Stolpersteine auf der Datenautobahn?
Politischer Aktivismus im Internet
Der folgende Text von der autonomen a.f.r.i.k.a. gruppe ist nicht nur informativ, sondern zugleich ein Plädoyer dafür, die innerhalb weiter Teile der Linken verbreitete Ignoranz gegenüber der im Internet-Zeitalter längst überfälligen Neuorientierung in Sachen Kommunikation und (Selbst-)Organisation zu überwinden. Nicht zufällig auch eine Debatte, die in ak bislang wenig präsent war. Was wir bedauern und weshalb wir den folgenden Vorabdruck gern als Beginn einer (dis-)kontinuierlichen Beschäftigung auch mit dem Thema Linke, Netz und Subversion verstehen wollen.
Im Januar 1994 verbreiteten die ZapatistInnen (1) Communiqués über ihren Aufstand in Chiapas weltweit über E-Mail. Die Wirksamkeit des Internets für die zapatistische Bewegung wurde im Zuge der Internet-Euphorie der 1990er Jahre so hoch eingeschätzt, dass manche sogar von einer "Revolution im Internet" sprachen. Als im Jahr 2000 in Österreich die rechtsextreme FPÖ an die Regierung kam, "simmste" sich der Straßenprotest nicht nur zum gemeinsamen Demonstrationsort, sondern organisierte sich auch über Webseiten und schnell eingerichtete Mailinglisten. (2) Nach den Madrider Anschlägen im März 2004, am Tag vor der Parlamentswahl, strömten Zehntausende flashmobartig auf die Straßen und belagerten die Parteizentrale der damals noch regierenden Partido Popular. Über E-Mail, Websites, Handy und SMS konnte sich die Zivilgesellschaft binnen weniger Stunden organisieren, um den Lügen der konservativen Regierung ein nachdrückliches "ya basta!" entgegenzusetzen. (3) In schöner Regelmäßigkeit wird außerdem zu "Online-Demos" und politischen Aktionen "im Internet" aufgerufen: Im Jahr 2001 fand unter großem Medienecho eine "Online-Demo" gegen die Abschiebefluglinie Lufthansa statt; im April 2004 folgten beinahe 4000 Webseiten einem Aufruf der Foundation for a free Information Infrastructure zu einer zeitlich begrenzten Selbstschließung, quasi als Warnstreik gegen Softwarepatente. (4)
Seit einigen Jahren bespielen politische Aktivisten das Internet gelegentlich als virtuelles Äquivalent der Straße, als Parallelraum. Vor allem aber wird es als alltägliches Kommunikationsmedium genutzt, als Infobörse, Diskussionsraum oder Fotokopierer. Wenn wir im Folgenden einige Gedanken über aktivistische Internetnutzung zusammentragen, dann geht es uns nicht darum, das Internet als "Straße der Zukunft" zu empfehlen oder den Mythos von der Virtualisierung der Politik (5) um eine linksradikale Facette zu bereichern. Obwohl wir das Netz durchaus als Ort direkter politischer Aktion und Intervention wahrnehmen, sehen wir den Schwerpunkt aktivistischer Internetnutzung eher in einer produktiven, sich vernetzenden sozialen Praxis. In dieser Sichtweise liegt die Bedeutung des Internets vor allem in den qualitativ veränderten Möglichkeiten von Kommunikation und Interaktion, die nicht nur Voraussetzungen und Mittel für sich wandelnde Formen politischen und sozialen Handelns sind, sondern zugleich auch den "realen" Raum des Protests in den Straßen neu vermisst. Indem wir versuchen, entsprechend unserer Erfahrung das Internet und den Straßenprotest zusammenzudenken, kommen wir zu der These, dass das Internet keinen neuen "virtuellen" Raum des politischen Protests konstituiert: kein Paralleluniversum, das unabhängig von sozialen Beziehungen im physikalischen Raum existiert, keine Spielwiese für frei schwebende Identitätsexperimente, keine grenzenlose, machtfreie, ewig fließende Gegenwelt.
Stattdessen sehen wir, wie sich traditionelle mit digitalen Kommunikationsformen verbinden und zu einem qualitativ neuen, gleichzeitig virtuellen und physikalischen Kommunikationsraum verschmelzen. In diesem Prozess verändern sich Wahrnehmungen, soziale Beziehungen und auch politische Praxis - allerdings nicht als digitale Revolution, wie es der frühe Internethype verkündete, sondern als Rekombination und Neuzusammensetzung bereits Bestehener sozialer und politischer Strukturen und Praxen. Der offene, laborhafte und experimentelle Charakter dieses Rekombinationsprozesses verträgt sich allerdings schlecht mit manchen eingespielten Verhaltens- und Kommunikationspraxen von Teilen der (deutschen) Linken, deren Habitus und Attitüden einige ganz spezielle Stolpersteine auf dem Weg zur produktiven Nutzung der neuen Möglichkeiten darstellen. Zunächst aber zur Hauptsache.
Das Internet
als Parallelraum?
In den 90er Jahren war die Wahrnehmung des Internets im gesellschaftlichen Diskurs durch Metaphern geprägt, die das Netz in Analogie zur Geographie des öffentlichen Raums als virtuellen Parallelraum dachten. (6) Diese Metaphern prägen nach wie vor die kommerzielle und administrative Aneignung des Internets: Die Internetnutzerin bewegt sich auf "Datenautobahnen", soll ein "Web-Portal" durchschreiten, über virtuelle Einkaufszeilen flanieren und dort ihren virtuellen Einkaufskorb füllen, und erledigt ihre Behördengänge im "virtuellen Rathaus". Diese geographische Metaphorik entspringt einer Machtlogik, die versucht, sich den komplexen, offenen und vieldimensionalen Raum der digitalen Kommunikation zu unterwerfen: Datenströme müssen kanalisiert, die Flüsse der digitalen Information eingedämmt werden, die neuen Möglichkeiten der Netzkommunikation erscheinen vor allem als Regulierungsproblem. Dem regulierten und teil-privatisierten öffentlichen Raum der Städte soll ein eingeschränkter, regulierter und überwachter "virtueller" Parallelraum entsprechen; schneller, schöner und besser als der physikalische Raum und doch nur seine eindimensionale Fortsetzung.
Wo Macht ist, ist auch Widerstand: Macht-Räume sind stets auch Interventions- und Aktionsräume. Die eingangs aufgeführten Beispiele zeigen, dass auch politische AktivistInnen das Internet gelegentlich entsprechend dieser geographischen Metaphorik imaginieren: Schließlich darf auf der virtuellen Einkaufsstraße der virtuelle Infostand (7) genauso wenig wie das virtuelle Graffiti (8) fehlen.
Nun ist es aber so, dass geographische, verkehrstechnische und städtebauliche Metaphern den Blick auf die qualitativ neuen Möglichkeiten des Internets eher verdunkeln als erhellen. Denn die technische Struktur des Internets widerspricht der Vorstellung eines regulierten und strukturierten Raums. Wenn das Netz schon als Raum gedacht und diskutiert wird, dann sollte berücksichtigt werden, dass dieser Raum einige besondere Eigenschaften besitzt:
1. Austausch und Kommunikation sind nicht durch räumliche Abstände beschränkt.
2. Der Raum hat viele Dimensionen, die Zahl der Kanäle, über die Internetnutzer Informationen austauschen können, ist unermesslich groß. Das hat zur Folge, dass es schwierig ist, Orte im Netz ein- oder auszugrenzen. Wenn wir zum Beispiel davon ausgehen, dass der Inhalt einer Webseite einen "Ort" im Netz definiert, so kann dieser Ort nicht einfach eingezäunt oder ausgesperrt werden, da es leicht ist, ihn beliebig oft und unter unterschiedlichen Adressen zu replizieren. Es ist nicht so einfach, das Netz zu zensieren.
3. Für das Netz existiert weder eine Landkarte noch ein offizieller Reiseführer. Die Struktur des Netzes ist dynamisch, Orte und Verknüpfungen ändern sich kontinuierlich. Diese Veränderungen erfolgen anarchisch, durch lokale Handlungen der Nutzerinnen, und folgen keinem zentralen Plan. Anders als im physikalischen Raum, wo die Planung und Strukturierung öffentlicher und privater Räume eine Machtwissenschaft par excellence darstellt, gibt es keine vergleichbare "Netzplanung", ja es existiert nicht einmal eine aktuelle Kartografie des Netzes.
Das zentrale Problem der Bewegung in diesem eigenartigen Raum ist das der Orientierung. Einerseits ist die Kommunikation einfach und gradlinig, die Wege sind kurz: Kenne ich die E-Mail-Adresse einer Netznutzerin, kann ich eine E-Mail schicken; kenne ich die URL einer Webseite, so gebe ich sie in meinen Browser ein. Andererseits kann die Suche nach einer Information oder einer Kommunikationspartnerin außerordentlich kompliziert werden, wenn ich die genaue Adresse nicht von vorneherein kenne. Der richtige Weg ist nicht immer leicht zu finden, das Netz ist voller Irrwege und Sackgassen. Es ist zwar sehr einfach, einen Netzriesen wie Amazon oder eBay zu finden, auch ein exotisches Label wie die autonome a.f.r.i.k.a gruppe ist auffindbar, aber die Suche nach Hans Müller gestaltet sich schnell als ziemlich hoffnungslos.
Für die Orientierung im Netz und seine Nutzung als Kommunikationsmittel sind Namen und Labels von außerordentlicher Bedeutung. Die Namen großer Firmen und Organisationen sind allgemein bekannt. Die leichte Auffindbarkeit, die sich daraus ergibt, ist es, die einem Ort im Netz seine Relevanz sichert. Daher sind Namen und Labels im Netz viel mehr noch als in der physikalischen Welt strategische Positionen, die mit den Mitteln der Macht besetzt und verteidigt werden müssen. (9) In der Welt der Konzerne und Labels ist dies offensichtlich. Doch auch in aktivistischen Kreisen können sich Konflikte an Besitzansprüchen auf eingeführte Domainnamen dramatisch zuspitzen, wie etwa das Beispiel von Indymedia San Francisco zeigt. (10) Und in der Kommunikation zwischen Einzelpersonen im sogenannten Chatraum hat der "Nickname" große Bedeutung: Er ist sozusagen gleichzeitig deine Adresse, deine Telefonnummer und dein Gesicht, und kann selbst im physikalischen Raum eine persönliche Orientierungsmarke werden und bleiben ("ach, DU bist das"). Bei vielen Chat-Servern können die "Nicks" registriert und damit geschützt werden.
Auch aktivistische Internetnutzung ist mit dem Problem der Sichtbarkeit konfrontiert. Wie mache ich mich sichtbar und auffindbar für andere Aktivisten, wie für Netznutzerinnen außerhalb aktivistischer Kreise? Wir werden diesem Problem immer wieder begegnen, wenn wir aktivistische Netznutzung diskutieren - bei der aktivistischen Infoseite ("virtueller Infostand"), bei der virtual civil Disobedience, die versucht, in "große" Webseiten zu intervenieren, so wie man vor der Zentrale eines Konzerns demonstriert. Sichtbarkeit herzustellen ist auch die Kernidee beim "semiotischen Hijacking", bei dem Aktivisten die semantische Nähe eines "großen Namens" besetzen; "Kanäle graben" meint die aktive Gestaltung des Internets, indem Kommunikationskanäle und damit dichte Netzwerke gebildet werden. Wenn wir solche Formen diskutieren, ist es nicht nur wichtig, die Eigenarten des Netzes im Hinterkopf zu behalten, sondern ebenso, die Relation des Internets zu physikalischem Raum und sozialen Strukturen und Praxen stets mitzudenken. Sowohl erfolgreicher Aktivismus als auch die Gegenstrategien der Macht operieren in einer Realität, die den virtuellen Raum des Internets ebenso einschließt wie den geographischen Raum der Straßen und Städte. Unsere Aufreihung von Aktionsformen ist weder systematisch noch vollständig - politischer Aktivismus im Internet steht erst am Anfang seiner Entwicklung, und es existieren kaum "fertige", etablierte und als selbstverständlich anerkannte Formen politischen Handelns im Netz. Gerade das verleiht dem Thema seine Bedeutung, trotz der unvermeidlichen Gefahr, dass die nachfolgenden Beispiele in ein paar Jahren nur noch Kopfschütteln auslösen werden.
virtual civil
Disobedience
Mitte und Ende der 1990er Jahre gab es verschiedene Vorschläge, Formen der direkten gewaltfreien Aktion von der Straße ins Internet zu übertragen. Solche Vorschläge einer virtual civil Disobedience stellten den Versuch dar, das Netz als politischen Protestraum zu konstituieren, als Ort des politischen Widerstands und der politischen Intervention. In gewissem Sinne spiegeln sie als Antithese den Netz-Hype der Dotcom-Ökonomie wider, der das Netz vor allem als Einkaufsstraße und Konsumparadies zu inszenieren suchte.
Als Aktionsformen propagieren die Vertreter des "virtuellen zivilen Ungehorsams" Formen wie Netz-Sit-ins und Blockaden. (11) So inszenierten die britischen Elektrohippies 1999 während der Proteste in Seattle ein virtual Sit-in auf der Webseite der Welthandelsorganisation. 400 000 nahmen an der Aktion teil. (12) Grundidee dabei ist, die Webseiten einer Institution oder eines Konzerns mittels einer Denial-of-Service-Aktion zu blockieren, indem möglichst viele Menschen zu einer vereinbarten Zeit auf diese Seiten zugreifen. Im Idealfall wird so die Seite unerreichbar. Die Wirkung entspricht der eines Sit-ins, eines Streikpostens oder einer Straßenblockade vor dem Eingang zur Konzernzentrale. Falls die angegriffene Firma oder Institution ihre eigene Netzkommunikation über denselben Kanal abwickelt wie den externen Web-Verkehr, ist die Blockade vollständig - keiner kann rein, keiner kommt raus.
Für die Beurteilung solcher Aktionen ist es wichtig, sowohl den unmittelbaren technischen Effekt zu diskutieren als auch die sozialen und kommunikativen Wirkungen einer Protestaktion. Bei einer Straßendemonstration, einer Blockade oder einem Sit-in ist die Zahl der Protestierenden ein wichtiges Maß für die Stärke des Protests. Auf die virtual civil Disobedience übertragen heißt das: Je mehr Menschen sich an einem virtuellen Sit-In beteiligen, desto effizienter wird der Webzugang der angegriffenen Institution blockiert - und damit wird der Massencharakter der Aktion auf indirekte Weise sichtbar. Hier zeigt sich jedoch ein für die digitale Kommunikation und Interaktion typisches Paradox: Um möglichst viele Zugriffe auf der angegriffenen Seite zu bewirken, ist es sinnvoll, die Webzugriffe durch geeignete Software zu automatisieren. Das hat außerdem den Vorteil, dass die Protestierenden nicht nur das Gefühl haben, sich an einer guten Sache zu beteiligen, sondern nebenher - im Unterschied zur Sitzblockade - auch noch einer sinnvollen und/oder Geld verdienenden Tätigkeit nachgehen können. Wird dieser Gedanke fortgesponnen, zeigt sich, dass es effizientere Formen gibt, Traffic zu produzieren, als den massenhaften Zugriff auf eine Webseite. Noch weiter gedacht, liegt die Idee nahe, auf die protestierenden Massen ganz zu verzichten und stattdessen möglichst viele fremde Computer für den Angriff zu kooptieren, ohne deren Besitzer lange zu fragen. Am Ende der Gedankenkette steht ein einzelner PC, ein Internetzugang und ein Skriptkid (13) - und in der Tat sind die technisch wirksamsten Denial-of-Service-Attacken genau so zu Stande gekommen: Attacken, die es schafften, Netzriesen wie Yahoo und Microsoft für viele Stunden aus dem Netz zu nehmen. Politische Aktionen sind solche notwendigerweise klandestinen Angriffe nicht. (14)
Der virtuelle zivile Ungehorsam, wie er u.a. von Ricardo Dominguez vom Elektronik Disturbance Theatre propagiert wurde, operiert im bewussten Gegensatz zu solchen Skriptkid-Aktionen, wenn er sich selbst eine geradezu lächerlich anmutende technische Ineffizienz auferlegt ("Maya-Technologie"). Anstelle die Anonymität des Netzes zu nutzen, erfolgt der illegale, Blockade erzeugende Netzzugriff beim virtuellen Sit-In unmaskiert vom eigenen Rechner aus - der Angreifer ist im Prinzip leicht zurückzuverfolgen und zu identifizieren. Diese Identifizierbarkeit resultiert nicht aus der Dummheit der virtuellen ProtestlerInnen, sondern ist der bewusste Versuch, ein virtuelles Äquivalent zum Einstehen "mit dem eigenen Körper" zu schaffen, das die direkte Aktion auf der Straße kennzeichnet. Aus demselben Grund wird auf technisch effizientere, aber anonyme Angriffstechniken verzichtet. Aus Sicht der Teilnehmenden bleibt im Vergleich zur Sitzblockade auf der Straße aber dennoch ein Unterschied: Während der Aktion selbst bleibt das Kollektiv der Protestierenden abstrakt, nicht unmittelbar sichtbar und nicht als soziale Gruppe erfahrbar. Die einzige direkte "Wirkung" des Protests zeigt sich als langsamerer Zugriff auf die angegriffene Webseite.
Im Hinblick auf mediale Außenwirkung konnten manche Aktionen des "virtuellen zivilen Ungehorsams" vor einigen Jahren allerdings ein beachtliches Medienecho erzielen. Die Neuheit der Aktionsform sicherte Medienaufmerksamkeit, und die Vorstellung, AktivistInnen könnten den neu konstituierten virtuellen Straßenraum zum Schauplatz von Protest und Intervention machen, passte in den Mediendiskurs, der das Internet als virtuellen Parallelraum konzeptualisierte. Inzwischen sind "virtuelle Sit-ins (...) selten geworden, und DOS (Denial-of-Service)-Attacken haben sich vielfach ins kriminelle Milieu verlagert". (15)
Als Beispiel für eine medial (wenn auch nicht technisch) erfolgreiche virtuelle Protestaktion kann die "Online-Demo" gegen die Lufthansa-Webseiten im Rahmen der Deportation-Alliance-Kampagne gegen Abschiebefluglinien gelten. (16) Das Online-Magazin Telepolis konstatierte: "Für die Cyberaktivisten oder Hacktivisten müssen (...) die bürgerlichen Freiheiten auch im Cyberspace gelten. Sierk Hamann, Richter und Experte für Online-Recht, fordert dazu u.a., auch solche DOS-Attacken ,im Lichte der Grundrechte` zu sehen, die eine allgemeine Meinungsfreiheit garantieren." (17) Das Beispiel der Deportation Alliance-Kampagne zeigt auch, dass die netzbasierte Aktion gerade im Rahmen einer Kampagne erfolgreich war, die sich weitgehend außerhalb des Netzes abspielte und von einer breiten, mit einer Vielzahl von Aktionsformen operierenden Bewegung getragen wurde. So war es möglich, ein hohes Aufmerksamkeitsniveau der etablierten Medien zu sichern, für die der Online-Protest als mediales Schmankerl dazukam. Die Netz-Intervention war hier Teil einer umfassenderen Kommunikations- und Aktionspraxis, die sich sowohl im physikalischen wie im virtuellen Raum abspielte und die Vorbereitung und Durchführung der Aktion ebenso einschloss wie ihre politische Kontextualisierung. (18)
Wo GATT draufsteht
ist nicht GATT drin
Orientierung im Internet funktioniert über Labels und Namen. Die World Trade Organisation (WTO) ist im Internet nicht deshalb sichtbar und präsent, weil ein protziger virtueller Palastbau den virtuellen Straßenraum verschandelt, sondern deshalb, weil das Kürzel WTO als bekanntes Signet die Auffindbarkeit der Organisation und die Relevanz der Informationen auf der entsprechenden Webseite (www.wto.org) sicherstellt: Sichtbarkeit und Auffindbarkeit einer großen und mächtigen Organisation im Internet sind durch die Besetzung von Zeichen und Symbolen bestimmt.
Doch der Raum der Zeichen und Symbole ist vieldimensional und komplex. Kleine Gruppen von AktivistInnen können sich in der (semantischen) Nachbarschaft mächtiger Institutionen breit machen und die semantische Nähe nutzen, arglosen WebnutzerInnen ihre eigenen Informationen nahe zu bringen. AktivistInnen können im vieldimensionalen Zeichenraum des Netzes erreichen, was im realen Straßenraum undenkbar wäre - beispielsweise eine hundert Meter hohe Wagenburg in der Nachbarschaft des Towers der Deutschen Bank zu errichten. So siedelte sich direkt neben der Webseite der WTO eine zweite Seite (www.gatt.org) an, die mit optisch gleicher Präsentation Informationen zur Kritik der kapitalistischen Globalisierung im allgemeinen und der WTO im speziellen bereitstellt. Die semantische Nähe der Kürzel GATT (19) - WTO, das professionelle Design der alternativen Seite und die Verwendung von Business-Newspeak seitens der GATT-Autoren sorgten des öfteren dafür, dass die GATT-Seite mit der offiziellen Seite der WTO verwechselt wurde. Solche Verwechslungen führten dazu, dass die Besitzer der GATT-Seite (the Yes Men) mehr als einmal eingeladen wurden, die WTO auf internationalen Konferenzen zu vertreten - eine Verpflichtung, der sie stets mit großem Ernst nachkamen. Die resultierenden Begegnungen der vierten Art sind auf der Webseite der Yes Men (www.yesmen.org) dokumentiert: Kommunikationsguerilla im Herzen der Bestie.
Der Trick, eine Seite mit einem Namen zu besetzen, der täuschend nahe an einem Namen oder Begriff liegt, der sich im "Besitz" eines politischen Gegners befindet, kann in verschiedener Weise genutzt werden. AktivistInnen können den Gegner lächerlich machen (www.gwbush.com), die Politik des Gegners korrigieren (so the Yes Men, als sie auf gatt.org die Auflösung der WTO bekannt gaben), oder einfach die erhöhte Sichtbarkeit und Auffindbarkeit ihrer Webseite dazu nutzen, eigene Informationen unter die Leute zu bringen. Zwar versuchen große Firmen und Institutionen, ihr semantisches Umfeld abzusichern, beispielsweise indem sie Webadressen mit verwandten Namen aufkaufen oder versuchen, "verwechselbare" Seiten mit juristischen Mitteln aus dem Netz zu drängen. Doch auf Grund der komplexen und vieldimensionalen Natur sprachlicher Verknüpfungen und Assoziationen wird es für semantische HausbesetzerInnen auch in Zukunft möglich sein, ein Plätzchen für ihre vielfältigen Aktivitäten zu finden.
Eine dritte Möglichkeit, im Internet auffindbar zu werden, ist es, Netzwerke zu knüpfen, oder anders gesagt: Kommunikationskanäle durch das Internet zu graben, sich durch vielfache Verlinkung und Vernetzung sichtbar zu machen und dabei gleichzeitig das Netz selbst als "eigenen Kommunikationsraum" weiterzuentwickeln.
Wer schon mal versucht hat, via Webseite oder "virtuellem Infostand" an die Öffentlichkeit zu gehen, weiß, dass die Grunderfahrung Flugblatt verteilender AktivistInnen - "warum hört mir keiner zu?" - im Internet nicht verschwunden, sondern nur zu oft einem anderen Problem gewichen ist: "Warum findet mich keiner?" Die Strategie der Sichtbarmachung funktioniert hier anders als beim Infostand in der Fußgängerzone. Im physikalischen Raum ist ein Infostand Bestandteil des Straßenbildes. Er ist zumeist temporär für den mehr oder weniger angemeldeten Zeitraum an einem bestimmten Ort präsent und für alle an diesem Ort wahrnehmbar. Je nachdem an welcher Stelle eines öffentlichen Platzes oder am Verlauf einer Straße ein Infostand steht, erregt er Aufmerksamkeit oder steht zumindest am Weg. Anders beim virtuellen Infostand in Form einer Webseite. Zwar steht der Infostand zeitlich, oder auch von Ausdehnung und Aufwand her vergleichsweise unbegrenzt herum. Aber es existiert kein gemeinsam erfahrbarer Raum. Sichtbarkeit wird von jedem Surfer, jeder Webseitenbetreiberin aktiv selbst produziert. Der wahrgenommene Raum ist im Internet individuell maßgeschneidert. Die Tatsache, dass wir wichtige alternative Informationen bereitstellen, ist hier auf eine andere Art unerheblich geworden als beim schnell weggeworfenen Flugblatt.
Das mittlerweile aus zirka 130 Webadressen auf allen fünf Kontinenten bestehende alternative Nachrichtennetzwerk der Independent Media Centers (IMC), oft als Indymedia abgekürzt, soll als Beispiel für die Praxis des "Kanälegrabens" mit dem Ergebnis einer deutlichen Sichtbarkeit dienen. (20) Indymedia wurde zweifellos als "virtueller Infostand" gegründet, als eine Plattform, auf der jede Demonstrantin, jede Medienaktivistin, jede besorgte Bürgerin unmittelbar berichten konnte, was sich 1999 während der Proteste gegen die Welthandelsorganisation in den Straßen von Seattle abspielte. Gleichzeitig war Indymedia als reproduzierbares Modell konzipiert, das ähnlich wie ein Projekt der freien Software-Entwicklung beliebig multipliziert werden konnte, ohne dadurch an Qualität zu verlieren. (21)
Die "Software", die Indymedia ausmacht, war dabei nicht nur Active - der Code, der das Open Publishing ermöglicht - sondern in einem metaphorischen Sinn auch die Art und Weise, wie die Indymedia-Webseiten moderiert und verwaltet werden sollten. (22). Anders als sonstige Webprojekte war das Modell so konzipiert, dass die Grenzen zwischen NutzerInnen und AdministratorInnen verschwimmen konnten. Wer heute einen Artikel auf der Seite liest, kann schon morgen selbst einen Bericht, ein Bild, ein Interview oder ein Video ins Netz stellen und sich übermorgen in eine der unzähligen Arbeitslisten vor Ort oder weltweit einmischen.
Vielleicht ist diese Abhängigkeit von der aktiven Partizipation vieler einer der Gründe, aus denen Indymedia in den fünf Jahren seines Bestehens immer sichtbarer geworden ist. Wer den Namen heute googelt, erhält über sieben Millionen Einträge, und zumindest die ersten 200 davon verweisen fast ausschließlich auf Indymedia-Webseiten. Immer mehr Leute können zudem einen sozialen Weg zu den Seiten finden - sei es über die Nutzung als alternative Nachrichtenagentur oder zur Verbreitung eigener Nachrichten, durch eine von den vielen "befreundeten" Webseiten, die Indymedia spiegeln, über gemeinsame Erfahrungen im Strahl der Wasserwerfer diverser globaler Proteste oder bei den Nachtschichten im Dispatch-Chat (23), durch die Zusammenarbeit an einem der vielen Kleinprojekte oder über die Off-line-Aktivitäten, die viele Indymedia-Kollektive von Videovorführungen über Work-Shops bis zu (nicht-virtuellen!) Infoständen veranstalten.
Kanäle graben:
Open Publishing
und Indymedia
Wie funktioniert diese aktive Partizipation? Sowohl die jeweiligen Webseiten als auch die einzelnen Kollektive sind untereinander vielfach vernetzt. Der gemeinsame Name und die relativ festgelegte typografische Gestaltung der Indymedia-Webseiten rufen wie kommerzielle Brands einen Wiedererkennungseffekt hervor. Was Indymedia von diesen unterscheidet, ist die permanente Einladung zum Mitmachen. Auf zirka 700 Mailinglisten, über 2.000 wiki-Seiten und Dutzenden von Chaträumen tauschen sich Hunderte von Leuten permanent aus, arbeiten zusammen (oder auch gegeneinander), streiten sich, diskutieren, planen Veranstaltungen oder die Berichterstattung über den nächsten globalen Aktionstag und nicht zuletzt die Weiterentwicklung der Software und die Serverpflege. Diese rege Kommunikation in elektronischen Kanälen verschmilzt mit Begegnungen im physikalischen Raum, sei es auf internationalen Convergences oder bei den regelmäßigen Treffen der einzelnen Indymedia-Kollektive im aktivistischen Alltag. Es entsteht gegenwärtig ein dichtgewebter Kommunikationsraum, der, indem er genutzt wird, sich zudem ständig weiterentwickelt.
Obwohl Indymedia also eigentlich nichts weiter ist als eine Plattform für alternative Nachrichten, funktioniert das Projekt kommunikationstheoretisch ganz anders als ein herkömmliches Medium. Die Webseiten herkömmlicher Zeitungen wie auch virtuelle Infostände sind (trotz gelegentlicher Forum-Angebote) noch immer nach dem Modell: "ein Sender - viele Empfänger" gebaut. Indymedia dagegen ermöglicht nicht nur die Partizipation von vielen Sendern und vielen Empfängern - das tun jedoch die Chaträume auf yahoo.com auch. Das Projekt lässt zusätzlich einen weltweiten Kommunikationsraum für viele admins (Webseiten-Verwalter) entstehen - ein Ansatz, der den individualisierenden Aspekt der elektronischen Kommunikation mit dem alten Ansatz kollektiver, selbstbestimmter Produktion verbindet. Naomi Klein verglich die Struktur der globalen Bewegung mit dem Internet: "Its the Internet come to live". (24) Umgekehrt wird auch ein Schuh draus: It brings the Internet to live! In einer Zeit, in der mediale Repräsentation als zentrale Ressource angesehen wird (Stichwort "Informationsgesellschaft"), schafft sich die Bewegung der People from Seattle die Infrastruktur zu ihrer Selbstdarstellung selbst. Die Privatisierung dessen, was als commons (Gemeingut) gefasst wird, wird nicht einfach hingenommen. Die privatisierten und überwachten Orte in den Städten werden immer wieder zum Schauplatz kreativer Aneignungsprozesse, ebenso wie die freie elektronische Kommunikation: Das Recht zur nicht regulierten Nutzung von Inhalten oder Software etwa wird permanent mit neuen Mitteln zum Thema gemacht.
Typisch für die Entwicklung freier Software ist dem Projekt Ökonux zufolge u. a. die internationale Zusammenarbeit. (25) Für Indymedia ist dies eine Voraussetzung für die alltägliche Arbeit: Wenn der beste Programmierer für die in Großbritannien verwendete Software in Holland sitzt, muss man eben mit ihm Verbindung halten. Ein geographisch unabhängiger Kommunikationsraum ist unabdingbar für die Berichterstattung über globale Protesttage. Dabei wiederum werden neue Techniken entwickelt, angeeignet, genutzt. Wiki, das Tool zum kollektiven Content-Management, verbreitet sich derzeit mit hoher Geschwindigkeit im Netz. Indymedia nutzt die Wiki-Variante schon seit 2001. Der Umgang mit Chaträumen und E-Mails ist selbstverständlich. Viele Kollektive vor Ort experimentieren mit Radio- und Videostreams, tauschen VHS-Kassetten und DVDs aus.
Das alles geht natürlich nicht ohne Schwierigkeiten ab. Trotz aller Bemühungen um Vielsprachigkeit ist die Lingua Franca nach wie vor Englisch - aber es gibt immerhin einen Übersetzerpool, der mittlerweile über ein eigens entwickeltes Übersetzungstool kommuniziert. Immer wieder mal flammen heftige Streits innerhalb und zwischen Kollektiven auf, die einen Teil ihrer Hitzigkeit sicher auch den Eigenarten elektronischer Kommunikation verdanken. Manchmal sind die Listen down und jegliche Kommunikation kommt zum Stillstand. Oder die Firma, die einen Server beherbergt, zieht um und legt dabei zentrale Funktionen tagelang und ohne Vorwarnung lahm.
Diese Komplikationen zeigen andererseits, dass die Akteure von Indymedia sich neue Techniken nicht nur aneignen, sondern diese auch weiterentwickeln oder gar hervorbringen. In der Anwendung von nicht vollständig ausgereiften Techniken wird jede Nutzung zu einem Testlauf, jede Panne zu einer Gelegenheit, den Ablauf zu perfektionieren, neue Lösungen zu entwickeln, "Bugs" (Programmierfehler) zu beseitigen. Neue Lösungsstrategien und Konzepte entstehen nicht nur für Software und Hardware, sondern auch und vor allem im sozialen Bereich. Während Indymedia-AktivistInnen das tun, was sie für ihr Projekt brauchen, nämlich kommunizieren, graben sie sozusagen neue Kommunikationskanäle, erfinden Nutzungskonzepte und Umgangsformen - kurz, sie entwickeln das Internet selbst mit all den noch nicht erfundenen und noch zu entdeckenden Anwendungen, Umgangsweisen und Technologien. So entsteht eine Perspektive, in der das Internet nicht mehr auf den die "reale Welt" simulierenden Cyberspace der 90er Jahre beschränkt ist, sondern Teil eines weitergefassteren Kommunikationsraums wird, in dem physische und "virtuelle" Identitäten quasi cyborgmäßig verschmelzen.
Dass diese Praxis noch ungewöhnlich ist, fiel uns bei der dritten Ökonux-Tagung (2004) in Wien auf, wo Indymedia-VertreterInnen Fragen gestellt wurden wie: Arbeitest Du da ganztags? Wo sitzt die Zentrale? Wo werden Entscheidungen getroffen? Obwohl hinreichend bekannt ist, dass in der Struktur des Internet keine räumlich festgelegte Zentrale vorgesehen ist, erscheint die Vorstellung nicht selbstverständlich, dass ein internationales Projekt sich völlig auf diese dezentrale, durch elektronische Kommunikationskanäle verbundene Struktur einlässt und dort auch seine Entscheidungen reifen.
So ist Indymedia, eigentlich ein ganz braves Gegenöffentlichkeitsprojekt, doch gleichzeitig auch ein Entwicklungslabor, einer von vielen experimentellen Räumen, wo vielleicht, hoffentlich, bestimmt Aktionsformen entwickelt werden können, die über die bloße, unzulängliche Abbildung des Straßenprotests hinausgehen.
Kanäle graben gegen linke Borniertheiten
Beim Internet wiederholt sich ein Phänomen, das auch im Zusammenhang mit früheren medienkulturellen Innovationen zu beobachten war: Zu Beginn wird versucht, bekannte soziale und kulturelle Praxen in den Nutzungs- und Handlungsmustern der neuen Technik abzubilden. Was sich später tatsächlich durchsetzt, konnte sich am Anfang niemand wirklich vorstellen. In diesem Sinne gilt es weiter zu probieren. (26) Aber das ist leichter gesagt als getan. Der immer noch experimentelle Charakter von Internetnutzung macht dieselbe attraktiv, aufregend, sexy. Gleichzeitig ist es gerade das radikale Bekenntnis zu Offenheit und Transparenz, das Vertrauen in die Fähigkeit der Szene zur Selbstregulierung (die vernünftigste/durchführbarste Idee "gewinnt"), die Teilen der Linken (nicht nur hier zu Lande) Schwierigkeiten bereitet.
Wie weit ein altlinker Organisationsmodus von einer offenen, die Möglichkeiten elektronischer Kommunikation ausschöpfenden Selbstorganisation entfernt ist, war bei den Vorbereitungen für das Europäische Sozialforum 2004 (ESF) sehr schön zu beobachten. Initiatoren des Antrags für den Veranstaltungsort London waren die Trotzkisten von der Socialist Workers Party (SWP), die auf Grund ihrer streng hierarchischen Organisationsform von vielen schlicht als stalinistisch bezeichnet wird. Die Kader der SWP bewiesen ihre Inkompetenz, indem sie beispielsweise E-Mail-Kontaktadressen als Geheiminformationen behandelten, die Erstellung einer nicht einmal besonders wichtigen Mailingliste erst nach einer formalen Machbarkeitsstudie in Betracht ziehen wollten, und sich erst vier Monate vor der Veranstaltung zur Erstellung einer offiziellen Webseite entschließen konnten. Wichtige Treffen wurden weder angekündigt noch dokumentiert, geschweige denn öffentlich diskutiert. Die Chance auf eine breite Selbstorganisation linker Gruppierungen im Land wurde verschenkt - ob auf Grund einer tiefsitzenden Angst vor dem anarchischen Potenzial des Internets, aus Machtgeilheit oder einfach aus Dummheit, sei dahingestellt. (27)
Nicht nur in Großbritannien ist das soziale Kapital linker Platzhirsche in Gefahr. Stundenlange Strategiediskussionen, vertraulicher Informationsaustausch auf Korridoren und in den Pissoirs, das Jonglieren mit Geschäftsordnungstricks, die Virtuosität, mit der Information als Währung der Macht gehandelt, strategisch platziert oder deplatziert wird, all das scheint in Gefahr, hinfällig zu werden, wenn sämtliche Informationen, Protokolle, Diskussionen für alle im Internet zugänglich sind - die dann auch noch die Möglichkeit haben, auf gleichberechtigter Ebene zu kommentieren, zu diskutieren oder zu blockieren. (28)
Theoriekompetenz, ein traditionelles Statussymbol in der deutschen Linken, wird durch ein Medium entwertet, das für theoretische Diskussionen eher ungeeignet ist. (29) Gemäß dem Programmierer-Motto "release early, release often" ist es auf den Creative Commons des Internet wichtiger, unreife und vorläufige Ideen frühzeitig zur Diskussion zu stellen, als "richtige" und "theoretisch konsistente" Elaborate der kritischen Kritik als geistiges Eigentum des jeweiligen Autors zu präsentieren. Die Fähigkeit, ein Tool im Internet bereitzustellen oder eine Webseite für die jeweilige Gruppe oder Aktion zu erstellen, kann in diesem Kontext wichtiger sein, als am dritten Band des Kapitals gerochen zu haben.
Wenn neue Möglichkeiten sozialer und politischer Praxis, die sich mit der Netzkommunikation ergeben, von der Linken nur unzureichend genutzt werden (können), dann liegt das Problem nur all zu oft in einer Praxis, die versucht, bisherige Arbeitsweisen, Denkweisen, Hierarchien, Organisation einfach auf die neue technische Struktur zu übertragen. Wie in den vorangegangenen Beispielen angedeutet, funktionieren Teile der Linken nach einem über lange Jahre eingeübten, fest gefügten und oft hierarchischen Modus. Dazu kommt in Deutschland ein speziell deutscher Reinheitswahn - zwar geht es nicht um die Reinheit der Rasse, aber um die Reinheit der Gedanken, Handlungen oder Begriffe. Nur all zu oft kultivieren "Linke" eine Haltung, die ständig über falsches und richtiges Bewusstsein befindet, immer schon alles besser weiß, beurteilt und aburteilt. Gestrebt wird nach der reinen Lehre, der wasserdichten Theorie und Praxis. (30) Dass das Internet mit seiner infizierenden, virusbegünstigenden, unreinen, hybriden Funktionsweise eine Gefahr für bestehende Machtstrukturen darstellt, zeigt sich schon an den Regulierungsversuchen von Wirtschafts- und Regierungsseite - und manche Teile der Linken haben offenbar ein ähnliches Problem. Die Wahnvorstellung, die einzig richtige und wahre Position formulieren zu müssen, ist Teil jener "Deutschen Ideologie", in der Zusammenarbeit, Kooperation und das Knüpfen und Suchen von Verbindungen, wie es das technische Potenzial des Internet ermöglicht, unterstützt und nahe legt, offenbar nicht denkbar erscheinen. (31) Das Eingrenzen und Ausgrenzen, das Dämme bauen jedoch stehen dem Charakter der neuen Informations- und Kommunikationstechniken diametral entgegen. Es ist eine Voraussetzung des Arbeitens in internationalen Netzwerken und des Kanälegrabens, die Unschärfe einzurechnen, und zwar weniger als ideologisches Problem, denn als Chance. Die neuen Techniken bringen viele neue Probleme mit sich - aber sie beinhalten auch Möglichkeiten, sich anders zu organisieren, neue, ungewohnte soziale Beziehungen zu erfinden, Neuland zu betreten. Dazu braucht es Mut, Neugier, Unbefangenheit. Was am Ende herauskommt, bleibt abzuwarten. (32)
autonome a.f.r.i.k.a. gruppe
Dieser Beitrag ist eine Vorabveröffentlichung aus: Marc Amman (Hg.):// go.Stopp.act. Die Kunst des kreativen Straßenprotests. Geschichten - Aktionen - Ideen. Trotzdem Verlag Frankfurt. Erscheint im Januar 2005, 216 Seiten Großformat. 14 EUR: Weitere Informationen zum Buch: www.go-stop-act.de. Weblog des Buches: http://kreativerstrassenprotest.twoday.net
Literatur:
Nettime (Hrsg.): Netzkritik. Berlin, 1997 (Edition ID-Archiv).
Critical Art Ensemble: Elektronik Civil Disobedience and Other Unpopular Ideas. New York, 1995 (Autonomedia).
The Yes Men: The True Story of the End of the WTO. New York, 2004 (Disinformation).
Anmerkungen:
1) Die AutorInnen der autonomen a.f.r.i.k.a. gruppe mixen bewusst Schreibweisen mit großem, kleinen oder ohne i und weichen damit von der in ak (relativ) üblichen Schreibweise mit großem I ("AktivistInnen") ab. (Die Red.)
2) Vgl. Gerald Raunig: Wien Feber Null. Eine Ästhetik des Widerstands. Wien 2000. Besonders das Kapitel: "Cyberkids und die Bannmeile", S. 5762.
3) Vgl. Flashmobs gegen die spanische Regierung, unter: http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/16961/1.html.
4) Vgl.: http://demo.ffii.org/bxl und Indymedia-Bericht unter: http://www.indymedia.org/en/2004/04/110798.shtml.
5) Zuletzt wurde eine solche Position von Konrad Becker (Public Netbase Wien) eingenommen (vgl. Terror, Freiheit und Semiotische Politik: In: Kulturrisse Nr. 3/4 2004, S. 32-33. URL: http://igkultur.at/igkultur/kulturrisse/1088492475/1091783923): "Denn der physische Raum des Spektakels ist nicht mehr der Schlüssel zum Verständnis oder Erhalt von Herrschaft, stattdessen ist die hegemoniale Kontrolle des virtuellen Raums und der Bildwelten der neue Ort der Macht. Das physische Spektakel der Repräsentation als rituelle Inszenierung und Affirmation von Besitzverhältnissen wird ersetzt durch symbolische Dominanz im Informationsraum, hypnotische Repetition und die erzwungene Produktion von Stille."
6) Ein Indikator dafür wäre etwa das von William Gibson geprägte Modell des Cyberspace, einem mittels Körper-Maschine-Interface navigierbaren Parallelraums. Solche in den Science-Fiction-Welten des Cyberpunk beschriebenen Vorstellungen spiegeln sich in vielen, während der 90er Jahre nicht nur beim Gaming beliebten Versuchen wider, "virtuelle Realitäten" zu konstruieren. In diesen grafischen Simulationen sollen mittels Cyberhandschuh oder Datenmaske immer perfektere sinnliche Erfahrungen ermöglicht werden, die über den bloßen Blick auf den Bildschirm hinausgehen.
7) Unsere Sozialisation als Linksradikale ließ uns nur selten den appellativen Charakter von Unterschriften-Sammlungen ertragen. Insofern konzentrieren wir uns auch im Zeitalter des Informationskapitalismus und Postfordismus auf die politischen Kommunikations- und Handlungsmuster, die wir selbst sehr gut kennen. Als Ausnahme vgl. Sonja Brünzels: "Natürlich sind zehn Deutsche dümmer als fünf Deutsche." In: com.une.farce 2 (1999) unter: www.copyriot.com/unefarce/no2/cdu.html.
8) Damit ist das unberechtigte Verändern einer Webseite gemeint, vgl. unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Defacement.
9) Ein Symptom dafür ist die sogenannte "Abmahnplage", wenn etwa ein Herr Andreas Shell von dem Konzern Shell zur Übergabe seiner Domäne "shell.de" verklagt wird, vergl. Telepolis, 29.07.2003, unter: www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/15278/1.html.
10) Ein Konflikt innerhalb des Kollektivs führte 2003 zur Spaltung, die Verhandlungen über Domainnamen zogen sich über Monate hin.
11) Um diesen Ansatz hat sich insbesondere das Elektronik Disturbance Theatre verdient gemacht. Deren Software Floodnet wird seit 1998 für Aktionen von der Unterstützung der Zapatisten bis hin zur Verteidigung einer Kunst-Internetdomäne gegen einen Konzern mit ähnlichem Namen im Toywar genutzt. Vgl. die Interviews mit Ricardo Dominguez in Telepolis, 18.2.2000, unter: www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/5809/1.html und 16.6.2001, unter: www.heise.de/tp/deutsch/special/info/7897/1.html, sowie in: Raumzeit, Oktober 2001, www.raumzeit-online.de/102001/11.html.
12) Online-Archiv der Elektrohippies unter: www.fraw.org.uk/ehippies.
13) Skriptkid: junge Computernutzerin mit Grundkenntnissen, Neugier und (noch) ohne viel politisches Bewusstsein
14) Obwohl sich manche "Einzelhacktivisten" durchaus als politisch verstehen, wie z. B. Renaud Courvoisier, der sich mit automatischen Spam-Programmen beschäftigt: Im Jahr 2000 legte seine MAIL-O-MATIC-Kampagne die Webseite eines multinationalen Investment-Unternehmens für fünf Tage lahm. Behauptet jedenfalls: www.abc.net.au/hacktivists/about_chrs.htm.
15) Konrad Becker: "Terror, Freiheit und Semiotische Politik" in: Kulturrisse Nr. 3/4 2004, S. 32-33, unter: http://igkultur.at/igkultur/kulturrisse/1088492475/1091783923.
16) Vgl. Serhat Karakayali: "Virtuelle Demo gegen Abschiebung während der Lufthansa-Aktionärsversammlung am 20. Juni 2001" in: com.une.farce 5 (2001) unter: www.copyriot.com/unefarce/no5/odemo.html. Vgl. auch autonome a.f.r.i.k.a. Gruppe: "Communication Guerilla: Using the Language of Power." In: Eveline Lubbers (ed.): Battling big Business. Countering Greenwash, Infiltration and other Forums of corporate bullying. Devon 2002, S. 166-176. Außerdem: autonome a.f.r.i.k.a. gruppe: "Imagebeschmutzung" in: HKS 13. vorwärts bis zum nieder mit - 30 Jahre Plakate unkontrollierter Bewegungen. Hamburg 2001 (Assoziation A) und unter: www.copyriot.com/unefarce/no5/image72dpi.pdf.
17) Vgl. Telepolis, 20.06.2001, unter: www.heise.de/newsticker/meldung/18620.
18) Siehe dazu auch das Interview mit Ricardo Dominguez in Telepolis unter: www.heise.de/tp/deutsch/special/info/7897/1.html.
19) General Agreement on Tarifs and Trade, vergl. unter: http://de.wikipedia.org/wiki/GATT
20) Auch viele andere Webseiten werden von ihren eigenen Communities getragen und gestaltet, und haben das Problem der Sichtbarkeit für sich gelöst: etwa Wikipedia oder Slashdot.
21) Eine Aufsatzsammlung zur Geschichte von Indymedia findet sich in der Zeitschrift Media Development 4 (2003) unter: www.wacc.org.uk.
22) Diese Sichtweise vertritt schon im Jahr 2001 Matthew Arnison: "Open publishing ist the Same as free Software", unter: www.cat.org.au/maffew/cat/openpub.html. Vgl. auch Biella Coleman: "Indymedia's Independence: From Activist Media to free Software", 2004, unter: http://journal.planetwork.net/article.php?lab=coleman0704.
23) Dispatch-Chat: Internet-Chatroom, in dem eingehende Nachrichten verifziert werden
24) Z. B. 2001 in einem Interview mit Ian Walker anlässlich dessen Films "Hacktivists": Vgl. auch Katharine Viner: "Hand-to-brand-combat" in: The Guardian, 23.9.2000, unter: www.guardian.co.uk/weekend/story/0"371750,00.html.
25) Eine Zusammenfassung der Charakteristika von der Entwicklung freier Software findet sich auf der Ökonux- Webseite unter: www.oekonux.org/introduction/blotter/index.html.
26) Hier wäre vor allem die Geschichte des Telefons zu erinnern, das beispielsweise für Opernübertragungen ausprobiert wurde. Dass es heute vor allem zur alltäglichen Organisation des sozialen Umfelds genutzt werden würde, und dass die meisten Telefonate im Umkreis von drei Kilometern stattfinden, hätte sich bei seiner Einführung niemand vorgestellt.
27) Es existiert kein vollständiger Bericht über die Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem ESF in London. Für Hintergrundinformationen vgl. die alternative Webseite: http://esf2004.net/en/tiki-index.php?page=HorizontalNetwork und: uk.indymedia.org.
28) Selbstverständlich setzt die bloße Verfügbarkeit von Informationen noch keine hinreichende Bedingung für das Bröckeln und die Verflachung von Hierarchien. Aber auf der Ebene von Aktivistinnen in sozialen Bewegungen ist sie eine notwendige Bedingung, um derlei Barrieren infrage zu stellen.
29) Vgl. Marion Hamm/Michael Zaiser: "com.une.farce und indymedia.uk - zwei Modi oppositioneller Netznutzung" unter: www.copyriot.com/unefarce/no4/argue.html. Die dort diskutierten Schwierigkeiten, "offene" theoretische Diskussionen im Netz zu führen, haben zwischenzeitlich zum Ende der "Internet-Theoriezeitung" com.une.farce beigetragen.
30) Symptomatisch hier zu Lande ist die Rezeption von Empire von Michael Hardt / Toni Negri. Hier erwiesen sich diverse linke Fraktionen in weiten Teilen unfähig, das Anregungspotenzial und die Anstöße des Buches schöpferisch anzuwenden.
31) Natürlich gibt es auch das umgekehrte Problem, wenn sich die Logik der Netzkommunikation auf den konkreten Handlungsraum eines Noborder-Camps wie 2002 in Straßburg überträgt: "Manches deutet darauf hin, dass der Kommunikationsmodus des virtuellen Raums unwillkürlich auf die materielle Umgebung der Rheinwiese übertragen wurde, auf der das Camp sich ausdehnte." Und das führte zu erheblichen Kommunikationsmängeln vor Ort. Vgl. Marion Hamm: "A r/c tivism in physikalischen und virtuellen Räumen", 9/2003, unter: www.republicart.net/disc/realpublicspaces/hamm02_de.htm.
32) Vielleicht behält Karl Marx ja doch Recht. Wenn die materielle Basis des Seins das Bewusstsein bestimmt, dann würde eine technikinspirierte experimentierfreudige soziale Praxis im Internet vielleicht auch implizit dazu beitragen, dass manche linke Narretei, Verbohrtheit und Borniertheit irgendwann der Vergangenheit angehören wird. Aber das ist wohl zu technikdeterministisch gedacht.
Kontakt zur autonomen a.f.r.i.k.a. gruppe: afrika@contrast.org. Die Gruppe betreibt seit gut einem Jahr auch eine "Blogchronik der Kommunikationsguerilla": http://kommunikationsguerilla.twoday.net/ In diesem Weblog finden sich zahlreiche Hinweise zur Praxis und Theorie der Kommunikationsguerilla als auch auf Texte der a.f.r.i.k.a. gruppe im Netz. Ein Weblog ist so genannte social Software, bei der eine unbestimmte Anzahl von Personen gemeinsam eine Webseite inhaltlich gestalten kann. Wir wollen hier das Archiv der Kommunikationsguerilla (http://www.contrast.org/kg/kollektiv) fortführen (vgl. http://kommunikationsguerilla.twoday.net/topics/0+Kollektives+BLOG+Mitachen). Weblogs funktionieren nach dem Tagebuchprinzip und gehören zu den vielleicht interessantesten Internetwerkzeugen für Koordinierung und Kooperation sozialer bzw. politischer Praxis.