Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 499 / 21.10.2005

Widersprüche und Herausforderungen des "Post-Neoliberalismus"

Teil I:Regierungsprojekte und Bewegungen in Argentinien, Brasilien und Venezuela

Dass der Neoliberalismus weltweit zumindest in eine Akzeptanzkrise geraten ist, hat sich inzwischen herumgesprochen. Doch was bedeutet das konkret für Ökonomien und Bewegungen außerhalb der kapitalistischen Metropolen? Mario Candeias analysiert den komplizierten Prozess post-neoliberaler Globalisierung in zwei Schritten - in dieser Ausgabe am Beispiel dreier linksregierter lateinamerikanischer Länder. Im Mittelpunkt des zweiten Teils seiner Analyse, den wir in der kommenden Ausgabe veröffentlichen, wird die Entwicklung in China stehen.

Der Neoliberalismus versprach auch den Ländern der kapitalistischen Peripherien eine Perspektive: nicht Entwicklung durch Binnenzentrierung und Importsubstitution, sondern das Versprechen von Entwicklung durch vollständige Integration in den Weltmarkt. Ein beträchtliches Wachstum in weiten Teilen der Erde, nicht nur konzentriert auf "Eliten" und "Agenten des internationalen Kapitals", sondern die Entwicklung von Mittelschichten, die Beendigung der Hyperinflation, das Aufbrechen patriarchaler und feudaler Strukturen, die Durchsetzung formeller Demokratien konnten als Elemente für eine grundsätzliche Zustimmung weiter Teile der Bevölkerung dienen. Teile der Peripherien, v.a. in Südostasien, können zu den führenden Ökonomien aufschließen. Südkorea, aber auch Mexiko wurden als erste "Schwellenländer" in den Club der OECD aufgenommen, was einer Anerkennung als "entwickelter Ökonomie" entspricht. Die globale Industrieproduktion hat sich vervielfacht und verteilt sich auf immer weitere Räume.

Architektur globaler Finanzmärkte

Die feuilletonistische Rede vom "Ende der (Lohn-)Arbeitsgesellschaft" erweist sich angesichts einer nie da gewesenen globalen Expansion von Lohnarbeitsverhältnissen als bornierter Unsinn. Gleichzeitig verschärft die Forcierung der Exporte durch die Länder der Peripherie die Konkurrenz auf den Weltmärkten. Die intensivierte "Standortkonkurrenz" übt ihrerseits Druck auf Löhne, Sozialleistungen und Regulationsweisen der kapitalistischen Zentren aus. Ganze Industrien wurden abgebaut und andernorts wieder hochgezogen - die Textilindustrie der alten Bundesrepublik z.B. beschäftigte ehemals 900.000 (1970), heute nur noch ca. 140.000 Arbeitskräfte (2004); produziert wird nun überwiegend in China, nicht zuletzt von deutschen Unternehmen. Manchmal ist die Verlagerung ganz wörtlich zu nehmen, etwa wenn eine hochmoderne Kokerei in Dortmund Schraube für Schraube zerlegt und in China wieder aufgebaut wird.

Auf der Suche nach neuen Verwertungsgebieten dringt das Kapital in die inneren und äußeren Peripherien vor, verwandelt immer weitere gesellschaftliche Bereiche in Ware, von den öffentlichen Diensten über Gesundheit und Bildung, den Körper, die Psyche bis zur natürlichen Umwelt, genetischen Ressourcen (Biodiversität) oder elementaren, lebensnotwendigen Gütern wie Wasser und Land. Doch entfaltet sich die hegemoniale Wirkung neoliberaler Globalisierung in den Peripherien weniger durch Konsens als durch einen krisenvermittelten disziplinierenden Neoliberalismus.

Die Durchsetzung neoliberaler Prinzipien und kapitalistischer Inwertsetzung wird über Zwangsmechanismen bis hin zur Anwendung offener Gewalt abgesichert. Eines der wirksamsten Mittel der Disziplinierung ist die neue Architektur globaler Finanzmärkte. Die Schuldenkrisen der 1980er und die Finanzkrisen der 1990er Jahre fungierten als Mechanismen, um relativ geschlossene Märkte oder Ökonomien aufzubrechen (wie im Falle Süd-Koreas), um neue Möglichkeiten für Übernahmen zu schaffen und die Zentralisierung des Kapitals zu beschleunigen, oder um einen starken Hebel zur weiteren Gewährleistung der Umverteilung in Richtung der Geldvermögen bereitzuhalten. Die Momente der Instabilität selbst konnten durch Desorganisation und Schwächung bestimmter Kräfte zur weiteren gesellschaftlichen Verankerung des Neoliberalismus dienen.

Ein Beispiel der disziplinierenden Wirkung ist der Fall Brasilien - mit über 250 Mrd. US-Dollar verschuldet und im Zuge der Argentinien-Krise akut von "Ansteckung" gefährdet. Angesichts einer drohenden Übernahme der Regierung durch die linksgerichtete Arbeiterpartei setzte der IWF die Androhung der Streichung von Hilfen ein, um die Arbeiterpartei schon vor dem Regierungsantritt auf die Gewährleistung einer liberalen Wirtschaftspolitik und die Rückzahlung der Schulden zu verpflichten - ein unverhohlener Zwang, der freilich (gegen den Willen der USA) mit dem Zuckerbrot des größten Kredits in der Geschichte des IWF in Höhe von 30,4 Mrd. US-Dollar (plus 14,5 Mrd. Dollar von der Weltbank, davon 10 Mrd. für Armutsprogramme) belohnt wurde. Die Auszahlung der Kredittranchen ist allerdings an harte Bedingungen geknüpft; so muss das Land in den nächsten Jahren einen Haushaltsüberschuss von mindestens 3,75% des BIP nachweisen - eine Zumutung, die erst vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten europäischer Länder wie Deutschland, die immer neue und größere Defizite aufweisen, deutlich wird. Für eine linke Politik des brasilianischen Präsidenten da Silva (Lula) eine nahezu unüberwindbare Einschränkung der Handlungsspielräume.

Weltweite Ausdehnung der Lohnarbeit

Die Mechanismen liberalisierter Geld- und Kapitalmärkte erleichtern es, Überakkumulationstendenzen und Instabilitäten in Folge der Aufblähung fiktiven Kapitals in den Zentren zu externalisieren. Damit ist gemeint: die Überausbeutung von Gruppen, Klassen und Räumen außerhalb der Grenzen bzw. am Rande des hegemonialen Konsenses, von natürlichen und gesellschaftlichen Ressourcen, oder die Verschiebung von (z.B. ökologischen) Problemen in eine unbestimmte Zukunft. Fortgesetzte Schulden- und Währungskrisen, erzwungene Öffnung der Märkte, eine von den Bedürfnissen der Bevölkerungen absehende forcierte Exportorientierung, Hochzinspolitik, Strukturanpassungsmaßnahmen und Reduktion staatlicher Ausgaben etwa für öffentliche Beschäftigung, Bildung, Gesundheit, für elementare Versorgungsleistungen - das sind die Folgen neoliberaler Modernisierung für die überwiegende Zahl der Peripherien.

Diese neoliberale Mixtur zieht einerseits kurzfristiges Kapital an, das dann für langfristige Investitionen eingesetzt werden kann. Doch wenn andernorts vergleichsweise günstigere Verwertungsbedingungen zu finden sind, wird dieses Kapital ebenso schnell wieder abgezogen, bankrotte Ökonomien zurücklassend. Das Vordringen transnationaler Produktionsnetzwerke führt zwar zur Ausbreitung der Lohnarbeit bis in die hintersten Winkel der Erde, die Intensivierung des Handels und Inwertsetzung von Naturräumen zerstört jedoch zugleich traditionelle Subsistenzweisen, welche das Überleben mit Niedrigstlöhnen aus der Lohnarbeit überhaupt erst möglich machten. Zugleich führen Niedriglöhne, Produktion für den Weltmarkt und Hochzinspolitik zu mangelhafter Entwicklung der Binnenmärkte und zu geringen Wachstumsraten. Immer wieder geraten ganze Gesellschaften an den Rand ihrer Reproduktionsfähigkeit, zuletzt besonders eindrücklich in Argentinien.

Weite Teile der Bevölkerung in Lateinamerika, Indien, Südafrika oder Korea lehnen eine weitere Kommodifizierung - das zur Ware werden - von allem und jedem ab, artikulieren v.a. gegenüber den USA offenen Hass. Transnationale Protestbewegungen gewinnen an Stärke. Innerhalb der WTO formiert sich die "Gruppe der 20+", die sich gegen eine weitere einseitige Liberalisierung des Welthandels sperrt. Der IWF erntet offenen Widerspruch von Regierungen des Südens, die seine Programme nicht umsetzen wollen. Der Neoliberalismus gerät in eine Legitimationskrise. Insbesondere in Südamerika werden reihenweise Mitte-Rechts-Regierungen abgewählt, Präsidenten aus dem Land vertrieben, gelangen linksgerichtete bzw. anti-neoliberale Parteien und Personen in zentrale staatliche Positionen, vielfach getragen oder getrieben von erstarkten sozialen Bewegungen wie der Landlosenbewegung MST oder den Piqueteros (Bewegung der Arbeitslosen): in Uruguay, Bolivien, Ecuador, Venezuela, Brasilien, Argentinien und zuvor schon in Chile.

Längst haben sich Formen transnationaler Staatlichkeit herausgebildet: Viele der gemeinhin Nationalstaaten zugeschriebenen Elemente von Souveränität obliegen inzwischen transnationalen Ebenen: von der Währungssouveränität über die Rechtsetzung bis zum Gewaltmonopol. Es kommt jedoch immer wieder zu Widersprüchen zwischen transnationalen und nationalen staatlichen Formen. Schließlich repräsentiert jeder Staat als Teil des Transnationalen auch spezifisch nationale Verdichtungen von Kräfteverhältnissen und bildet eine mehr oder weniger konzentrierte Form ökonomischer, politischer und ideologischer Macht. (1) Unterschiedliche Klassenfraktionen im Nationalstaat verfolgen unterschiedliche Interessen und entwickeln verschiedene Strategien - Transnationalisierung der Ökonomie versus Nationalökonomie, Weltmarktorientierung versus Binnenmarktorientierung, Erhaltung des nationalen Wohlfahrtsstaates versus Umbau zum multiskalaren Wettbewerbsstaat etc. Daraus ergeben sich rivalisierende Strategien von sich transnational konstituierenden Koalitionen gesellschaftlicher Kräfte und zahlreiche Widersprüche. Die Transnationalisierung der Ökonomie wird dabei auch im "Inneren" der Nationalstaaten betrieben und nicht von "außen" erzwungen. Obwohl die Hegemoniefunktionen transnational konzentriert sind, artikulieren sich nun gegen den Neoliberalismus gerichtete Projekte wie die Regierungen von Chávez, Kirchner oder Lula als nationale Projekte. Gleichzeitig versuchen sie, spezifische internationale Strategien zu entwickeln, um überhaupt Spielräume im Innern zu eröffnen, und nutzen Widersprüche innerhalb des transnationalen Blocks an der Macht. Ihre Perspektive ist also keine gegen den globalen Kapitalismus, kein Bestreben nach Abkopplung vom Weltmarkt. Sie versuchen vielmehr, eine Integration unter veränderten Bedingungen zu erreichen.

Argentinien - Implosion und Zuckerbrot

In Argentinien nahm die Krise von 2001/2002 die Ausmaße eines ökonomischen Zusammenbruchs an. Ausgelöst durch die Implosion der Wechselkursparität des Peso an den US-Dollar, kam es zu Unternehmenspleiten, Betriebsschließungen, Massenentlassungen. Die Freigabe des Wechselkurses führte zur Entwertung bzw. Vernichtung von Sparvermögen sowie dem vorübergehenden Verlust eines allgemeinen Äquivalents (auf dem Höhepunkt der Krise wurden bis zu 50 Ersatzwährungen gehandelt). Große Teile der Mittelschichten wurden in die ohnehin seit Mitte der 1990er Jahre grassierende Armut gestürzt. Die Krise fegte nicht nur die politischen Repräsentanten des neoliberalen Modells aus der Regierung, sondern führte zu einer tief greifenden Krise der politischen Institutionen insgesamt. Gegen die etablierte politische Klasse richtete sich die gemeinsame Wut von (Mittelschicht-getragenen) cazerolazo-Protesten, (2), der Versammlungen in den Stadtteilen und den Straßenblockaden der in den piquetero-Bewegungen organisierten Arbeitslosen. Die Versorgungsleistungen von Staat und formeller Ökonomie waren zusammengebrochen, also nahmen die Menschen die Organisation des Lebensnotwendigen selbst in die Hand: es kam zur Plünderung von Supermärkten, erhöhter Kriminalität und Raub, v.a. aber zur Organisation einer informellen solidarischen Überlebensökonomie jenseits von Markt und Staat mit Volksküchen, Tauschmärkten, Fabrikbesetzungen etc.

Die im April 2003 neugewählte Regierung Kirchner konnte sich nur auf eine geringe Legitimität berufen. Keiner der Kandidaten zur Präsidentschaft hatte im ersten Wahlgang mehr als ein Viertel der Stimmen erhalten, und das bei einer nur geringen Wahlbeteiligung. Angesichts der Legitimationskrise der politischen Institutionen hatte Kirchner nichts zu verlieren. Ohne eigene Machtbasis und ohne Rückhalt in der Bevölkerung konnte er nur Handlungsspielräume gewinnen, indem er außenpolitisch gegenüber IWF und transnationalem Kapital eine anti-neoliberale Politik verfolgte. Dies war wiederum möglich, weil mobiles Kapital, nicht zuletzt europäisches, ohnehin schon das Land verlassen hatte und die Ökonomie am Boden lag. Kirchner wusste, dass es schlimmer nicht kommen konnte, der IWF auch kein Interesse an einer weiteren Verschärfung und Ausbreitung der Krise in Uruguay und Brasilien hatte. Mit seiner popularen (3) außenpolitischen Haltung in Fragen der Umschuldung konnte Kirchner innenpolitisch die Legitimität des politischen Systems wieder einigermaßen herstellen und gleichzeitig seine eigene Position stärken. Mit dem Grad seiner Beliebtheit in den Umfragen konnte Kirchner auch seine Position innerhalb des Staatsapparates festigen, da alle anderen politischen Fraktionen ohnehin (vorübergehend) diskreditiert waren. Die Umschuldung erweiterte die Spielräume zur Belebung der Ökonomie und finanziellen Unterstützung der Verlierer der Krise. Darüber hinaus agierte er geschickt, indem er die Spaltung der Bewegungen durch Kooptation der "reformerischen" und Marginalisierung/Repression der "radikalen" Elemente vorantrieb. Derzeit richtet sich seine Politik auf wichtige Bereiche gesellschaftlicher Liberalisierung. Damit versucht er, populare Reformen jenseits der Ökonomie voranzutreiben. Denn genau hier liegen die Fußangeln für seine Politik: Angesichts einer schwachen Währung, einer steigenden Inflation trotz hohen Zinsniveaus und geringer Aussichten für profitable Anlagen mangelt es an ausländischem Kapital; das ansehnliche Wachstum des Exportsektors führt kaum zu neuer Beschäftigung, den verarmten Mittelschichten gelingt nur zu einem geringen Teil die Rückkehr in stabile Beschäftigung. Der gesellschaftliche Konsens bleibt fragil.

Brasilien - Anpassung gegen Neoliberalismus

In Brasilien stellt sich die Situation anders dar. Ebenso wie die argentinische ist die brasilianische Ökonomie stark in transnationale Verwertungsstrukturen eingebunden. Anders als Argentinien nach 2001 hat Brasilien jedoch viel zu verlieren. Sollte eine Krise wie in Argentinien vermieden werden, konnte sich die an die Macht gekommene Arbeiterpartei unter Lula nicht den massiven Abzug internationalen Kapitals leisten und war deshalb von Beginn an zu Kompromissen mit dem transnationalen Block an der Macht gezwungen. Während die internationale Kräftekonstellation Kirchners Politik zwar Grenzen setzte, erweiterte sie ihm auch innenpolitisch Spielräume. Die internationale Konstellation wirkt eher hemmend auf die Umsetzung von Lulas anti-neoliberalen Reformprojekten. Seine Stärke basiert vielmehr auf der großen Unterstützung der organisierten Arbeiterschaft in Partei und Gewerkschaften, bei der Landlosenbewegung wie in der armen Bevölkerung generell.

Doch mit dem Wahlsieg hat die Arbeiterpartei noch lange nicht die Macht innerhalb des Staatsapparates oder gegenüber den starken Fraktionen des Kapitals in Exportindustrie und Landwirtschaft gewonnen. Um überhaupt eine Regierungsmehrheit aufrechtzuerhalten und die Unterstützung wichtiger gesellschaftlicher Sektoren zu erhalten, sah sich Lula gezwungen, (neoliberale) Repräsentanten der alten politischen Klasse in entscheidenden politischen Positionen zu tolerieren (Wirtschafts- und Landwirtschaftministerium, Zentralbank etc.). Um seine Position zu festigen, sucht Lula in Koalition mit der inneren Bourgeoisie Brasiliens internationale Konkurrenz- und Machtposition auszubauen, die Bedingungen der weiteren Integration in den Weltmarkt durch Stärkung der Position des "globalen Südens" zu verbessern. Zentrale Instrumente dafür sind so genannte Süd-Süd-Kooperationen etwa mit China, Indien oder Südafrika, die Etablierung der G20+ innerhalb der WTO oder die Vertiefung regionaler Blockbildung im Rahmen des Mercosur. Die Regierung versucht sich also an einer schwierigen Gratwanderung zwischen einer Politik, die das Vertrauen der Finanzmärkte erhält, die Integration in den neoliberal strukturierten kapitalistischen Weltmarkt vorantreibt und mit einer vorsichtigen Politik des sozialen Ausgleichs verbindet. Das Übergewicht der Anpassungspolitiken führte dazu, dass die sozialen Reformen allzu vorsichtig ausfielen, es zu Enttäuschungen bei der sozialen Basis der regierenden Arbeiterpartei kam. Dennoch kann Lulas Politik nicht einfach als "besserer Neoliberalismus" bezeichnet werden. Sie versucht selektiv kleine Verschiebungen in den Kräfteverhältnissen zu erreichen und mit progressiven Reformen zu verbinden, die die Handlungsfähigkeit subordinierter Gruppen erweitern.

Anders als die Regierung Cardoso mit ihrem sozialdemokratischen Neoliberalismus ist Lula als organischer Intellektueller aus den Bewegungen hervorgegangen. Darin wurzelt auch seine Stärke. Nach wie vor gibt es starke Bewegungen, die weiter Druck für eine Umsetzung von Landreformen, Null-Hunger-Programmen, Mindestlöhnen, Deprivatisierung etc. organisieren. Die Landlosenbewegung MST etwa gibt sich nicht damit zufrieden, Forderungen an die Regierung zu stellen. Sie unterstützt Lulas Politik - sofern diese aber erlahmt, erhöht die MST die Zahl der Landbesetzungen, um auf diese Weise Tatsachen zu schaffen und weiteren Druck aufzubauen. Sie rekuriert auf staatliche Politik, aber nur insofern, als es um die Absicherung und Erweiterung von Handlungsspielräumen für die Bewegung und die Aneignung von Lebens- und Arbeitsbedingungen geht. Die MST versucht, eine weitestgehende Selbstständigkeit zu gewinnen, ohne der Illusion einer Autonomie jenseits des Staates zu erliegen. "In and against the state", hatte es John Holloway einmal formuliert (bevor er sich vom ersten Teil des Slogans verabschiedete). Diese strategische und zugleich radikale Haltung wird aber nicht von allen geteilt. Die Enttäuschung treibt viele Gruppen auch innerhalb der Arbeiterpartei in Gegnerschaft zur Regierung. Es kommt zu Abspaltungen von der Partei, aber auch von der Gewerkschaft CUT, die zwar unzufrieden mit der Politik Lulas ist, sich aber nicht gegen die Regierung stellen will. Mit der P-SOL (4) ist es zu einer ersten ernst zu nehmenden Parteineugründung links der PT gekommen. Es droht eine Zersplitterung der Linken. Mit seiner Politik entfernt sich Lula von seiner Basis, droht seine organische Bindung zu verlieren und damit seinen Bewegungsspielraum für "post-neoliberale" Reformen innerhalb des Blocks an der Macht zu verlieren.

Venezuela - Tankstelle der USA

Chávez kann in Venezuela radikalere Politiken forcieren, nachdem er entdeckte, dass er sich auf diese Weise eine soziale Basis schaffen konnte. Selbst durch einen Militärputsch an die Macht gekommen, hatte er zunächst nur das Militär hinter sich, aber keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Als die (kleine und große) Bourgeoisie gegen ihn auf die Straße ging, das Land paralysierte und Chávez zum Rücktritt zwingen wollte, entdeckte er die zuvor nur zaghaft unterstützten sozialen Bewegungen der Armen. Insofern ist seine Politik populistisch und aufgesetzt. Es handelt sich nicht um eine organische Verbindung von Regierung und Bewegung; sie sind vielmehr machtpolitisch eine Art Bündnis zum wechselseitigen Nutzen eingegangen.

In diesem Bündnis werden allerdings Politiken entwickelt, die tatsächlich popularen Charakter entfalten und unabhängig von der Regierungspolitik Eigendynamik entwickeln (beispielhaft im Prozess der Verfassungsgebung). Um etwa die alte Bürokratie als Machtfaktor auszuschalten, unterstützt Chávez die selbstorganisierten Stadtteilorganisation und überträgt ihnen die bürokratischen Funktionen und finanziellen Mittel zur Selbstverwaltung. Auf diese Weise regt er sogar den Prozess der Selbstorganisation an, denn nur für die Selbstverwaltung gibt es zusätzliche Mittel vom Staat. Finanzieren kann Chávez dies allerdings nur auf Grund des hohen Anteils der Ölförderung an der Gesamtwirtschaftsleistung. Venezuela ist eine Rentenökonomie - daher konnte sich Chávez auch den Bruch mit der nationalen Bourgeoisie und einen scharfen Rückgang des Wirtschaftswachstums leisten. Zudem ist Venezuela viel weniger in transnationale Verwertungsstrukturen eingebunden und kaum verschuldet, weshalb auch der US-amerikanische Versuch der Isolierung Venezuelas oder der Druck des IWF verpufften.

Nur in einer Beziehung ist Venezuela stark in internationale Strukturen verwoben - beim Öl. Doch ist ihr Hauptabnehmer von den Lieferungen aus Venezuela ebenso abhängig wie Venezuela von der Abnahme des Öls durch die USA. Mit den Erlösen finanziert Chávez u.a. nationale und transnationale Fernsehprogramme als ideologisches Mittel gegen den US-amerikanischen Imperialismus. Der Einfluss der USA ist aufgrund der breiten Delegitimierung des Neoliberalismus ohnehin eingeschränkt. Die Verhandlungen über ALCA stagnieren, bei der Besetzung leitender Positionen supranationaler amerikanischer Institutionen unterliegen die USA immer wieder mit ihren Vorschlägen. Währenddessen schmiedet Chávez strategische Kontakte zu den anderen Regierungen in Lateinamerika (nicht nur mit Kuba), wozu auch das Angebot billiger Öllieferungen dient (etwa an die kleinen karibischen Staaten). Der polternde Populist ist nur die eine Seite des venezolanischen Anti-Neoliberalismus. Populare Politiken im Innern verbunden mit einem geschickten Agieren auf internationaler Ebene festigen Chávez' Position und reduzieren die Gefahr eines militärischen Eingreifens von Seiten der USA.

Integration und "effektive" Brüche

Transnationale Verhältnisse gewinnen wachsende Bedeutung, auch für Rentenökonomien - die Alternative zur Integration in den Weltmarkt ist die Abkopplung. (5) Da nationale Entwicklungsmodelle kaum noch denkbar sind, ist es für linke Projekte auch nahezu unmöglich, auf dem Wege nationaler Regierungsübernahmen eine Alternative zu realisieren. Nichtsdestoweniger basieren einige der hoffnungsvollsten Versuche aber genau darauf. Sie sind dennoch nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt, insofern es gelingt, die Integration in einer Weise zu organisieren, dass Spielräume erhalten bleiben, staatliche Ressourcen und Recht eingesetzt werden können, um soziale Bewegungen zu stützen, die sich weiter Bedingungen einer "solidarischen Ökonomie" aneignen, ein Gegengewicht zum Exportismus bilden und zugleich transnational ausgreifen, in einem Netz von Bewegungen, das sich nicht auf staatliche Macht verlässt, diese aber strategisch nutzt, um Erfolge abzusichern und internationale Kräfteverhältnisse zu verschieben. Poulantzas verdeutlichte: "Das innere Kräfteverhältnis des Staates zu ändern bedeutet nicht, in kontinuierlicher Steigerung zu reformieren, die staatliche Maschinerie stückweise einzunehmen oder die höchsten Regierungsposten zu erobern. Diese Veränderung besteht in der Ausweitung effektiver Brüche, deren kulminierender Punkt im Umschlagen der Kräfteverhältnisse" (6) liegt - nämlich zu Gunsten der Bewegungen auf den Terrains von ziviler und politischer Gesellschaft. Brasilien und Venezuela, Uruguay, aber auch Mexico nach den nächsten Wahlen könnten wichtige Stützpunkte dafür werden, gerade, umso stärker Praxen gesellschaftlicher Aneignung von "unten" (Landbesetzungen, autonome Räume, Selbstorganisationsprozesse usw.) um sich greifen, sich nicht auf Stellvertreterpolitik verlassen und dennoch staatliche Mittel für ihre Zwecke einzusetzen wissen. Nationale und transnationale Politiken sind dabei kein Gegensatz; es geht für emanzipative Projekte vielmehr um die Verknüpfung der unterschiedlichen Ebenen in neuen politics of scale. (7)

Mario Candeias

Anmerkungen:

1) Transnationale Prozesse sind solche, die gleichzeitig in subnationalen, nationalen und internationalen Arenen stattfinden. Sie sind verbunden mit Veränderungen im Innern der nationalen oder regionalen politischen Formen. Insofern sind regionale und nationale geschichtliche Blöcke in widersprüchlicher Weise in die Herausbildung eines transnationalen geschichtlichen Blocks eingelassen. Letzterer ist die Materialisierung eines Geflechts von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen auf allen räumlichen Ebenen. "Das Transnationale" schließt das Nationale und Regionale mit ein. Es repräsentiert die Einheit des kapitalistischen Weltmarktes und eines transnationalen geschichtlichen Blocks sowie dessen (notwendige) Fragmentierung entlang von nationalen, ethnischen, geschlechtlichen und Klassen- und Währungsgrenzen.

2) Lautstarke Massendemonstrationen unter Zuhilfenahme von Kochtöpfen und -löffeln.

3) popular: im Gegensatz zu "populistisch" meint dieser Begriff keine organisierende, extrem vereinfachende Ideologie, sondern in Anlehnung an Antonio Gramsci Politikformen, die der Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse Rechnung tragen und der Verallgemeinerung der Fähigkeit zur Aneignung und Selbstbestimmung der eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen dienen.

4) Partei Sozialismus und Freiheit, kurz: SOL wie Sonne.

5) Länder in Subsahara-Afrika werden von den globalen Kapitalflüssen kaum erfasst, sind marginalisiert. Nichtsdestotrotz sind sie in das System globaler Märkte integriert, sind sie den gleichen Zwängen der Schuldentilgung, Exportorientierung, Defizitbekämpfung etc. ausgesetzt wie andere auch. Sie weisen noch immer einen Nettokapitalabfluss in Richtung der Zentren aus.

6) Nicos Poulantzas, Staatstheorie, Hamburg 1978, 237.

7) politics of scale: Politikformen, die die Terrains gesellschaftlicher Auseinandersetzung auf internationale/globale, supranationale, regionale wie lokale Ebenen verschieben und die verschiedenen Ebenen strategisch kombinieren.