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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 496 / 17.6.2005

Ein Kessel Buntes

Nachbetrachtungen zum Euromayday 2005 in Hamburg

Mit dem Mayday 2005 hat die Linke in Deutschland gezeigt, dass sie mehr kann, als am 1. Mai nach Berlin-Kreuzberg zu schielen oder sich von Nazis unter Zugzwang setzen zu lassen. Doch der Mayday wirft auch Fragen auf, die bisher kaum gestellt und nicht beantwortet worden sind.

Dass der erste Mayday in Hamburg stattfand, ist nicht besonders verwunderlich. Aus Berlin kann ein solcher Impuls unter den gegebenen Bedingungen kaum kommen. Obwohl sich dort die radikale Linke jede Perspektive vernagelt hat, scheint die Verarbeitung der Erfahrungen der letzten Jahre noch nicht dazu geführt zu haben, einen Befreiungsschlag zu wagen. In anderen Städten ist die Linke zu schwach, und auch in Hamburg wurde der Mayday - und das ist nur positiv hervorzuheben - gegen Teile der radikalen Linken und eine breite Apathie organisiert. Gleichzeitig konnte er jedoch nicht über das eigene Spektrum hinaus mobilisieren.

Der Vorbereitungskreis setzte sich aus Gruppen zusammen, die im vergangenen Jahr rund um das Thema Aneignung und Migration agiert hatten. Die Dynamik und das aktionistische Potenzial, die die Aneignungsdebatte entwickelt hatte, hat maßgeblich den politischen und sozialen Rahmen geschaffen, aus dem der Mayday in Hamburg entstehen konnte. Dafür spricht auch die Zusammensetzung der Vorbereitungsgruppe aus Kein Mensch ist illegal, Hamburg umsonst und Kanak Attak/Gesellschaft für Legalisierung, die den Mayday in Hamburg nahezu allein schulterten. Auf der Parade selbst waren schließlich Gruppen aus der ganzen Republik anzutreffen und vor allem StudentInnen, die nur wenige Tage zuvor die Staatsgewalt zu spüren bekommen hatten. Ohne ihre Präsenz hätte die Parade sicherlich einen weniger starken Ausdruck gehabt.

Mayday als eierlegende Wollmilchsau

Die "experimentelle Praxis", die in der Kritik von Tussle/Hubbub für eine Intervention in den Prekarisierungsprozess eingefordert wird (ak 495), scheint in Hamburg im Selbstverständnis schon angekommen zu sein zu sein. Zumindest will der Vorbereitungskreis den Mayday als einen "experimentellen 1. Mai" verstanden wissen, als "Labor, in dem neue und ungewohnte Formen von sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Kooperationen ausprobiert und geprüft werden". Zudem soll Politik wieder Spaß machen und mehr sein als verbissenes Besserwissertum (ak 492). Und dennoch ist das Experiment höchst unbestimmt. Was genau entdeckt werden soll, bleibt unklar. Es zeigt sich, dass der Mayday Problematiken aufwirft, vor welchen die Linke in den letzten Jahren ohnehin steht - allerdings ohne dass neue Fragen oder bereits gemachte Erfahrungen diskutiert worden wären.

Es ist kein Zufall, dass der Mayday stattfand, nachdem zwar im linken Blätterwald in den letzten Jahren das Thema der Prekarisierung omnipräsent war, aber Formen organisierten Widerstands kaum auszumachen sind oder sich auf spektakuläre Events beschränken. Auch die im letzten Jahr breit diskutierten "Umsonst"-Ansätze kamen bisher über diesen Charakter nicht hinaus. Bezüglich des Maydays wird zwar immer wieder der Anspruch hervorgehoben, einen sozialen Prozess zu etablieren, gleichzeitig ging es dieses Jahr aber noch nicht über Veranstaltungen und kleinere Aktionen im Vorfeld hinaus, und die sollten vor allem den Event der Parade vorbereiten. Ein eigenes Gewicht und Relevanz kam ihnen kaum zu.

Im Vordergrund steht die Frage der Repräsentation: "Prekäre sind inzwischen ein Eckstein in den Produktionsprozessen von Wohlstand. Nichtsdestotrotz zählen wir nichts und bleiben unsichtbar in den traditionellen Formen sozialer und politischer Repräsentation auf der europäischen Agenda." (Le monde précaire, Zeitung zum Mayday) Die Frage nach der Repräsentation macht jedoch einen Punkt deutlich: Es gibt nach wie vor die verbreitete Vorstellung, dass es bestimmte, schon feststehende Interessen gibt, die nur noch repräsentiert werden müssen; ein Schnellschuss, der mit orthodoxen und klassenreduktionistischen Vorstellungen geteilt wird, dass nämlich die Interessen "der" ArbeiterInnenklasse objektiv einzusehen sind und dass es nur noch eine adäquate Repräsentation in der richtigen Partei benötige. Aus dem einen emanzipatorischen Subjekt "ArbeiterInnenklasse" sind zwar mehrere Subjekte geworden, aber an der zu Grunde liegenden Vorstellung hat sich recht wenig geändert: Die Frage nach der Entstehung der Interessen wird in einen abstrakten "Prozess" verschoben und damit entthematisiert.

Im Mayday drückt sich eine Hoffnung aus, die auch mit dem Begriff der Prekarisierung verbunden wird. So argumentiert die Hamburger Vorbereitungsgruppe, die Stärke des Begriffs Prekarisierung liege darin, einen gemeinsamen Bezugspunkt für unterschiedliche Kämpfe herzustellen. Wie so häufig wird hier die Funktion von Forderungen oder Begriffen deutlich überschätzt. Auf der einen Seite sind sie sicher notwendig, wenn Kämpfe gebündelt werden und eine gemeinsame strategische Ausrichtung erfahren sollen. Auf der anderen Seite aber drücken sie oft den puren Voluntarismus von AktivistInnen aus, die von außen in existierende Kämpfe eingreifen. Dies ist ein allgemeines Dilemma. Auch die Existenzgeldforderung z.B. war Ende der 1990er Jahre als Klammerforderung "neu entdeckt" worden, und sie war wie andere Begriffe eben kein organischer Ausdruck tatsächlicher sozialer Kräfte.

Besonders problematisch wird es, wenn die Grenzen solcher Klammern nicht benannt werden können. So lässt sich aus den letzten Jahren zum Beispiel die Erfahrung formulieren, dass eine mit provokativen und spektakulären Aktionen flankierte Debatte um den Begriff der Aneignung zwar durchaus eine linke Öffentlichkeit dazu gezwungen hat, sich zu positionieren. Allerdings ist es kurzsichtig zu glauben, durch eine geschickte und Aufsehen erregende Platzierung von Begriffen und "Konzepten" wäre schon eine soziale und politische Organisierung erfolgt. Für die Erfahrungen und Erwartungen mit dem FelS-Existenzgeldkongress 1999 gilt Ähnliches.

Fragen stellen, heißt, nach Antworten suchen

Der Prozess, der angestoßen werden soll, bleibt beliebig und unbestimmt und wird doch gleichzeitig durch die Art des Events vorgeprägt. Was soll der Prozess jedoch letztlich anderes sein als ein Organisierungsprozess? Wenn aber die Organisierung zentraler Bestandteil sein soll, dann muss sich im politischen Selbstverständnis noch einiges tun. Dass die Mayday-Parade dieses Jahr so gelaufen ist, ist trotz aller Kritik erfreulich. Eine Debatte der Selbstverständigung müsste allerdings darauf zielen, den Charakter des Prozesses zu klären, den der Mayday vor sich herträgt und als dessen Ausdruck er sich eigentlich versteht. Immer wieder werden "Offenheit" und "Pluralität" hervorgehoben. Die politischen Akteure scheuen sich davor zu vereinheitlichen, drücken sich aber gleichzeitig vor inhaltlichen Aussagen darüber, wohin die Reise gehen soll. Auf einem Nachbereitungstreffen in Berlin wurde deshalb auch von einem Besucher provokativ nach dem Unterschied des Mayday zum kurz danach in Berlin stattfindenden "Karneval der Kulturen" gefragt. (1) Während solche Fragen bei VeranstalterInnen und Mayday-Begeisterten auf Entrüstung stoßen, bleibt dennoch offen, wie die unterschiedlichen Kämpfe und Interessen der unterschiedlichsten Akteure sich verbinden können und sollen. Das ist keine Frage, die auf dem Mayday oder im Vorfeld falsch beantwortet wurde, aber es ist eine der Fragen, die erst gar nicht gestellt wurden, obwohl immer wieder betont wurde, dass es darum gehen müsste, Fragen zu stellen.

Überkommene Organisationsformen wie Parteien und Gewerkschaften sind für die neuen Arbeitsverhältnissen und -bedingungen dysfunktional. So weit klar. Allerdings wird dieser Umstand nur auf der Ebene der Repräsentation thematisiert. Die Frage nach tatsächlich neuen Formen von Organisierung, Vernetzung wird genauso wenig gestellt wie die nach Formen, in denen die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse aneinander geraten können. Es herrscht - nicht zu unrecht wohlgemerkt - die Angst, dass die Zusammenfassung und Organisierung von Interessen und Bedürfnissen dazu führen könnte, Differenzen und Widersprüche einzuebnen. Der Begriff der Multitude drückt genau diese Angst aus, dass bei einer Klassenkonstituierung (worauf es in der Tat ankommen müsste) AkteurInnen und Interessen ausgeklammert oder herrschaftsförmig vereinnahmt werden. Diese Angst führte bisher dazu, dass es nicht mehr als ein tolerantes und interessiertes Nebeneinander von AkteurInnen gibt.

Die Organisationsfrage hat sich unter dem Druck praktischer Notwendigkeiten meist in Form spontaner Selbstorganisierung ergeben. In "dürftigen Zeiten" (Agnoli) geht es darum, als OrganisatorIn eines Produktionszusammenhangs aufzutreten, wie es Oskar Negt 1972 für das Sozialistische Büro (SB) vorschlug: Es sollte nicht darum gehen, per Dekret zu vereinheitlichen oder verbindliche Richtlinien über die wahre Strategie zu postulieren.. Vielmehr müssen Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden, die es Basisgruppen und Selbstorganisierungsansätzen ermöglichen, die Alltagspraxis zu reflektieren und unmittelbare Interessen und Bedürfnisse im Rahmen einer allgemeineren Kritik der kapitalistischen Klassengesellschaft zu artikulieren. Es geht darum, eine selbstständige Organisation der Erfahrung zu gewährleisten. Das bedeutet nicht, einem Spontaneismus das Wort zu Reden, der oft genug nur die andere Seite einer abstrakten und überhistorischen Parteien- oder Organisationsideologie ist.

Was wie tun? Organisationsfrage revisited

Die Idee von der Organisation eines Produktionszusammenhangs bietet die Möglichkeit, ein zentrales Dilemma der Linken zu bearbeiten: Sie organisiert sich trotz aller arbeitsteiligen und schwerpunktorientierten Arbeit entlang von politischen Fragen wie Geschlechterverhältnissen, so genannter sozialer Frage und Antirassismus und nicht entlang von sozialen Bedürfnissen und Interessen. Die Organisationen haben immer das Problem, dass sie in solche sozialen Bewegungen entweder disziplinierend oder nur in dem Sinne eingreifen, dass sie sie später für die eigene Linie ummünzen.

Für den Mayday wie auch für andere Formen der politischen Organisierung ist die zentrale Frage, wie Interessensgruppen und AkteurInnen dafür gewonnen werden, sich an einem solchen Organisierungsprojekt zu beteiligen. Die Einsicht in die Notwendigkeit wird es kaum bewerkstelligen. Des weiteren müssen Kriterien entwickelt werden, die einen solchen Prozess anleiten. Denn bisher bleibt dieser viel beschworene Prozess eine Leerformel der Beliebigkeit. Schon die Erfahrungen aus den Sozialforen können die ersten Konfliktlinien aufzeigen, die es zu diskutieren gilt: Alle an einem wie auch immer gearteten Prozess Beteiligten werden früher oder später die Entscheidung fällen müssen, ob dieser als offener Austausch verstanden wird, wo unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse nicht mehr als die Grenze der eigenen Politik wahrgenommen werden, oder ob relativ schnell ein aktionsfähiger und schlagkräftiger Akteur entstehen soll. Das wiederum setzt voraus, dass Widersprüche zügig ausgeklammert oder kleingearbeitet werden und relativ allgemeine Konsense beschlossen werden müssen (siehe am Beispiel des Berliner Sozialforums ak 481). Egal welcher Weg eingeschlagen wird - beide müssen einen Schritt aus der Beliebigkeit gehen und damit beginnen, Interessen und Bedürfnisse aufeinander zu beziehen, zu gewichten und diesem Prozess eine Form geben, in welchen sie sich Bewegen können. Einmal im Jahr ist da weiß Gott zu wenig.

Ingo Stützle,
organisiert bei FelS

Anmerkungen:

1) Der alljährlich stattfindende "Karneval der Kulturen" ist Ausdruck des "neuen Berlins", in welchem mitten durch Kreuzberg die unterschiedlichsten "Kulturen" und "Ethnien" in einem bunten und lauten Umzug ihre friedliche Koexistenz zelebrieren. Jährlich nehmen über 1 Mio. Menschen an diesem Spektakel teil.