Das Herz der Bestie - ein unbekanntes Wesen
ArbeiterInnenmacht und die Zukunft des Operaismus
Wir haben uns in dieser Zeitung immer wieder mit dem Operaismus, seinen Vorstellungen von Klasse, Klassenkampf und Autonomie und seinen diversen Strömungen beschäftigt, zuletzt im Rahmen des Schwerpunktes von ak 497. Der folgende Beitrag erklärt daher nicht noch einmal, was Operaismus ist, sondern fragt anhand unterschiedlicher Entwicklungsrichtungen danach, was aus ihm wird. Ausgangspunkt der Überlegungen sind dabei die Thesen, die Beverly Silver in "Forces of Labor" zur Diskussion gestellt hat. (vgl. ak 496, 497).
Über die Zukunft des Operaismus zu sprechen, bedeutet heute für viele, an der "Multitude" von Hardt und Negri oder an John Holloways Fetischkritik anzuknüpfen. Im Vergleich dazu wirkt die historische Untersuchung von Beverly Silver über die Tendenzen der ArbeiterInnenmacht politisch blass und soziologisch. (1) Kein Zweifel, es handelt sich um ein akademisches Buch, es ist kein politisches Manifest und vermeidet jegliches revolutionäre Vokabular. In seiner ganzen Zurückhaltung enthält es aber theoretisch schärfere Waffen, um dem Kapitalismus gedanklich und praktisch auf die Pelle zu rücken, als die stärker philosophisch orientierte Erneuerung des Marxismus sie uns zu bieten hat.
Silvers Grundthese, dass sich in den Zyklen der kapitalistischen Akkumulation durch Produktionsverlagerungen, technologisch-organisatorische Erneuerungen und den Übergang zu neuen zentralen Produktionsgütern stufenweise auch die ArbeiterInnenmacht im globalen Maßstab erhöht hat, wurde in sehr allgemeiner Form schon 1972 von Giovanni Arrighi formuliert: "Der Prozess der Kapitalakkumulation ist gleichzeitig ein Prozess der Unterordnung der ArbeiterInnen unter das Kapital und ein Prozess, in dem die ArbeiterInnen im Konflikt mit dem Kapital an Stärke gewinnen. Durch die Entwicklung des gesellschaftlichen Charakters der Produktion raubt die kapitalistische Akkumulation dem individuellen Arbeiter zunehmend jegliche Möglichkeit, außerhalb des vom Kapital kontrollierten Produktionsapparats seine Existenz zu sichern. ... Aber aus der Asche der individuellen Verhandlungsmacht entsteht die kollektive Macht der ArbeiterInnen." Die Grundlage dafür liegt in der zunehmenden Konzentration und Zentralisation des Kapitals. (2) Arrighi knüpft hier an der Ambivalenz und Dialektik von reeller Subsumtion und Machtzuwachs des "kollektiven Arbeiters" (Romano Alquati) an, eine der Kernthesen des Operaismus in den 1960er Jahren.
Empirische Forschungsarbeit statt ideologische Setzung
In der Nachbemerkung zur englischen Übersetzung von 1978 merkt
Arrighi an, diese Hypothese sei zu "schematisch" gewesen, der reale
historische Prozess verlaufe keineswegs so "linear und
einheitlich". In weiteren historischen Untersuchungen und in der
Arbeit der "World Labor Group", auf deren Ergebnisse sich "Forces
of Labor" stützt, wird der diskontinuierlichen Entwicklung der
globalen Arbeitermacht genauer nachgegangen. Der Grundgedanke, dass
in den Prozess der Kapitalakkumulation unvermeidlich Mechanismen
eingebaut sind, die zugleich die Machtbasis der ArbeiterInnen im
Produktionsprozess ausweiten, wird nicht fallen gelassen, sondern
aus der bloßen Hypothese zur historischen Untersuchung entfaltet
und modifiziert.
Es ist nicht allein die Kapitalkonzentration, auf der die Macht der
"kollektiven Arbeiterin" im Sinne einer sozialen und politischen
Zusammenballung basiert, sondern vielmehr das steigende
Störpotenzial von ArbeiterInnenaktionen. Aus der Struktur und
Organisation der jeweiligen Produktionsprozesse wird diese Macht
entwickelt: zum einen aus der engeren Verkettung verschiedener
Produktionsabschnitte, zum anderen aus der steigenden Bedeutung und
Verwundbarkeit des fixen Kapitals. Silver pocht darauf, dass diese
"Produktionsmacht" in jedem einzelnen Fall und an den konkreten
Kämpfen zu zeigen ist und nicht als überhistorischer
Generalschlüssel missverstanden werden darf.
Fataler Rückzug aus Fabriken und Büros
In dem Maße, wie sie historisch gezeigt hat, wie Prozesse von Klassenbildung auf engste an die Entfaltung neu entdeckter Formen von Produktionsmacht gebunden sind, kann Beverly Silver beispielhaft klarmachen, wie wir uns in neue Prozesse des "making of class" einmischen können. Während der momentane Prekarisierungsdiskurs daran krankt, dass ausgehend von formal-rechtlichen Ähnlichkeiten des Beschäftigungsstatus nach einem "neuen identitären Selbstverständnis" als Klassensubjekt gesucht wird (3), wendet sich "Forces of Labor" ausdrücklich gegen ein identitäres Konzept von Klasse. Stattdessen wird die Entwicklung von struktureller Macht gegenüber dem Kapital in den Mittelpunkt gestellt. In marxistischer Terminologie - die Silver vermeidet - könnten wir davon sprechen, dass Prozessen nachgespürt wird, in denen eben jener Entfremdungsprozess brüchig wird, der die gesellschaftlichen Potenzen der lebendigen Arbeit ständig zur Herrschaft der vergangenen Arbeit, also des Kapitals über die individuellen ArbeiterInnen verkehrt. Entscheidend dafür ist nicht der formal-rechtliche Status, an dem Prekarität heute festgemacht wird, sondern die Struktur der Produktionsketten, d.h. der gesellschaftliche Charakter der Arbeit, in die die ArbeiterInnen eingebunden sind.
In den 1920er Jahren war Arbeit in der Automobilindustrie eine höchst prekäre Saisonbeschäftigung, da zwischen den jährlichen Modellwechseln regelmäßig Massenentlassungen der multinational zusammengewürfelten Arbeitskräfte stattfanden. Silver weist auf die historische Ironie hin, dass damalige Linke den Klassenkampf in den fordistischen Autofabriken auf Grund dieser Prekarität und Heterogenität für unwiederbringlich verloren hielten. Erst nach den großen Streiks Mitte der 1930er Jahre wurde erkennbar, dass die neue Technologie des Fließbandes nicht nur die reelle Subsumtion unter das Kapital perfektioniert hatte, sondern gleichzeitig der GesamtarbeiterIn ein enormes Machtpotenzial verschafft und damit den Übergang von der atomisierten Arbeitskraft zur kollektiven ArbeiterIn als Subjekt ermöglicht hatte.
Das Besondere an dieser Weiterentwicklung des Operaismus wird vielleicht deutlicher, wenn wir es mit dem Konzept der "Multitude" vergleichen. Der Grundgedanke ist ursprünglich derselbe: ArbeiterInnenmacht und -subjektivität ergeben sich aus den Qualitäten der vom Kapital vergesellschafteten Arbeit. Aber während Arrighi und Silver diese Hypothese einer sorgfältigen historischen Prüfung unterzogen haben, sie dabei einerseits präzisierten und modifizierten, ihr andererseits bis auf die Ebene des kapitalistischen Weltsystems nachspürten, gab Toni Negri mit der Verkündung des "gesellschaftlichen Arbeiters" als neuem Klassensubjekt, das an die Stelle des "Massenarbeiters" trete, den Zusammenhang zwischen materiellen Produktionsstrukturen und Klassenbildung auf. Aus der Gesellschaftlichkeit der Arbeit in dem abstrakten Sinn, dass die Arbeiten der vielen Einzelnen irgendwie miteinander zusammenhängen, wurde kurzschlüssig die Existenz und Macht eines neuen Subjekts abgeleitet, ohne diese in den wirklichen Entwicklungen zu fassen zu bekommen.
Bisweilen wird im Übergang zum "gesellschaftlichen Arbeiter" eine berechtigte Korrektur der einseitigen Fabrikzentralität des frühen Operaismus gesehen, oftmals verbunden mit der These, die Kämpfe der 1960er Jahre hätten sich ausgehend von der Fabrik auf die Gesellschaft und den Reproduktionsbereich ausgeweitet. Doch eine solche Sichtweise beruht auf einem Missverständnis - sowohl was die Motive der frühen OperaistInnen betrifft, sich der Fabrik zuzuwenden, als auch in Bezug auf die Abwendung von der Fabrik in den 1970er Jahren.
Raniero Panzieri, der Begründer der Quaderni Rossi hatte sich in den 1950er Jahren als sozialistischer Kader an Landbesetzungen landloser Bauern in Süditalien beteiligt und deren "politische und organisatorische Autonomie" gegenüber einer Partei verteidigt, die diese Bewegungen als einen rein ökonomischen Kampf betrachtete. Seine Entscheidung, sich den Großfabriken im Norden zuzuwenden, beruhte gerade nicht auf einem traditionellen Proletkult, sondern auf der Frage nach der proletarischen Durchsetzungsfähigkeit - insbesondere eines süditalienischen Proletariats, das seine Kämpfe mit blutigen Niederlagen bezahlt hatte und unter der ideologischen Hegemonie der Faschisten blieb.
Proletarische Suchprozesse nach der Anti-Macht
Die Fabrik wurde nicht im orthodox-kommunistischen Sinne als
privilegierter oder exklusiver Ort eines prototypischen "Arbeiters"
gesehen, sondern als ein Mittelpunkt der Kapitalmacht, deswegen
aber auch der Macht der ArbeiterInnen, ganz in dem Sinne, wie Marx
davon spricht, dass es in allen Gesellschaftsformen eine bestimmte
Produktion ist, die alle übrigen Verhältnisse prägt, "eine
allgemeine Beleuchtung, worein alle übrigen Farben getaucht sind".
Die operaistischen Mini-Grüppchen Quaderni Rossi oder
Classe Operaia gerieten nur deswegen nicht in Vergessenheit,
weil sich ihre Thesen in den ArbeiterInnenkämpfen der 1960er und
1970er Jahre bestätigt hatten, und - gerade in Italien - die
Militanz in der Fabrik auf die gesamte Gesellschaft ausstrahlte,
bis hin zu einer der radikalsten Bewegungen gegen die
Psychiatrie.
Aber dieser Sommer der ArbeiterInnenautonomie war sehr viel kürzer als oft angenommen wird. Ab Anfang der 1970er Jahre gewinnen die Gewerkschaften als Vermittler verlorenen Boden zurück, und weder die ArbeiterInnen noch die operaistischen Gruppen finden in der Fabrik eine Antwort auf die Krise. Was zunächst als Ausweitung des Kampfs in die Gesellschaft und die Reproduktionsbereiche erscheint, wurde zunehmend als Flucht aus der Fabrik erkennbar: "Gleichzeitig begann jener selbstmörderische Rückzug der außerparlamentarischen Gruppen aus der Fabrik und jenes Desinteresse an den Problemen der Klassenzusammensetzung. Dies hat dazu geführt, dass die Fabrik und die Arbeiterklasse heute zu ,unbekannten Wesen' geworden sind." (4) Negris Konzept des "gesellschaftlichen Arbeiters" konnte nur zeitweise, beflügelt durch eine neue Jugend- und Studentenbewegung, über die Einkassierung der Arbeitermacht in der Fabrik und die eigene politische Krise hinwegtäuschen. Diejenigen, die die Abwendung von der Fabrik als eine notwendige Korrektur betrachten, übersehen, dass dieser Machtverlust auf alle anderen Bereiche ausstrahlte und sie in das zerstörerische Licht des alltäglichen Neoliberalismus tauchte.
Dieses Desinteresse und die Dominanz von Ideologie über empirische Untersuchung prägt die heutigen Diskurse über "Postfordismus" und "Multitude". Dabei ist gerade in Deutschland die Fabrik und ihre Fließbandproduktion weit eher in den Köpfen als in der Wirklichkeit verschwunden. (5) Und während linke Diskurse über die Kreativität in postfordistischen Arbeitsstrukturen sich immer noch auf das "kurze Tauwetter" von "Alternativen zur tayloristischen Arbeitsgestaltung" Anfang der 1990er Jahre beziehen, konstatiert die Industriesoziologie schon seit Jahren die Renaissance des Fließbands unter dem Druck der Profitkrise.
Wir wissen nicht, was heute dieses "unbekannte Wesen", "die Fabrik" sein wird - nicht im Sinne eines Klischeebildes von dampfenden Schloten, sondern als Ort und Ausgangspunkt einer ArbeiterInnenmacht, die die dingliche Herrschaft des Kapitals praktisch-greifbar entzaubern und dadurch antagonistische Subjektivität wieder ermöglichen kann. Und sicher werden uns nicht kluge Köpfe und ausgefeilte Theorien darauf eine Antwort liefern, sondern proletarische Suchprozesse, an denen wir uns beteiligen, die wir darstellen und bestenfalls an einigen Punkten befördern können.
Christian Frings
Anmerkungen:
1) Beverly Silver: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870, Berlin (Assoziation A) 2005
2) Giovanni Arrighi: Towards a Theory of Capitalist Crisis, in: New Left Review, No. 111, 1978
3) siehe dazu Dirk Hauer in ak 498 und express, 6-7/2005
4) Sergio Bologna: Der Stamm der Maulwürfe, in: Mai-Gruppe/Theoriefraktion.
(Hg.): Wissenschaft kaputt, Münster 1980, S. 251-301
5) "Die Arbeiter gibt es, aber man sieht sie nicht mehr", schreiben Stéphane Beaud und Michel Pialoux in ihrer einzigartigen Untersuchung "Die verlorene Zukunft der Arbeiter" (Konstanz, UVK-Verlag). Über zwanzig Jahre hinweg haben sie den Wandel der Fabrikarbeit von Sochaux-Montbéliard beobachtet und erklären aus der politischen und repräsentativen "Dekonstruktion" der Arbeiterklasse ihre heutige "Unsichtbarkeit". Siehe Besprechung in express 8/2005