplizen

Das sind starke Worte. Die selbst gestellte Frage nach "historischen Erfahrungen, Traditionen und Errungenschaften", die eine "europäische Identität" konstituieren könnten, hatten Habermas und Derrida u.a. so beantwortet: "Das heutige Europa ist durch die Erfahrungen der totalitären Regime des zwanzigsten Jahrhunderts und durch den Holocaust - die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden, in die das NS-Regime auch die Gesellschaften der eroberten Länder verstrickt hat - gekennzeichnet." Aus diesem einen Satz eine Gleichsetzung von Tätern und Opfern herauszulesen, erscheint mir verfehlt. Und wieso ist es verwerflich, wenn Habermas und Derrida "aus der Erinnerung an die Shoah ein europäisches Projekt" machen wollen? Die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden war ohne Zweifel ein "deutsches Projekt", die Mehrheit der 6 Millionen Opfer aber kam aus Polen (3 Millionen), der Sowjetunion (1,1 Millionen) und Ungarn (569.000). Die Erinnerung an die Ermordeten wach zu halten, muss von staatlichen und überstaatlichen Institutionen, die EU-Ebene eingeschlossen, geradezu gefordert werden - auch wenn die offizielle Erinnerungspolitik oft genug instrumentellen Charakter hat und, namentlich in Deutschland, dem Rest der Welt stolz als Beweis der eigenen "Läuterung" präsentiert wird.

Die Singularität des deutschen Menschheitsverbrechens wird auch nicht automatisch durch den Verweis auf die Mittäterschaft Nicht-Deutscher relativiert - auch wenn das von Rechten und Konservativen immer wieder versucht wird. Die Rekonstruktion der historischen Wahrheit ist aber unverzichtbar, wenn man der Wiederholungsgefahr begegnen will. Laut Adornos "kategorischem Imperativ" sind "die Menschen im Stande ihrer Unfreiheit" aufgefordert, "ihr Denken und Handeln so auszurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts ähnliches geschehe". Anders ausgedrückt: "Gerade wegen seiner einzigartigen Erscheinung in der Weltgeschichte darf der Holocaust nicht mythologisierend enthistorisiert, vor allem aber nicht durch Ideologie partikular vereinnahmt werden, sondern muss zum nie mehr wegzudenkenden historischen Warnsignal werden, das als solches eben nicht als vergleichbares Phänomen ,ausharrt`, sondern unentwegt auf die Möglichkeit menschlicher Barbarei verweist." (2) Das Zitat stammt von Moshe Zuckermann, der in seinem berühmten Streitgespräch mit Thomas Ebermann, Hermann L. Gremliza und Volker Weiß auch darlegt, was für ihn aus der unterschiedlichen Erinnerungskultur in Israel und Deutschland folgt: "Ich will die Shoah von der Instrumentalisierung bereinigen, indem ich die Shoah aus der partikular zionistischen Rezeption in ihre universelle Bedeutung hebe. In Deutschland würde ich übrigens genau das Umgekehrte empfehlen, nämlich das Universelle der Shoah zu partikularisieren beziehungsweise zu konkretisieren, und zwar deshalb, weil die Juden eben doch die Hauptopfer der Katastrophe waren und die Deutschen die Haupttäter." (3)

Die Shoah als "historisches Warnsignal"

Bezogen auf die heutige Debatte in den von Nazi-Deutschland besetzten Ländern kommen als dritte Gruppe neben den jüdischen Opfern und den deutschen Haupttätern die einheimischen Mittäter hinzu. Diese werden von den dort verantwortlichen PolitikerInnen immer wieder absichtsvoll "vergessen", wie das Beispiel des neuen EU-Mitglieds Lettland erst kürzlich zeigte. Auf der Eröffnungsveranstaltung der diesjährigen Leipziger Buchmesse provozierte die ehemalige lettische Außenministerin Sandra Kalniete mit den Worten, "dass beide totalitären Regime - Nazismus und Kommunismus - gleich kriminell waren. Es darf niemals eine Unterscheidung zwischen ihnen geben, nur weil eine Seite auf der Seite der Sieger gestanden hat." Kalnietes Äußerung ist deshalb besonders skandalös, weil sie das lettische Volk zum doppelten Opfer erklärt und dabei verschweigt, dass lettische SS- und Polizei-Einheiten an der Ermordung der Juden in Lettland aktiv beteiligt waren. 30.000 der über 70.000 jüdischen Opfer der Shoah in Lettland wurden allein durch das 400 Mann zählende lettische Mordkommando unter Victor Arajs umgebracht.

Während Kalnietes Rede in Leipzig viel zu wenig Empörung auslöste - Salomon Korn verließ unter Protest die Veranstaltung - trifft sie in Lettland offenbar auf breite Zustimmung. "Die aktuelle geschichtspolitische Debatte in Lettland", schreibt Micha Brumlik, ziele darauf ab, "die Tätigkeit der lettischen Hilfspolizei und der annähernd 100.000 Mitglieder der ,Lettischen Legion`... als verständliche und entschuldbare Aktivität im Kampf um die nationale Unabhängigkeit gegen die Sowjetunion zu betrachten." (taz, 10.4.2004) Hier kann Einmischung von außen nur nützlich sein - weniger durch EU-SpitzenpolitikerInnen als durch jene zivilgesellschaftlichen Instanzen, die Habermas und Derrida mit ihrem europäischen Erinnerungsprojekt erreichen wollen. Diese Art der Einmischung wäre eine Unterstützung für die schwachen Kräfte, die sich in Lettland, seinen baltischen Nachbarländern und anderen neuen osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten dem Antisemitismus und der nationalen Amnesie entgegenstellen. Nicht mehr und nicht weniger.

Im übrigen wäre die Europäisierung der Erinnerung an die Shoah nur ein Zwischenschritt hin zu ihrer Universalisierung. Wie ungeheuer schwierig die Schaffung eines Bewusstseins für die jüdische Leidensgeschichte namentlich in den arabischen Staaten ist, hat Omar Kamil in seinem Zweiteiler "Araber, Antisemitismus und Holocaust" (ak 473 und 474) heraus gearbeitet. Sein Text endet mit dem Appell: "Dabei kann Europa einen konstruktiven Beitrag leisten. Moralische und finanzielle Unterstützung der Ideen der neuen Intellektuellen in den arabischen Gesellschaften ist notwendiger denn je." Europäische Intellektuelle wie Habermas und Derrida, die dabei helfen könnten, sollten nicht als Geschichtsfälscher und Shoah-Relativierer denunziert werden.

Js.

Anmerkungen:

1) Zitate aus der Pressemitteilung von BgR Leipzig & Antifaschistischer Frauenblock zur Demo "Die neue Heimat Europa verraten" am 24.7.2004 in Leipzig

2) "Zweierlei Holocaust", Göttingen 1998, S. 179

3) "Zweierlei Israel", Hamburg 2003, S. 31; vgl. ak 473