Schwarze Katzen in der Hängematte
Aneignungsbewegung in den 1980er Jahren - ein Rückblick aus aktuellem Anlass
Ein alter Begriff kommt wieder groß raus: Die "Umsonst-Kampagnen" in Berlin, Hamburg und anderswo haben der "Aneignung" zu neuer Popularität verholfen. Bei aller Ähnlichkeit weist diese neue Diskussion interessante Unterschiede zu älteren Debatten auf: Vor über 20 Jahren entstanden in Hamburg die Jobber- und Erwerbsloseninitiativen - nicht als Aneignungskampagne, sondern als Versuch einer organisierten Aneignungsbewegung. Der folgende Text kann und will keine Geschichte dieses Ansatzes schreiben. Er will lediglich einige Schlaglichter setzen, die für die heutigen Auseinandersetzungen von besonderer Bedeutung sein könnten.
April 1983. In Hamburg laufen die Vorbereitungen für den 1. Mai. Ein ungewöhnliches Flugblatt taucht auf: "Für garantiertes Mindesteinkommen für Erwerbslose! Netto-Mindestlohn für alle Arbeiter!" Weitere Forderungen sind: "Nulltarif für alle öffentlichen und kommunalen Einrichtungen" "Keine Zwangsarbeit und Kasernierung für Sozialhilfeempfänger und Asylbewerber!" "Keine Ausweisung von ausländischen Sozialhilfeempfängern!"
Das Flugblatt markiert den ersten öffentlichen Auftritt des Erwerbslosenladens Balduinstraße in Hamburg St. Pauli und damit den Abschluss eines nahezu einjährigen Vorbereitungs- und Organisierungsprozesses. Anfang der 1980er Jahre ist die Hochzeit der Hausbesetzungen und der Beginn der Autonomie als politischer Bewegung in Deutschland. Und es ist die Zeit der Neuen Armut. 1984 erscheint die DGB-Studie, die das Thema "Armut in Deutschland" zu einem breiten gesellschaftlichen Skandal macht. Bereits zwei Jahre vorher - nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Häuserbewegung - waren im Oktober und November 1982 die Nummern 10 und 11 der Autonomie. Neue Folge erschienen, "Antiimperialismus in den 80er Jahren" und "Zwang zur Arbeit. Neue Armut".
Die sozialrevolutionäre Diskussion um die neue Massenarmut, um die weltweite Mobilisierung von Arbeitskraft und um die autonomen Bewegungen und Kämpfe der Unterklassen waren wichtige theoretische Orientierungspunkte bei der Herausbildung dessen, was später einmal "Jobberansatz" genannt werden sollte. Die Erinnerung an diesen Bezugsrahmen wie auch an die damalige gesellschaftliche Situation ist für das Verständnis der "Jobberpolitik" ebenso wichtig wie für den Vergleich mit den heutigen Diskussionen. Trotz Hartz IV, Prekarisierung und Verarmung sind die Koordinaten, insbesondere die der innerlinken Strategiedebatte, heute deutlich andere als vor 20 Jahren.
Vor allem spielten sich die damaligen Diskussionen nicht im luftleeren Raum ab. Die "Jobber-" oder auch "Schwarze-Katze-Gruppen" (SK-Gruppen) in Hamburg (1) waren sicher der radikalste Teil der damaligen Erwerbslosenbewegung, aber sie waren eben nur ein Teil. Eine der Bedingungen für ihren Erfolg und den Aufschwung - und eine entscheidende Differenz zu heute - bestand nicht zuletzt darin, dass es damals ein breites Netz unabhängiger und mehr oder weniger staatskritischer Erwerbslosengruppen gegeben hat. Die Koordination Hamburger Erwerbsloseninitiativen, die z.B. die Nulltarifwochen 1985 und 1987 organisiert hatte, bestand neben den JobberInnen auch aus kirchlichen, gewerkschaftlichen und der DKP nahe stehenden Gruppen. Die Zusammenarbeit in der Koordination war niemals einfach und spannungsfrei, aber sie hat über einen langen Zeitraum hinweg erstaunlich gut funktioniert. Und sie war von den SK-Gruppen auch explizit gewollt.
Einkommen für alle statt Arbeit
für alle
Die Jobber- und Erwerbsloseninitiativen waren von ihrem Selbstverständnis einerseits eine klassische Selbst(hilfe-)organisation von SozialhilfeempfängerInnen, Erwerbslosen und prekär Beschäftigten: "Wir sind Arbeitslose, die sich zu einer Arbeitsloseninitiative zusammengeschlossen haben, weil wir keinen Bock mehr haben, mit dieser Scheißsituation - keine Kohle, keine Arbeit, keine Lehrstelle und oftmals keine Bude - alleine dazustehen", heißt es in dem allerersten Flugblatt vom März 1982. Andererseits ging es damaligen AktivistInnen aber auch um ein bewusstes linksradikales politisches Projekt: Gegen kapitalistische Lohnarbeit, gegen die gewerkschaftliche und traditionssozialistische Orientierung auf Arbeit, für eine alltägliche Aneignungspraxis - damit war in knapper Form die Stoßrichtung der sozialrevolutionären Jobberpraxis umrissen. (2)
Ziel war eine auf Dauer angelegte Verankerung im proletarischen Alltag. Hier, im strategischen Selbstverständnis, liegt einer der wesentlichen Unterschiede des "Jobberansatzes" zu den heutigen "Umsonst"-Kampagnen: Statt (punktueller) Intervention von außen, dauerhafte Intervention von innen. Statt Kampagne Organisierung. Mit den "Umsonst"-Initiativen teilten die JobberInnen ein gewisses "Primat der Praxis"; doch die konzeptionelle und strategische Ausrichtung dieser Praxis war eine deutlich andere.
Den SK-Gruppen ging es darum, die Bedingungen zum politischen Thema zu machen, unter denen das alltägliche Einkommen und Leben organisiert werden musste: Wohnen/Miete, Arbeit/Lohn, Erwerbslosigkeit/Sozialleistungen. Angesichts der thematischen Bandbreite der Jobber- und Erwerbsloseninitiativen ist aus heutiger Sicht der konsequente internationalistische bzw. antirassistische Bezug besonders bemerkenswert. Von Anfang an war der Kampf gegen die bundesdeutsche Asyl- und Abschiebepolitik und gegen sozialpolitische Ausgrenzungsstrategien gegen Flüchtlinge und MigrantInnen integraler Bestandteil der JobberInnen-Politik. (3)
In bewusstem Gegensatz zu den unterschiedlichen autonomen (Szene-)Organisierungsversuchen vertraten die JobberInnen in der Organisationsfrage einen dezidierten Massenansatz. Dies war nicht nur damals umstritten (4), sondern dürfte auch heute einer der zentralen Auseinandersetzungspunkte sein - nicht nur mit allen Spielarten autonomer Selbstgenügsamkeit, sondern auch mit weiten Teilen einer "interventionistischen Linken". Ganz im Sinne einer sozialen Selbstorganisierung haben sich die JobberInnen politisch stets als Teil des Proletariats bzw. der Unterklassen verstanden. Es ging also nicht um die berüchtigten autonomen "Bevölkerungsflugblätter", sondern um eine Verankerung in der alltäglichen Klassenrealität.
Natürlich hat das in den offenen Strukturen zu Konflikten und Auseinandersetzungen mit den allgegenwärtigen sexistischen, homophoben oder rassistischen Denk- und Verhaltensweisen geführt. Doch in aller Regel ist darauf nicht mit sofortigem Rausschmiss reagiert worden, sondern mit heftiger Konfrontation und Debatte. Mit "Massenopportunismus" und falschen Toleranzen hatte das ganz und gar nichts zu tun, wohl aber mit konsequenten Auseinandersetzungen innerhalb "der Klasse". Die JobberInnen haben sich bewusst und gezielt dem Spagat zwischen tatsächlicher Selbstorganisation und linksradikalem Anspruch ausgesetzt, dem Spagat zwischen "Sozialarbeit" und revolutionärer Politik. Nicht zuletzt darin lag eine ihrer großen Stärken, an die heute angeknüpft werden könnte.
Unmittelbarer Ausdruck dieser "Massenorientierung" war das Konzept der Läden: dezentrale offene Strukturen (heute würde man sagen "Soziale Zentren"), die sowohl als Treffpunkt und Diskussionsort der AktivistInnen dienten als auch als Orte der Begegnung und Beratung von "Betroffenen". Das klassische Muster der Läden bestand in regelmäßigen offenen Treffpunkten (i.d.R. Erwerbslosenfrühstücke und kollektive Beratungstermine, aber auch Motorradwerkstätten und Kinderbetreuung), Termine von offenen Arbeitsgruppen und Ladenplena o.Ä. Auf dem Höhepunkt der Bewegung 1986/87 existierten fünf Läden in St.Pauli, Altona, Bergedorf, Harburg und Barmbek. Dazu gab es ein Schulungszentrum mit Bibliothek, eine eigene Zeitung, einen Organisationsrundbrief, regelmäßige Koordinationstreffen und eine ganze Reihe thematischer Arbeitsgruppen (von der AG Ausländerpolitik bis zur AG Staatlicher Arbeitsmarkt).
Das, was die Jobber- und Erwerbsloseninitiativen in Hamburg und überregional bekannt gemacht hat, war die direkte Konfrontation mit den Sozial- und Arbeitsämtern und die Politik der kollektiven Aneignung. Das Recht auf eine menschenwürdige Existenz für alle stand hier und heute auf der Tagesordnung - und zwar nicht als Re-Regulierungsforderung an staatliche Instanzen, sondern als ein Anspruch, der unmittelbar praktisch zum Ausdruck gebracht werden sollte.
Neben größeren Nulltarif-Kampagnen (5) gab es immer wieder einzelne Aktionen: Flugblätter mit Tipps und Tricks für SchwarzfahrerInnen, kostenlose Kinobesuche, Begehungen bei Arbeits- und Sozialämtern oder - vereinzelt - auch bei Leiharbeitsfirmen, die durch schikanöse Arbeitsbedingungen und säumige Lohnzahlungen aufgefallen waren. Die Nulltarif-Aktionen bezogen sich keineswegs nur auf den Öffentlichen Personennahverkehr. "Vorwärts und nicht bezahlen" galt auch für die kostenlosen Besuche von Schwimmbädern, Kinos, Theatern, Pop-Konzerten oder Hagenbecks Tierpark.
Organisierung, Schulung, Widerstand
Das Aneignungskonzept der Jobberläden war immer offensiv und kollektiv angelegt (Natürlich ist nebenher quasi privat auch konventionell schwarzgefahren und eingeklaut worden, genauso wie Stromklau und Versicherungsbetrug zum subversiven Alltag gehört haben). Die Aktionen wurden breit diskutiert, auch das Umgehen mit der Polizei. Die Aktionen zielten auf Öffentlichkeit und leichte Beteiligung. Im Zentrum stand der gesellschaftliche Skandal, dass Menschen mit wenig Geld von nahezu allen Bereichen des öffentlichen und kulturellen Lebens ausgeschlossen werden. Dabei wird leicht vergessen, dass es in den Debatten und Flugblättern noch um sehr viel mehr ging, nämlich z.B. darum, welche Kultur "wir" eigentlich wollen, welche Bedürfnisse subventioniert werden und welche nicht. Die JobberInnen wollten die gesamte Bäckerei und nicht nur ein Stück vom Kuchen. Sie wollten aber auch nach anderen Rezepten backen.
In diesen Kampagnen liegt sicherlich die größte Gemeinsamkeit mit den gegenwärtigen "Umsonst"-Aktionen. Allerdings gibt es auch hier zwei bedeutsame Unterschiede: Zum einen haben die JobberInnen vor jeder Kampagne massiv auf den Ämtern mobilisiert. Es ging nicht nur um ein von außen gesetztes Exempel, alle sollten mitmachen. Zum zweiten waren solche Aktionen immer nur ein Element der politischen Praxis. Der Kern bestand in den täglichen Auseinandersetzungen mit den Institutionen des Sozialstaats, den Ämtern und den öffentlichen Beschäftigungsmaßnahmen.
Das "vollständige Ausnutzen der sozialen Hängematte" setzte umfangreiches Wissen und Beratung voraus: Was kann beantragt werden? Welche Angaben sollte man gegenüber Ämtern besser nicht machen? Welche Tipps und Tricks gibt es? Wie soll man mit bestimmten Bescheiden umgehen? Wie lege ich Widerspruch oder Klage ein? Dies und mehr waren die Themen der Beratungsfrühstücke oder der unzähligen Flugblatter, die zwischen 1982 und 1992 verteilt wurden. Und immer wieder kam es zu direkten Aktionen vor und in den Ämtern selbst mit dem Aufbau von Infotischen und Zügen durch die Flure und Warteräume mit Megafon und Flugblättern.
Im Vergleich zu dieser Schwerpunktsetzung und auch in gewissem Gegensatz zur Bezeichnung "Jobberinitiativen" ist es den JobberInnen nie gelungen, eine wirkliche dauerhafte Praxis im Bereich der prekären Arbeit und Jobberei zu entwickeln. Das lag nicht an einer bewussten Ausblendung. Es hat immer wieder vereinzelte Interventionsversuche, Flugblätter und öffentliche Statements gegeben, die sich gegen den staatlich organisierten Arbeitszwang und Leiharbeitsfirmen richteten oder sich mit den Streiks für die 35-Stunden-Woche oder den Kämpfen der Rheinhausener Stahlarbeiter solidarisierten. Aber zu einer organisierten Alltagspraxis eines "Kampfs gegen die Arbeit" in der Arbeit ist es nicht gekommen, die "JobberInnengruppe" innerhalb des Gesamtzusammenhangs war im Vergleich eher kurzlebig. Heute, wo sich das Spektrum der Arbeit zwischen Pflichtarbeit, Minijobs, Leiharbeit und prekärer Selbstständigkeit gewaltig ausgeweitet hat, stellt sich dieses Problem in unveränderter Schärfe. Und nach wie vor steht eine wirkliche Antwort auf die Frage der Jobberorganisierung noch aus.
"Wir nehmen uns, was wir brauchen"
Im Laufe der Jahre sind hunderte von Menschen durch die Einrichtungen der Jobber- und Erwerbsloseninitiativen gegangen. "Hängen geblieben" sind die wenigsten. Die Zahl derjenigen, die sich im weitesten Sinne als organisierte JobberInnen verstanden haben, dürfte kaum über 100 Personen hinausgekommen sein. Viele sind immer dann gekommen, wenn sie konkreten Ärger gehabt haben oder wenn sie im Rahmen eines Frühstücks mal wieder unter Leute kommen wollten.
Der Ausstrahlungseffekt der Läden war jedoch enorm. Ein internes Papier der Hamburger Sozialbehörde beklagte schon 1985, dass SozialhilfeempfängerInnen in Hamburg außergewöhnlich gut informiert seien und dass dies ein wesentlicher Grund für steigende Sozialhilfezahlungen sei. Noch in den 1990er Jahren gab es Fälle, wo sich Leute den Button mit der Schwarzen Katze an die Jacke geheftet haben, wenn sie einen Ämtertermin wahrnehmen mussten und die Sachbearbeiterinnen einschüchtern wollten.
Mit dem Verschwinden der Erwerbslosenbewegung lösten sich Anfang der 1990er Jahre auch die Schwarze-Katze-Gruppen auf. Die Gründe dafür sind vielfältig, eine gemeinsame Aufarbeitung der Erfahrungen fehlt bis heute. Ein wichtiges Moment mag darin liegen, dass sich eine dauerhafte Organisierung als Erwerbslose als genauso schwierig erweist wie eine Organisierung als JobberIn. Dazu kommt, dass die Nischen der sozialen Hängematte zwischen Erwerbslosigkeit, Sozialhilfebezug, ABM und Jobberei spürbar enger geworden sind.
Wenn sich heute vor dem Hintergrund von drohender Verarmung, Arbeitsdienst und sozialen Rechten wieder an die Jobber- und Erwerbslosenläden erinnert wird, so ist das gut. Worum es allerdings nicht gehen kann, ist eine schlichte Wiederholung. Für die Frage, wie heute Organisierung im Bereich prekärer Arbeit, Armut und Erwerbslosigkeit aussehen kann, liefert die Jobbererfahrung wichtige Hinweise, aber keine Plaupause.
Dirk Hauer
Anmerkungen:
1) Das Symbol der Jobber- und Erwerbslosenläden war die schwarze Katze auf rotem Grund, eine sehr bewusste Anspielung auf die operaistische Metapher von ArbeiterInnenautonomie und wilde Streiks ("wildcat strikes").
2) In einem Diskussionspapier für den 1. Bundeskongress der Erwerbsloseninitiativen im Dezember 1982 hieß es u.a.: "Wir wollen 1.500 DM für alle statt Arbeit für alle. (...) Vollständiges Ausnutzen der sozialen Hängematte (...) Den Reichtum dort holen, wo er angesammelt ist, statt sich ausbeuten zu lassen: Selbstbedienung in großen Läden, Banken, Nulltarif bei Verkehrsbetrieben (...)".
3) Als es beispielsweise 1982 zu Widerstandsaktionen von Flüchtlingen im Sammellager Kollow (Landkreis Lauenburg) kam, haben die JobberInnen am 24.12.1982 die Petri-Kirche in Hamburg besetzt.
4) So galten die JobberInnen manchen Autonomen und AntiimperialistInnen als "Reformisten"
5) Etwa die Beteiligung an der bundesweiten Erwerbslosenaktionswoche Anfang Mai 1983; weitere Nulltarif-Aktionstage und -wochen gab es im November 1984, im Oktober 1985, im September 1987 und 1988.