Atempause statt Stillstand
Die Anti-Hartz-Proteste sind keineswegs am Ende
Rund 45.000 Menschen haben am 2. Oktober gegen Hartz IV und die Agenda 2010 demonstriert. Vor nicht allzu langer Zeit wäre bei dieser Zahl große Zufriedenheit aufgekommen, nunmehr aber waren es deutlich weniger, als noch vor einigen Wochen erwartet worden waren. Sind die Sozialproteste in Deutschland also an ihrem Endpunkt angelangt, wie es von taz bis FAZ nahezu unisono heißt? Eine nüchterne Bestandsaufnahme fällt differenzierter aus. Die Krise der Anti-Hartz-Demonstrationen bedeutet nämlich keineswegs, dass die Risse im neoliberalen Gebälk gekittet wären.
Die Demonstration vom 2.10. bildet einen vorläufigen Einschnitt in den bisherigen Sozialprotesten in Deutschland. Vor allem hat sich gezeigt, dass die gewerkschaftsunabhängigen und -kritischen Strömungen in den Protesten an die Grenzen ihrer Mobilisierungsfähigkeit gelangt sind. Strukturen wie attac, die Anti-Hartz-Bündnisse oder die Betriebs- und Gewerkschaftslinken sind (noch) nicht in der Lage, mehrere hunderttausend Menschen zu mobilisieren. Dabei sollte aber auch nicht übersehen werden, dass es zumindest im Westen der Republik eine massive Mobilisierung für den 2. Oktober nicht gegeben hat. Nicht nur der DGB und die Einzelgewerkschaften glänzten durch vornehme Zurückhaltung. Es waren vor allem Menschen aus Ostdeutschland, die sich in Berlin trafen. Das war schon am 1. November 2003 nicht viel anders. Der damalige überraschende Mobilisierungerfolg hatte vor allem damit zu tun, dass sich damals spontan viele Menschen aus dem Berliner Umland dem Protestzug angeschlossen hatten - ein Novum, vielleicht nur vergleichbar den ersten großen diesjährigen Montagsdemonstrationen in Berlin. Gemessen an den 100.000 Menschen vom 1. November 2003 ist der 2. Oktober 2004 sicher ein Rückschritt.
Vom Osten Lernen?
Ein Rückschritt, der allerdings dazu führen könnte, dass der DGB und die Gewerkschaften sich weiter aus den Sozialprotesten zurückziehen. Der Demo-Erfolg vom 1.11.2003 hat in unmittelbarer Konsequenz immerhin den DGB zur aktiven Beteiligung am Europäischen Aktionstag vom 3. April 2004 gezwungen. Nicht nur bei der Mobilisierung zum 2. Oktober hatten sich die Gewerkschaften nunmehr weitgehend zurückgehalten - trotz deutlicher Aufforderungen von attac und anderen, die Verabredungen des Perspektivenkongresses zu gemeinsamen Aktivitäten ernst zu nehmen. Denn es ist offenkundig, dass - zumindest im Westen der Republik - eine außerparlamentarische Massenmobilisierung gegen den Umbau des Sozialstaates nicht ohne die Gewerkschaften möglich ist.
Inhaltliche wie strategische Überlegungen sprechen deshalb dafür, die Proteste gegen Hartz IV und Agenda 2010 mit den innerbetrieblichen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen um Arbeitszeitverlängerungen, Lohnkürzungen und der Debatte um einen gesetzlichen Mindestlohn zu verbinden. Dabei ist eine Adressierung an "die" Gewerkschaften durchaus problematisch, wenn damit in den Inhalten und Aktionsformen auf autonome Positionierungen verzichtet wird. Zum anderen muss klar sein, dass man in der Zusammenarbeit auf das ganze Spektrum gewerkschaftlichen Agierens stoßen wird: auf diejenigen, die den Umbau aktiv mit der Bundesregierung vorantreiben und ihn ideologisch absichern, auf diejenigen, die schon immer jedem politischen und betrieblichen Konflikt aus dem Wege gingen, und auf diejenigen, die (meist noch politisch ausdifferenziert) engagiert an einer Verknüpfung der Proteste arbeiten. Dies wird auch in der Beteiligung an der Aktionswoche von Einzelgewerkschaften Mitte November deutlich sichtbar werden.
Der 2. Oktober hat aber zumindest ansatzweise auch das bestätigt, was sich in den Montagdemonstrationen der vergangenen Wochen bereits offenbart hatte, dass nämlich der Anti-Hartz-Protest in den ostdeutschen Bundesländern anders aussieht und sehr viel besser verankert ist. Die meisten BeobachterInnen in Berlin waren sich einig, dass der Großteil der DemonstrantInnen aus dem Osten kam - TeilnehmerInnen und AktivistInnen der Montagsdemos in Magdeburg, Leipzig, Halle, Rostock etc. und damit Teil der gewissermaßen "neuen" Subjekte, die im August und September für Furore gesorgt hatten.
Doch auch für den Osten gilt offenkundig, dass der Massenprotest in Gestalt der Montagsdemonstrationen fürs Erste seine Dynamik verloren hat. Doch dass nun weniger Menschen gegen Hartz IV auf die Straße gehen, bedeutet keineswegs, dass sie jetzt mit dem Sozialraub der rot-grün-schwarz-gelben Koalition zufriedener wären. Trotz rückläufiger TeilnehmerInnenzahlen bei Demonstrationen ist die Krise der politischen Repräsentanz in diesem Lande ungebrochen. Wie andere Momente dieser Krise auch - Wahlabstinenz, Wahldebakel für SPD und CDU oder rechtsradikale Wahlerfolge - spiegeln die Montagsdemos eher eine widersprüchliche Fixierung auf diese krisenhaften politischen Vermittlungsformen: Wo Wahlen oder Großdemonstrationen die einzigen Formen zu sein scheinen, um Protest zu artikulieren, kann sich Unzufriedenheit und Frust über die Beschränktheit einer Wahl zwischen Pest und Cholera oder die Ergebnislosigkeit des Straßenprotestes nur im Rückzug aus diesen Formen artikulieren.
Die Krise des Sozialprotestes in Deutschland wäre in dieser Lesart vor allem die Krise einer bestimmten Form des Protestes, in der sich letztlich eine appellative Orientierung auf "die Politik" manifestiert. Wenn die taz den Anti-Hartz-DemonstrantInnen vorwirft, sie hätten "keine realpolitische Alternative anbieten" können (taz, 4.10.2004), so ist das natürlich herrschaftslogischer Unsinn. Das Problem besteht eher darin, dass sie sich in der vergeblichen Hoffnung auf eine solche Alternative in der großen Mehrheit ausgerechnet an die Akteure der Berliner Republik adressiert haben. Der Sozialprotest in Deutschland hat keineswegs seinen Frieden mit den herrschenden Verhältnissen gemacht. Er ist aber auch nicht bereit, dies auch nach außen hin zum Ausdruck zu bringen. Ein gewissermaßen "innerer Rückzug" korrespondiert mit einer letztlich doch kalkulierbaren, deswegen ungefährlichen und somit erfolglosen und frustrierenden öffentlichen Bewegungsform - ein sich selbst verstärkender Teufelskreis.
Hingehen,
wo's weh tut
Den Übergang oder zumindest die Parallelität von der Demonstration zum gezielten Regelverstoß haben die Sozialproteste bisher nicht vollzogen, genauso wenig wie den Übergang zu einer realen sozialen Bewegung. Dass dies nicht geschehen ist, hat - auch das hat der Verlauf der letzten Wochen und Monate erneut gezeigt - damit zu tun, dass es nicht nur ein inhaltliches, sondern ebenso ein organisatorisches Manko auf der Linken gibt. Das ist nicht neu und wird wohl auch noch eine ganze Weile so bleiben. Dennoch waren und sind die Proteste nicht nur quantitativ ein Fortschritt - auch wenn die montäglichen Demozahlen zurückgehen.
Wenn man so will, ist nach und mit dem 2. Oktober eine Phase des Sozialprotestes beendet worden, nicht mehr und nicht weniger. Bernd Riexinger, Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart, hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass seit August nahezu eine Million Menschen in Deutschland auf den Straßen waren - ein Umstand, der für sich selbst bemerkenswert ist. (junge Welt, 4.10.2004) Riexinger hat gleichzeitig betont, dass viele der großen und kleinen Demonstrationen von Leuten organisiert und geprägt worden sind, die vorher kaum öffentlich aufgetreten waren. In vielen Städten haben die Proteste basisdemokratische Artikulationsformen hervorgebracht, die es den TeilnehmerInnen tatsächlich möglich gemacht haben, die Demonstrationen als "ihre Demos" zu begreifen. Die Lern- und Diskussionsprozesse, die somit angestoßen worden sind, können gar nicht hoch genug bewertet werden. Das gilt auch für die vielen kleinen Demos in der so genannten Provinz. Von Lübeck bis Halberstadt waren das oft die ersten Straßenaktionen seit langem, und oft genug kam es hier zu Bündnissen und Formen der Zusammenarbeit, von denen man in den "Metropolen" nur träumen konnte.
Sicherlich: Die offenen und basisdemokratischen Strukturen haben auch das innerlinke Sektierertum in seinen schlimmsten Ausprägungen wieder nach oben gespült. Es ist in der Tat eine politische Katastrophe, wie die MLPD in einigen Städten in der Lage war, den Sozialprotest in unerträglicher Weise zu dominieren und ihn in den dumpfesten Phrasen zu ersticken. Wenn mancherorts AktivistInnen entnervt und DemonstrantInnen von der innerlinken Politkultur abgeschreckt sind, dann haben solche sektierischen und spalterischen Verhaltensweisen oft genug eine maßgebliche Rolle gespielt.
Keineswegs alle, aber so manche Schwächen der Sozialproteste hatten auch damit zu tun, dass die organisierte undogmatische Linke sich weitgehend herausgehalten hat bzw. nicht in der Lage war, sich zu den Demonstrationsdynamiken zu verhalten. Dabei ist ein Rückzug aus den Protesten eine ebenso fatale Reaktion wie ein Liebäugeln mit einer Neuauflage unsäglicher machttaktischer Ausschlusstricks und Ausgrenzungspolitiken.
Trügerischer Frieden
Dennoch: Kategorien wie "Niederlage" oder "Ende des Sozialprotestes", wie sie von den bürgerlichen Medien in ihrer keineswegs klammheimlichen Freude bemüht werden, treffen den Zustand des Protest keineswegs. Selbst wenn die Menschen z.Z. nicht mehr bereit sind, ihren Unmut zigtausendfach in Demos zu äußern, so hat der völlig überraschende Anfang der Montagsdemonstrationen gezeigt, wie schnell sich das auch wieder ändern kann. Vor allem aber könnte sich der Unmut in anderen Aktionsformen äußern. Die Nervosität, mit der Politik und Polizei in Wittenberge und Berlin auf Eierwürfe gegen den Kanzler und gegen die VW-Niederlassung reagiert haben, ist ein Indiz dafür, dass zumindest die Gegenseite von einer eher trügerischen Ruhe ausgeht.
Vieles im Rahmen der Hartz-Gesetze ist noch nicht entschieden und wird erst vor Ort, in den kommunalen Sozial- und Arbeitsämtern, festgelegt: von der Ausgestaltung der "angemessenen" Mietkosten, über die tatsächliche Anrechnung von Vermögen bis zum Ob und Wie der 1-Euro-Jobs. Hier dürfte in den nächsten Wochen und Monaten der Ansatzpunkt für realen Widerstand gegen die Agenda 2010 liegen. Dezentrale Aktionen gegen Ämter, gegen die Profiteure und Organisatoren der Pflichtarbeit oder gegen die kommunalpolitisch Verantwortlichen sind bisher erst in geringem Maße Bestandteil der Anti-Hartz-Proteste. Es gibt keinen Grund, warum sich das nicht ändern sollte.
Dirk Hauer/Georg Wissmeier