Handreichungen zum Klassenkampf
Aus dem Innenleben eines Hochlohnlandes
Dass die Bundesrepublik ein Hochlohnland sei, wird von allen Seiten, immer wieder und mit aller Kraft in die Gegend posaunt. Was gemessen an einigen Trikont-Staaten auf den ersten Blick plausibel erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als handfester, neoliberaler Mythos.
Dass inzwischen jedes dritte ganz normale Vollzeitarbeitsverhältnis in Deutschland auf der Zahlung von Niedriglöhnen basiert, ist offenbar ebenso wenig zur Kenntnis genommen worden wie der Umstand, dass hier zu Lande über zwei Millionen Menschen in Minijobs schuften und ca. 200.000 1-Euro-PflichtarbeiterInnen gar keinen Lohn erhalten. Wer sich den real existierenden Niedriglohnsektor nicht anschauen mag, dem sei ein Blick auf die Statistik der EU-Kommission empfohlen.
Neoliberale Hochlohnmythen
Die hat jüngst Daten zur Entwicklung der Reallöhne in den Jahren 1995 bis 2004 in 13 ausgewählten Ländern veröffentlicht. Überall sind in diesem Zeitraum die Reallöhne gestiegen - in Spanien wie in den USA, Österreich wie in Irland. Einzige Ausnahme: die Bundesrepublik Deutschland. Hier sind die Reallöhne in den letzten neun Jahren um 0,9 Prozent gesunken. Während die Reallöhne in Schweden (25,4 Prozent) und Großbritannien (25,2 Prozent) angestiegen sind, waren es in den USA 19,8 Prozent, in Irland 19,4 Prozent und in Dänemark 15,6 Prozent. Die niedrigsten Reallohnzuwächse verzeichnen Spanien (5,5 Prozent), Österreich (2,8 Prozent) und Italien (2,0 Prozent).
Die Mär von den hohen Löhnen in Deutschland geht in aller Regel einher mit einem unternehmerischen Gejammere über zu hohe Lohnstückkosten. Doch auch hier straft die Statistik das Unternehmerlager und ihre Ideologen Lügen. In der Tat hat es von 1995 bis 2004 in Deutschland einen Anstieg der Lohnkosten pro Outputeinheit gegeben - um sage und schreibe 2,5 Prozent. Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich einsam und allein - am Tabellenende. Allein in den Euro-Ländern sind die Lohnstückkosten um durchschnittlich 12,6 Prozent gestiegen. Absolute Spitzenreiter in der Lohnkostenentwicklung sind jedoch Polen (75,3 Prozent) und die Tschechische Republik (65,5 Prozent), gefolgt von Griechenland (44,0 Prozent) und Großbritannien (28,7 Prozent).
Jahrzehntelange Umverteilung
Kein Wunder, dass angesichts solcher Entwicklungen auch die Lohnquote in Deutschland kontinuierlich sinkt. Sie misst den Anteil der Löhne und Einkommen am gesamten Bruttoinlandsprodukt, ihr Pendant ist die Profitquote, d.h. der entsprechende Anteil der Unternehmensgewinne und Vermögensrenditen. In den Jahren 1961 bis 1970 lag die Lohnquote in Deutschland bei durchschnittlich 71,6 Prozent. D.h. umgekehrt entfielen 28,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukt auf Gewinne. Nachdem die Lohnquote in Deutschland von 1971 bis 1980 auf ein Hoch von 73,7 Prozent gestiegen war, sinkt sie seitdem stetig: Von 1981 bis 1990 auf 70,9 Prozent und von 1991 bis 1997 noch einmal um 3,2 Prozent auf 67,7 Prozent. Seit den 1980er Jahren bewegt sich somit der Anteil der Löhne konstant unterhalb des Durchschnitts der 1960er Jahre. Nebenbei: Die Lohnquote in Deutschland hat im Dekadendurchschnitt immer unter derjenigen der Gesamtheit der EU-Länder gelegen.
Selbst die Wirtschaftsforschungsinstitute - bei weitem keine Freunde gewerkschaftlicher Positionen - prognostizieren für die Jahre 2004 und 2005 einen weiteren Rückgang der Lohnquote. Der Verteilungsspielraum, der sich nach der Logik der bürgerlichen Wirtschaftspolitik für Tariflöhne ergibt, setzt sich aus der Produktivitätsentwicklung sowie der Preissteigerungsrate zusammen. Für die Jahre von 2003 bis 2005 wird dieser Spielraum hochoffiziell mit 7,4 Prozent angegeben. Dem steht eine durchschnittliche Tariflohnentwicklung von 3,8 Prozent gegenüber.
Während die Löhne in Deutschland im internationalen Vergleich sinken, die Lohnstückkosten deutlich unterdurchschnittlich steigen und sich die Einkommensverteilung kontinuierlich zu Lasten der Löhne verschiebt, steigt zumindest eines: die Bruttowertschöpfung aus der eingesetzten Arbeit. In den letzten 24 Jahren ist die Wertschöpfung je Beschäftigter/em im Durchschnitt kontinuierlich angestiegen. Je 100 Euro Lohnkosten hatten ArbeiterInnen und Angestellte 1980 Werte von 153 Euro produziert. Im Jahr 2004 waren es 171 Euro Wertschöpfung je 100 Euro Lohnkosten - ein Anstieg um fast 12 Prozent! Und ein Anstieg, der sich seit 24 Jahren kontinuierlich vollzieht.
dk
Quellen: WSI, ver.di-Bundesvorstand (Hg.): Wirtschaftspolitik aktuell, DGB (Hg): Einblick