Kapitalismuskritik und falsche Personalisierung
Einige Thesen zum Begriff des "strukturellen Antisemitismus"
Parallel zu den sich beschleunigenden und krisenhaft verlaufenden Prozessen des globalisierten Kapitalismus, zu den ideologisch überhöhten Debatten über Unterschiede der (europäischen und US-amerikanischen) Unternehmenskulturen und den neuen Formen finanzkapitalistischer Profitmacherei ist eine reformistische "Kapitalismuskritik" entstanden, die sich weitgehend an keynesianischen Vorstellungen orientiert. Dieser Globalisierungskritik wird von verschiedener Seite vorgeworfen, dass sie sich in ihren Grundzügen und insbesondere ihrer Bildersprache als kompatibel mit antisemitischem Denken zeige. Von KritikerInnen wird der Begriff des "strukturellen Antisemitismus" bemüht, um diese unzulängliche Kapitalismuskritik zu treffen.
Der Begriff des "strukturellen Antisemitismus" transportiert seinerseits eine Verkürzung. Entscheidend am Antisemitismus ist die Personalisierung moderner oder kapitalistischer Erscheinungen im "Juden". Der ideologiekritisch und sozialpsychologisch zu behandelnde Prozess, der zu dieser falschen Personalisierung führt, wird durch den Jargon vom "strukturellen Antisemitismus" verdunkelt.
I. Reformismus, nicht "struktureller Antisemitismus"
Ende der 1990er Jahre entstand eine neue Bewegung, die die kapitalistische Globalisierung ins Fadenkreuz der Kritik nimmt und die Orte der Treffen der mächtigen kapitalistischen Organisationen der Welt (G7, IWF, WTO etc.) aufsucht und blockiert. Diese Bewegung ist schwer auf ein politisches Programm zu fixieren, und ihre soziale wie ideologische Zusammensetzung ist vielgestaltig. Die in Frankreich gegründete Gruppe attac ist die am besten organisierte und medienwirksamste Gruppierung: Sie versucht der Bewegung ein Programm zu geben: Der aktuelle Kapitalismus wird als entfesselte Diktatur der Finanzmärkte begriffen, den man über Steuern auf Finanztransaktionen in geordnete, produktive Bahnen zu lenken habe.
Die philanthropischen bis neo-kathedersozialistischen Versuche, gegen den angeblichen Bedeutungsverlust des Nationalstaates wieder verstärkt die regulierende Hand des Staates einzuklagen, können auch auf autoritäre Krisenlösungsmechanismen zusteuern. So bemerkte ein niederländischer attac-Vertreter vor einigen Jahren über die autoritären Krisenlösungsmittel asiatischer Staaten wie z.B. Malaysia, dass diese Politik zwar nicht nach wunderschön demokratischen Prinzipien funktioniere, aber wenn weniger mächtige Staaten solches betreiben würden, wäre dies durchaus inspirierend. Auch in anderer Hinsicht gibt es Verbindungen der reformistischen Ideologie mit einer autoritären. In beiden finden sich stereotype Annahmen über die "Globalisierung", Schwarz-Weiß-Malerei und konservative Denkfiguren. Heimatloses spekulatives Kapital vs. gute heimische Produktion, finstere Verschwörungen und machtlose Nationalstaaten, amerikanischer "Raubtierkapitalismus" vs. "Rheinischer Kapitalismus" - diese Stereotypen gehören zu einer "Kapitalismuskritik", die nahe am Antisemitismus gebaut ist und sich natürlich nicht als Fundamentalkritik begreift, sondern als Reformvorschlag.
Besonders frappierend sind die rückwärts gewandten Denkmuster, die die Phase des fordistischen und keynesianischen Kapitalismus beschönigen. Es ist kein Zufall, dass Henry Ford einer der größten antisemitischen Agitatoren der Weltgeschichte war und Keynes seine wirtschaftspolitischen Vorschläge in einem geschlossenen, autoritären Staat am besten ausgeführt sah. Das ist den rückwärts gewandten GlobalisierungskritikerInnen vorzuhalten.
II. Antisemitismus: eine spezifische falsche Personalisierung
Antisemitismus ist eine auf Harmonie und Klassenversöhnung ausgerichtete Ideologie, die schein-rebellisch sowohl gegen den Liberalismus als auch gegen den Marxismus antritt. Soziale Bewegungen und Proteste wurden von ihm begleitet, lange bevor er rassistisch und nationalistisch aufgeladen wurde. In dem Maße, wie Altes und Tradiertes von der historischen Bühne abtritt, versucht der Antisemitismus Gemeinschaft zu stiften. Diese Gemeinschaft konstituiert sich in der Markierung eines radikal "Anderen", dessen Verschwinden oder gar Vernichtung intendiert ist. Die Juden stehen im antisemitischen Weltbild für die zentralen Medien der modernen Gesellschaft; sie verkörpern das Geld, die Börse, das Finanzkapital, die Presse. Darin liegt auch der tiefere Grund für den Zusammenhang von Verschwörungstheorien und Antisemitismus. Die Juden würden über eine weltumspannende Macht verfügen, kraft derer sie alles "Gegebene" - Völker, Religionen und Kulturen - bedrohen, verkündet der Antisemit. Dieses Phantasma jüdischer Macht ist dem Antisemitismus eingeschrieben.
Wichtig ist, dass der Antisemitismus eine Personalisierung un-personaler Verhältnisse wie Macht, Geld u.ä. ermöglicht. Dadurch, dass Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft zwar nach wie vor persönlich vermittelt ist, aber Abstraktionen vorherrschen (das Wertgesetz), wird der Antisemitismus zur Ideologie in der bürgerlichen Gesellschaft par excellence. Die Personalisierung eines abgespaltenen Aspekts des Kapitalverhältnisses (zum Beispiel Zirkulationssphäre, Geld, Zins) in "dem Juden" ist als entscheidendes Moment zu benennen, wodurch aus der Möglichkeit des Antisemitismus tatsächlich Antisemitismus wird; aber nicht schon die Abspaltung selbst ist Antisemitismus. Um von Antisemitismus sprechen zu könne, muss eine Identifizierung und Personalisierung eines gesellschaftlichen Phänomens und Verhältnisses im "Juden" vorliegen. Der Begriff des "strukturellen" Antisemitismus ignoriert diese entscheidende Personalisierung.
Tatsächlich werden je nach historischer Situation, sozialstrukturellen Bedingungen und geographischer Lage mit ähnlichen Argumenten, die aus dem klassischen modernen Antisemitismus bekannt sind, andere soziale Gruppen markiert: So wurde beispielsweise die chinesische Minderheit in Indonesien während der Asienkrise 1997/98 wegen ihrer Stellung als "intermediäre Fremdgruppe", die in der Zirkulationssphäre angesiedelt ist, angegriffen. Die Ähnlichkeiten, wie die Unterschiede zum Antisemitismus müssten hier herausgearbeitet werden; die Etikettierung "struktureller Antisemitismus" hilft wenig weiter.
III. Wert- und Weltanschauungsjargon
Der Jargon vom "strukturellen Antisemitismus" geht auf die neue deutsche Wertkritik zurück. Dieser geht es um einen Bruch mit bestimmten Traditionsbeständen des Marxismus: Leugnung des Klassenbegriffs, theoretische Herabsetzung der Kategorien des Mehrwerts und der Ausbeutung, unspezifisch-überhistorischer Arbeitsbegriff, der zu einer generellen Ablehnung dieser Kategorie führt. Zu der apodiktischen Art, in der dies mehr verkündet als begründet wird, gesellt sich eine moralische Ablehnung der Arbeiterbewegungstradition, die als Karikatur dargestellt wird. Am ärgerlichsten ist die Verwischung von Arbeiterbewegung und Antisemitenbewegung mittels Syllogismen. So wird der Antisemitismus innerhalb der Arbeiterbewegung weniger sozialhistorisch erforscht und kritisiert als vielmehr schein-theoretisch behauptet: Marxisten und Antisemiten hätten sich in ähnlicher Weise positiv auf die Arbeit bezogen und das Abstrakte in ähnlicher Weise im Kapitalisten personalisiert.
Personalisierung als solche wird bereits als "strukturell antisemitisch" begriffen und die eigene Weltanschauung einer "subjektlosen Herrschaft" dagegen gehalten. Verkannt wird dabei, dass der Kapitalismus als soziales Verhältnis auf Träger zurückzugreifen hat, diese Personifikationen ökonomischer Verhältnisse darstellen und dass eine Sozialkritik diese sowie ihre sehr bedingte Wirkungsmächtigkeit korrekt zu benennen hat - was der Antisemit gerade nicht tun kann und will. Mit der Etikettierung "strukturell antisemitisch" wird eine Position und "erste Regung" - gegen den Chef, gegen den Kapitalisten - moralisch diskreditiert, die vielmehr nüchtern und analytisch zurückgewiesen werden müsste, weil die Attacke auf Personifikationen ökonomischer Verhältnisse, also beispielsweise auf die Revenuequellenbesitzer (die Kapitalisten, die den Profit bzw. Zins einstreichen) verkürzt ist und nicht an die Mehrwertproduktion heranreicht.
Laut wertkritischer Konzeption macht "verkürzte Kapitalismuskritik", wie sie vor allem Antiimperialisten zu eigen sei, aber aus, dass sie antagonistische Gegnerschaften postuliert und sich in der Kritik personifizierend auf die Kapitalisten beschränkt und nicht die kapitalistischen Strukturen als solche kritisiert - was immer auch letzteres heißen mag: Warenkritik und darauf beschränkte "Wertkritik"? Kritik "subjektloser Herrschaft"? Beides dringt zu dem Kapitalismus als sozialem Verhältnis nicht vor, besonders die beliebte Warenkritik bleibt weitgehend zirkulationsfixiert. Aus der "verkürzten Kapitalismuskritik" würde ein binäres und verdinglichendes, ein personalisierendes und moralisierendes Denken entstehen, das eine Clique von bösen Herrschenden annehmen müsse.
Doch nicht jedes personalisierende und moralisierende Räsonieren über den Kapitalismus folgt der Logik des Antisemitismus. Und darüber hinaus: Wer meint, jede Vorstellung einer antagonistischen oder binären Gesellschaft sei antisemitisch, will den fundamentalen Unterschied beispielsweise zwischen Klassenkampf und "Rassenkampf", zwischen der Diagnose einer Klassengesellschaft und der Ideologie von Volksgemeinschaft nicht mehr sehen, mehr noch: er verkennt gerade, dass der moderne Antisemitismus "eine leidenschaftliche Anstrengung ist, gegen die Spaltung der Gesellschaft in Klassen eine nationale Einheit zu verwirklichen" (Sartre). Damit verbleibt der Kritiker des "strukturellen Antisemitismus" innerhalb eines bürgerlichen Rahmens. Der Vorwurf des "strukturellen Antisemitismus" dient nicht zufällig einem links und kritisch eingefärbten Anti-Totalitarismus.
IV. Szene-Jargon und Assoziation, weder Kritik noch Theorie
Die dem neuesten Jargon verpflichtete "Szene" stellt sich mittlerweile solch hirnrissige Fragen: "Ist die Kritik am oder sogar die Verwendung des Begriffes ,Finanzkapital` strukturell antisemitisch, weil ein den Antisemitismus konstituierendes Bild das des ,Geldjuden` ist? Ist die Kritik an den USA strukturell antisemitisch? Vielleicht bereits das Einwerfen einer Bankscheibe?" Hier tritt die Assoziation an die Stelle der Analyse, und es ist bedenklich, wie schnell Kritiker des "strukturellen Antisemitismus" auf bloße Begriffe wie der Pawlowsche Hund reagieren und damit zeigen, wie sehr besonders Personen und Gruppen aus dem sich "antideutsch" nennenden Milieu selbst von antisemitisch grundierten Assoziationen getrieben werden. Warum sollte - um andere Beispiele anzuführen - allein der Gebrauch der Vokabeln "vagabundierend" oder "zersetzend" antisemitisch motiviert sein? Welches Bild vom "Juden" (und allein eine solche Identifizierung ist bereits antisemitisch) haben die KritikerInnen des "strukturellen Antisemitismus", wenn sie diese Vokabeln anmahnen, selbst? Die Skandalisierung dieser Vokabeln als "strukturell antisemitisch" sagt mehr über die Pseudo-KritikerInnen selbst als über den Gegenstand.
Gerhard Hanloser