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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 491 / 21.1.2005

Tabubruch mit bleibenden Folgen

Der Weg von Frankfurt nach Abu Ghraib ist eine Rutschbahn

Die Anschläge in New York und Washington am 11. September 2001 werden die Welt verändern. Diese Einschätzung war kurz danach allenthalben zu vernehmen. Für den Bereich der so genannten Inneren Sicherheit trifft dies uneingeschränkt zu. Die Anschläge und der in ihrer Folge erklärte weltweite "Krieg gegen den Terror" sind zur Durchsetzung einer sicherheitspolitischen Agenda genutzt worden, in der auch das absolute Folterverbot zur Disposition gestellt wird. In diesen Zusammenhang ist das Urteil gegen den ehemaligen Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei Wolfgang Daschner einzuordnen.

Die Frage, ob ein Polizist in bestimmten Situationen Tatverdächtige misshandeln und foltern darf, wird seit Februar 2003 in der BRD offen diskutiert. Damals wurde bekannt, dass Wolfgang Daschner dem Entführer des Bankierssohns Jakob von Metzler; Magnus Gäfgen, mit Folter drohen ließ. Es folgte ein inszenierter Tabubruch: Nachdem der Polizeiführer den ausführlich dokumentierten Vorgang bekannt gemacht hatte, nutzte er jede Gelegenheit, sein Vorgehen zu verteidigen. Die deutsche Öffentlichkeit quittierte das mit Verständnis, Unterstützung und offenem Beifall. Es verwunderte deshalb nicht, dass die Frankfurter Staatsanwaltschaft den Vize-Polizeichef und seinen Untergebenen erst nach langer "rechtlicher Prüfung" und dann lediglich wegen "Verleitung zur Nötigung" und nicht wegen Aussageerpressung angeklagt hat.

Und auch wer erwartet hatte, das Frankfurter Landgericht würde mit einem unmissverständlichem Urteilsspruch für klare Verhältnisse sorgen, sah sich getäuscht. Zwar stellte die 27. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt (formal) klar, dass am absoluten Folterverbot nicht zu rütteln sei. Gleichzeitig entschied es sich aber für die mildeste Sanktion, die das Strafgesetzbuch (StGB) hergibt: die Verwarnung mit Strafvorbehalt. Mit anderen Worten: Sie leistete damit der Interpretation des Urteils nach dem Motto "Keine Strafe, also alles nicht so schlimm" bewusst Vorschub.

Keine Strafe, also nicht so schlimm

Dabei ist die Rechtslage eindeutig: Aussageerpressung (§ 343 StGB), d.h. die Androhung und Anwendung körperlicher Gewalt oder seelischer Qualen durch einen "Amtsträger" mit dem Ziel, eine Person zur Aussage in einem Verfahren zu nötigen, ist ein Verbrechen. Es wird mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet. Die Folter und andere Formen der Vernehmung, die den Willen einer Person brechen, sind durch § 136a der Strafprozessordnung verboten. Das Verbot gilt ebenso für die Vernehmung von auskunftspflichtigen Personen im Polizeirecht (§ 12 Abs. 4 Hessisches Sicherheits- und Ordnungsgesetz). Es ist in der Anti-Folter-Konvention der UNO sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert und geht klar aus Art. 1 des Grundgesetzes hervor, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt.

Daschner hat bis zum Schluss nie ein Hehl daraus gemacht, dass ihm das alles bei Erteilung seines Befehls bewusst gewesen ist. Um den Rechtsbruch zu rechtfertigen, berief er sich auf einen einen "übergesetzlichen Notstand". Von "Reue und Einsicht" kann also keine Rede sein, die Gericht und Staatsanwaltschaft ausgemacht haben wollten. Ganz im Gegenteil: Bei Daschner handelt es sich um einen Überzeugungstäter. Vor Gericht gab er unumwunden zu, dass er angeordnet hatte, Gäfgen "nach vorheriger Androhung unter ärztlicher Aufsicht durch Zufügung von Schmerzen (keine Verletzungen) erneut zu befragen". Er wandte sich vehement dagegen, dies als Folter zu bezeichnen. Seiner Ansicht nach sei Folter erst "die vorbedachte Auferlegung schwerer körperlicher Qualen, die ernste und grausame Leiden hervorruft und in der besonderen Situation nicht zu rechtfertigen ist". Seine Folter-Definition weist große Ähnlichkeit mit der von Alberto Gonzalez auf, die der damalige Rechtsberater des US-Präsidenten und heutige US-Justizminister in seinem berüchtigten Memo vom 1. August 2002 gegeben hatte, um die Misshandlungen der Gefangenen in Abu Ghraib und Guantánamo juristisch zu untermauern: "Körperlicher Schmerz, der als Folter bezeichnet werden kann, muss in seiner Intensität dem Schmerz gleichkommen, der eine ernste Körperverletzung begleitet, so wie Organversagen, Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder sogar Tod."

Bei seinem geplanten zielgerichteten "Zufügen von Schmerzen" habe es sich dagegen um "unmittelbaren Zwang" gehandelt, so Daschner, um eine "Zwangsmaßnahme" als letztes Mittel zur Gefahrenabwehr. Daschners Argumentation gleicht der des Heidelberger Professors für Staatsrecht und Rechtphilosophie Wilfried Brugger. Bereits 1996 redete Brugger der Relativierung des Folterverbots das Wort und listete akribisch acht Merkmale auf, die erfüllt sein müssten, damit anschließend gefoltert werden darf. 2000 erschien seine Folterrechtfertigung in der angesehenen Juristenzeitung. Die offene Preisgabe von Menschenwürde und Folterverbot findet seitdem mehr und mehr Unterstützer in Wissenschaft und Justiz:

- Prof. Dr. Volker Erb, Lehrstuhl für Straf- und Strafprozessrecht an der Universität Mainz, unterstellt in einem Artikel in der Zeit (16.12.2004) unter der Überschrift "Nicht Folter, sondern Nothilfe" einem am Folterverbot festhaltenden Staat, "dass er sich strukturell in die Rolle eines Mordgehilfen begibt".

- Den Auftakt zur Umwertung des Begriffs der Menschenwürde in Artikel 1 Grundgesetz lieferte im Frühjahr 2003 der Bonner Verfassungsrechtler Matthias Herdegen im Standard-Kommentar zum Grundgesetz "Maunz-Dürig-Herzog". Er erklärte erstmals Artikel 1 ("Die Würde des Menschen ist unantastbar") in Konkurrenz zu anderen Grundrechten (z.B. Lebensschutz), weshalb "die Androhung oder Zufügung körperlichen Übels wegen der auf Lebensrettung gerichteten Finalität eben nicht den Würdeanspruch verletzt".

- In der aktuellen Auflage des renommierten "Schmidt-Bleibtreu, Kommentar zum Grundgesetz" schreibt Hans Hofmann, Ministerialrat im Bundesinnenministerium, "dass man die Drohung mit körperlicher Gewalt zur Rettung des Lebens eines Entführungsopfers nicht als verwerflich einstufen kann".

Was zählt die "Würde des Menschen"?

- Ähnliches ist im Strafrechtskommentar "Lackner/Kühl" von dem Tübinger Professors Kristian Kühl zu lesen, der "polizeilich-präventive Foltermaßnahmen zum Lebensschutz" als Notwehrmaßnahmen "nicht kategorisch ausschließen" will.

- Der Heidelberger Staatsrechtler Olaf Miehe wurde in der Rhein Neckar Zeitung am 22.2.2003 wie folgt zitiert: "Um es mal ganz drastisch zu sagen: Zwei zerquetschte Daumen sind leichter zu verkraften als der Verlust eines Menschenlebens." So profiliert, konnte er im gleichen Jahr in der Neuen Juristischen Wochenschrift seinen Aufsatz "Nochmals: Die Debatte über Ausnahmen vom Folterverbot" veröffentlichen.

- Der Hamburger Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie Reinhard Merkel plädiert für die Einführung einer "Rettungsfolter" in den Notwehrparagrafen.

- "Als eines der Mittel gegen Terroristen halte ich Folter oder die Androhung von Folter für legitim, jawohl", bekannte Michael Wolffsohn, Professor für Geschichte an der Bundeswehrhochschule in München, in der FAZ am 25.6 2004.

Einen Ausblick auf die Folgen der neuformulierten Idee der Menschenwürde lieferte ein Richter am Berliner Landgericht. In einem Leserbrief an den Tagesspiegel schrieb Richter Andreas Ohlsen unter Bezugnahme auf den Daschner-Prozess: "Schließlich könnte man Magnus Gäfgen sogar unter Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskommission (sic!) subsumieren: Wer so etwas tut, ist ein Unmensch, ein Nicht-Mensch und damit ein ,Niemand`. Und ,Niemand` darf bekanntlich gefoltert werden." (19.12.2004)

Die Bereitschaft wächst in der bundesdeutschen Juristenzunft, die Würde des Menschen zur Disposition zu stellen und Überlegungen anzustellen, wie eine rechtsstaatlich geregelte Folter aussehen könnte. Dafür bedarf es exakter Verfahrensvorschriften, und die Folter muss dem Verhältnismäßigkeitsprinzip folgen, denn bekanntlich zeichnet sich ein Rechtsstaat genau dadurch aus, dass er Recht und Gesetz der Willkür entgegenstellt.

Nicht übersehen werden darf dabei, dass auch ohne solche Verfahrensvorschriften Gewalt in Polizeirevieren und Fälle von Misshandlungen und Aussageerpressung in der BRD Realität sind. Menschen werden von Polizeibeamten misshandelt und gefoltert. (vgl. S. 18) Dabei kommt es auch zu Scheinhinrichtungen, wie im Zuge des Hamburger Polizeiskandals 1994 bekannt wurde. Daschner selbst führte zu seiner Verteidigung zwei Fälle aus Nordrhein-Westfalen an. Dort sollten mit Einwilligung der Staatsanwaltschaft einem Verdächtigen Schmerzen zugefügt werden. (FAZ, 6.12.2004)

In vielen Fällen sind die Übergriffe nur schwer zu belegen, aber auch wenn Ermittlungen wegen Misshandlungsvorwürfen eingeleitet werden, werden sie von Polizei und Staatsanwaltschaft nur schleppend geführt, mit Gegenanzeigen beantwortet und in der Regel eingestellt. Immerhin können sich bislang Polizisten, die Gewaltexzesse verüben, nicht sicher sein, dass ihr Verhalten von strafrechtlichen Konsequenzen ausgenommen bleibt. Es ist gerade dieser Aspekt, der angesichts des Daschner-Urteils Die Welt Schlimmstes befürchten lässt, als wäre diese Schranke durch das Urteil im Daschner-Prozess nicht gefährlich gesunken: "Ein Sieg des Rechtsstaates, werden die einen sagen; Niederlage der Gerechtigkeit, die anderen. Dass es zwischen dem einen und der anderen Spannungen gibt, ist keine neue Erkenntnis. Dass sie zum Nachteil eines Beamten gelöst werden, der sich in einer verzweifelten Lage zu einem verzweifelten Mittel entschloss, aber schon." (21.12.2004)

Wunderwaffe: "Übergesetzlicher Notstand"

Die Befürchtung der Welt scheint übertrieben zu sein. Dafür ist die Rückendeckung der Hardliner von Law-and-Order zu groß. So fordert der fundamentalistische CSU-Abgeordnete Norbert Geis erweiterte Befugnisse für Ermittler, damit "Polizisten den Täter zwingen können, Informationen zu geben, die unmittelbar helfen". Der brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) ist der Meinung, wenn durch Terroristen eine Gefahr für eine Vielzahl von Menschen drohe, müsse "auch über Folter nachgedacht" werden. In dieselbe Kerbe schlägt Wolfgang Bosbach, innenpolitischer Sprecher und stellvertretender Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion. Er sei zwar nicht für Folter, aber es könne "Fallkonstellationen geben, wo das Leben Tausender steht gegen die körperliche Unversehrtheit eines Einzelnen. Dann wird es in diesem Moment einen Abwägungsprozess geben, den der Gesetzgeber gar nicht gesetzgeberisch normieren kann." Wie beim Fall Daschner sei dies "der klassische Fall des übergesetzlichen Notstandes".

Auch ist diese Diskussion beileibe nicht neu. Schon 1976 dachte der damalige niedersächsische Ministerpräsident, Ernst Albrecht (CDU), in seinem Buch "Der Staat - Idee und Wirklichkeit" über eine Einführung der Folter nach. Im Deutschen Herbst 1977 setzte sich die Bundesregierung unter Helmut Schmidt (SPD) unter Berufung auf einen "übergesetzlichen Notstand" über Gesetz, Verfassung und sogar ausdrückliche Gerichtsentscheidungen hinweg, als sie die "Kontaktsperre" über die RAF-Gefangene verhängte. Gleichzeitig wurde öffentlich über die von Franz Josef Strauß angeregte Erschießung von RAF-Gefangenen diskutiert.

"Der Weg von Frankfurt nach Abu Ghraib ist eine Rutschbahn", schrieb der Tagesspiegel zum Urteil im Fall Daschner. (21.12.2004) Wie die Folterbilder aus Abu Ghraib belegen, hat die in den USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 entflammte Debatte über die Anwendung der Folter als legitimes Mittel im "Kampf gegen den Terror" zu einem Dammbruch geführt. Die aktuelle bundesdeutsche Diskussion um eine rechtsstaatliche Güterabwägung für Folter im Ernstfall kann in Zukunft weit reichende Folgen haben. Denn Folter und Polizeigewalt würde nach ihrer Legalisierung nicht nur gegen Kindesentführer praktiziert werden. Die Befürwortung der Folter als "letztes Mittel" des Rechtsstaates führt nicht zur Rettung von Menschenleben, sondern nach Abu Ghraib.

mb., Berlin