Katrina- und die Vorgeschichte
New Orleans heißt jetzt "Lake George"
Im Schnelldurchlauf erhält die schockierte amerikanische Bevölkerung derzeit mithilfe der Massenmedien eine Lektion in Sachen Rassismus, Sozialkunde, Geographie und Innenpolitik. Doch die "Spinmaster" der Bush-Regierung stehen längst in den Startlöchern, um dem nackten Kaiser wieder zu seinen Kleidern zu verhelfen.
Der gigantische "Superdome" in New Orleans - jener verfluchte Zufluchtsort für fast 30.000 Menschen, in dem sie fünf Tage lang vom US-Katastrophenschutz vergessen in den eigenen Fäkalien ausharren mussten - wird wahrscheinlich abgerissen. Wer sich jetzt nicht freiwillig aus der Stadt entfernt, wird mit Gewalt evakuiert. Das Wasser, das die Suppenschüssel New Orleans bis zu sechs Meter tief füllte, läuft langsam wieder ab, doch die Stadt ist "völlig zerstört". Suchteams müssen sich vor den tödlichen E.Colibri-Bakterien hüten. Die abfließende Brühe wird in der kommenden Zeit Bilder preisgeben, die "Amerika erneut wachrütteln". Der Chef des Katastrophenschutzes FEMA (Federal Emergency Management Agency) hatte das Heimatschutzministerium erstmals um die Genehmigung zur Entsendung von Katastrophenhelfern gebeten, als "Katrina" seit fünf Stunden im Landesinneren wütete. Und die Mutter von Präsident und Nation, Barbara Bush, meint in einer Flutopferunterkunft in Texas jovial, "viele Leute hier waren sowieso unterprivilegiert, das fügt sich deshalb ganz gut für sie".
Dies sind nur einige und nicht unbedingt die aussagekräftigsten Nachrichten, die die amerikanische Öffentlichkeit eine Woche "danach" erschüttern. Sie zeigen den Kaiser, die amerikanische Gesellschaft und die Funktionsmechanismen ihrer Regierung, ohne Kleider. Selbst denjenigen Amerikanern, die keine Zeitung lesen und Internet und Fernsehen ausschließlich zur Unterhaltung nutzen, ist an den gestiegenen Benzinpreisen schmerzhaft aufgefallen, dass etwas nicht stimmt.
Das System habe versagt, heißt es unverblümt in dem Kommentarspalten selbst rechter, Bush-freundlicher Zeitungen. Wenn dies so sei, "ohne dass es einen Feind gab, wie wird es dann erst im Fall eines großen Terroranschlags sein", fragte die Republikaner-Senatorin Susan Collins, die die "Katrina"-Ermittlungen im Senatsausschuss für Regierungsangelegenheiten vorbereitet. Ihr Kollege, der Demokrat Joe Lieberman, versprach, darin "Fragen zu stellen, wie wir sie nach dem 11. September 2001 gestellt haben".
Der Vergleich von katastrophalen Ereignissen wie "Katrina" mit "9/11" galt bisher allenfalls bei "Pearl Harbour" als legitim, ansonsten aber tabu. Jetzt stört er kaum noch jemanden. Und wenn die abfließenden Wassermassen tatsächlich tausende von Leichen zutage treten lassen - wie der Bürgermeister von New Orleans, Ray Nagin, befürchtet - und für die entsprechende Bilderflut in den Medien sorgen, dann könnte "9/11" als identitätsstiftendes Moment und Propagandainstrument für den "Antiterrorkrieg" zumindest zeitweise in den Hintergrund treten. Die Gedenkfeiern am diesjährigen 11. September dürften im Ausmaß und an Intensität jedenfalls weit unter dem liegen, was an den drei Jahrestagen davor stattfand.
"Sowieso unterprivilegiert, passt schon"
Das Problem liegt auf der Hand: Weshalb versagte das Krisenmanagement knapp vier Jahre nach "9/11" in der "größten Naturkatastrophe der amerikanischen Geschichte", warum wurden dadurch tausende von Menschen zu Opfern, warum ist New Orleans trotz aller Warnungen in den Jahren zuvor untergegangen, wie konnten die Behörden "Katrina" zum Schandmal Amerikas werden lassen ?
"Cutbacks and bureaucratic downgrading" - drastisches Einsparen und Zurückfahren der Bürokratie - lautete die Antwort in der Los Angeles Times auf die Frage, weshalb beispielsweise das Kreuzfahrtschiff U.S.S.Bataan, das zeitgleich mit "Katrinas" Wüten zu Lande mit sechs Operationssälen, hunderten von Patientenbetten und der Kapazität, täglich eine Viertelmillion Liter Wasser zu produzieren, vor der US-Golfküste lag, ohne um Hilfe angefragt zu werden. Die "merkwürdige bürokratische Lähmung" (so Newsweek) des US-Katastrophenschutzes FEMA ging der Zeitung zufolge auf eine Entscheidung Washingtons im Gefolge von "9/11" zurück. FEMA hatte davor relativ zuverlässig in Katastrophenfällen Nahrungsmittel, Wasser, Notunterkünfte und Medizin geliefert, war schnell eingesprungen, als es um den Wiederaufbau von zerstörter Infrastruktur ging, und hatte, ähnlich wie eine Privatversicherung, Sicherheitsstandards festgelegt und Kommunen und Bundesstaaten mit Präventivplänen für den Katastrophenfall versorgt. Doch nach "9/11" verlor FEMA ihren Status als eigenständiges Ministerium und wurde im Jahr 2003 dem riesigen "Department of Homeland Security" untergeordnet. Es folgten Haushaltskürzungen, die Abschaffung und Verkleinerung wichtiger Kompetenzbereiche sowie, so die Los Angeles Times, ein "Exodus erfahrener Mitarbeiter". Die Behörde wurde um 500 auf gerade 4.735 Mitarbeiter zwangsgeschrumpft. Aus drei Abteilungen, die für Notfälle zuständig waren, wurden zwei. Außerdem ordnete Washington an, drei Viertel des FEMA-Haushalts für örtliche Katastrophenprävention müssten in "Antiterror-Maßnahmen" gehen.
Der vor wenigen Monaten ernannte Chef des Heimatschutzministeriums Michael Chertoff gab am Wochenende in Interviews sogar zu, Washington sei auf den Orkan unzureichend vorbereitet gewesen. Doch gleichzeitig schob er die Verantwortung auf dessen Ausmaß, und - die Krisenbewältigung in erster Linie bei einzelstaatlichen und lokalen Behörden. Die Bundesbehörde reagiere gemäß ihrem Auftrag im Falle von Naturkatastrophen erst auf Anfrage und unterstütze dann die örtlichen Kräfte. Dass die Crux in der Tat im Spannungsverhältnis zwischen Bundes- und einzelstaatlichen Behörden liegt, unterstrich auch Gesundheitsminister Mike Leavitt. Er gestand auf Journalistenfragen ein, die lang anhaltende Überschwemmung der amerikanischen Golfküste könne zu einer ernsthaften Gesundheitskrise größeren Ausmaßes führen. Doch die Frage, ob vor "Katrina" Mitarbeiter seines Amtes in den Süden entsandt worden seien, verneinte und rechtfertigte Leavitt mit der Begründung, die Bundesbehörden seien qua Gesetz zu einem Adhoc-Ansatz gezwungen: "We are organizing them ... as we go" - wir fangen an zu organisieren, wenn's losgeht.
Katastrophe als logisches Resultat von Marktideologie
Die Ableitung solcher Worte aus den zurückliegenden Jahrzehnten US-amerikanischer Geschichte liegt auf der Hand. Spätestens seit den "Cutbacks" sozialstaatlicher Standards in der Reagan-Ära der 80er Jahre und der neoliberalen Philosophie, der Staat ("big government") müsse sich schrittweise von der "sozialistischen" Kontrolle sich angeblich selbst regulierender Marktkräfte zurückziehen, ist die "Verantwortung" der "Kommunen" in den Vordergrund gerückt. Der linke Kolumnist Robert Scheer schrieb in einem aktuellen Beitrag für "The Nation" dazu, die Katastrophe sei "das Resultat eines Feldzugs der meisten Republikaner und allzu vieler Demokraten, die Rolle einer Zentralregierung im amerikanischen Leben systematisch zu verteufeln. Manipulative Politiker haben Weiße aus der Unter- und Mittelschicht davon überzeugt, dass deren wirtschaftliche und soziale Härten von einer ,quasi-sozialistischen` Regierungspolitik herrühren, die nur armen braun- und schwarzhäutigen Menschen helfe - und das, während gleichzeitig die Profite der Konzerne und die Gehälter von Vorstandschefs in die Höhe schnellen".
Angestellte der Washingtoner Umweltbehörde EPA haben laut Scheer
- ob aus Ironie oder aus Loyalität gegenüber ihrem Brötchengeber,
lässt er dahingestellt - deshalb den Vorschlag gemacht, das
überschwemmte New Orleans einfach umzubenennen in "Lake
George".
Max Böhnel, New York