Die NS-Mörder sind noch unter uns
SS-Kriegsverbrecher Gerhard Sommer lebt bis heute unbehelligt in Hamburg
Am 12. August 1944 ermordeten 300 Angehörige der 16. Panzergrenadier-Division "Reichsführer SS" unter dem Vorwand der Partisanenbekämpfung 560 EinwohnerInnen des norditalienischen Dorfes Sant' Anna di Stazzema, unter ihnen überwiegend Frauen, Alte, Kinder. Dieses Massaker an der Zivilbevölkerung steht stellvertretend für 250 Ortschaften, in denen die zu "Ehren" des Reichsführer SS Heinrich Himmler benannte Division insgesamt über 2.000 ZivilistInnen ermordete und eine Blutspur durch Norditalien zog. In Italien laufen derzeit einige Prozesse zu den Massakern. Die NS-Täter können sich dennoch in Sicherheit wähnen, zeigt doch die Bundesrepublik Deutschland keinerlei Anstalten, ihre Kriegsverbrecher nach Verurteilung auch auszuliefern.
Nicht nur in Italien, sondern in ganz Westeuropa verübten Wehrmacht, SS- und Polizeitruppen Massaker an der Zivilbevölkerung. Ortsnamen wie Sant'Anna di Stazzema, Marzabotto, Vallucciole (Italien), Oradour-sur-Glane (Frankreich), Kragujevac (Serbien), Distomo, Kommenco (Griechenland) stehen hier für diese Politik der verbrannten Erde. Sie unterlagen dabei der gleichen Strategie wie in dem Vernichtungskrieg, den die Nazis im Osten vor allem gegen die Sowjetunion geführt haben.
Die wenigsten Täter wurden bis zum heutigen Tage zur Rechenschaft gezogen. In Italien wurden 700 italienische Ermittlungsakten während des kalten Krieges im Zuge der antikommunistischen NATO-Politik und mit Rücksichtnahme auf die BRD und ihre von Altnazis durchsetzte Bundeswehr aus dem Verkehr gezogen. Der Schrank mit den Ermittlungsakten, der sich in der Generalstaatsanwaltschaft in Rom befand, wurde einfach umgedreht, so dass sich die Schranktüren nicht mehr öffnen ließen. Über 30 Jahre gingen Bedienstete der Staatsanwaltschaft an diesem "Schrank der Schande" vorbei. Erst 1994 wurde nachgeschaut, was sich in diesem Schrank befindet.
Dies erklärt die jetzige Zunahme von Prozessen in Italien, die auf Grund der alten, neu aufgetauchten Ermittlungsakten geführt werden konnten. Erwähnt sei der Prozess des Hamburgers Friedrich Engel, der in Italien 1999 in Abwesenheit wegen 246fachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Erich Priebke wurde 1998 zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er an dem Massaker an 335 Menschen, darunter 75 Juden, 1944 in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom beteiligt war. Im Juli 2005 wurde der Prozess wegen eines Massakers von Civitella eröffnet, bei dem die Luftwaffen-Division "Hermann Göring" am 29. Juni 1944 mindestens 245 Menschen ermordete.
Der Prozess zu dem Massaker in Sant'Anna, der im April 2004 eröffnet wurde, fand in Italien eine große öffentliche Anteilnahme, da die juristische Bewertung für die gesellschaftliche Ächtung des Verbrechens von hoher Bedeutung war. Am 22. Juni 2005 wurden die Urteile gesprochen. Zehn deutsche SS-Offiziere wurden zu lebenslanger Haft und Entschädigungszahlungen verurteilt, da ihnen die Verantwortung am Massaker von Sant'Anna nachgewiesen werden konnte. Sie wurden schuldig befunden der Beteiligung am fortgesetzten Mord, begangen mit besonderer Grausamkeit. Mit diesem Urteil wurde erstmals anerkannt, dass es sich um keine militärische Aktion oder eine Aktion gegen PartisanInnen, sondern um ein Massaker an der Zivilbevölkerung handelte, und es wurden die Täter beim Namen genannt.
246facher Mord: Der Fall des SS-Offiziers Friedrich Engel
Zwei der zehn verurteilten NS-Verbrecher wohnen in Hamburg; es handelt sich um Gerhard Sommer (Hamburg-Volksdorf) und Werner Bruß (Hamburg-Reinbek). Während sich Werner Bruß verantwortlich für das Massaker fühlte und in Italien schriftlich ausgesagt hat, bestreitet der damalige Ranghöchste Gerhard Sommer bis zum heutigen Tage seine Schuld. Dem Fernsehmagazin Kontraste sagte er noch 2002, dass diese Zeit für ihn erledigt sei: "Ich habe mir keinerlei Vorwürfe zu machen, ich habe ein absolut reines Gewissen".
Die deutschen Mörder brauchen keine Angst zu haben, dass das Urteil vollstreckt wird, denn Deutschland liefert in der Regel Kriegsverbrecher nicht aus. Eine Verurteilung in Deutschland scheint zudem nicht gewollt, denn die deutsche Justiz will keine Anklage erheben. Obwohl Deutschland bekannt war, dass bezüglich des Massakers von Sant'Anna in Italien seit 1995 ermittelt wurde, wurden die Ermittlungen hier erst sieben Jahre später, nämlich 2002, begonnen, erst in diesem Jahr wurde ein Ermittlungsteam gebildet.
Warum es für Mord lebenslang Freiheit gibt
Der Stuttgarter Staatsanwaltschaft liegen alle Fakten und Beweismittel vor, da sie im Zuge der europäischen Übereinkunft bei Strafverfahren mit den italienischen ErmittlerInnen zusammengearbeitet hat. Argumentierte die Staatsanwaltschaft noch vor dem Urteil, sie wolle den Prozess abwarten, um dann schneller verhandeln zu können, erklärt sie jetzt, dass die Fakten irrelevant seien, da es sich in Italien um Militärgerichtsbarkeit handele. Außerdem begründet sie die Nichtanklage damit, dass Mordmerkmale wie Mordlust, Heimtücke, niedrige Beweggründe und Grausamkeit nicht erkennbar wären oder dem Einzelnen nicht nachweisbar seien. Zudem wurden die Mordmerkmale durch das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) im Fall des NS-Verbrechers Engel deutlich heraufgesetzt.
Der in Hamburg lebende SS-Offizier Friedrich Engel wurde im Jahr 1999 vom Militärgericht La Spezia wegen 246fachen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Durch diese Entscheidung genötigt, verurteilte das Hamburger Landgericht den ehemaligen SS-Chef von Genua für eines dieser Verbrechen, nämlich die Erschießung von 59 Geiseln am Turchino-Pass bei Genua, zu lediglich sieben Jahren Haft. Das Urteil des Landgerichts wurde vom Bundesgerichtshof am 17. Juni 2004 in der Revision aufgehoben, eine Wiederaufnahme ausgeschlossen. Wie das Hamburger Gericht urteilten auch die Bundesrichter, dass die Geiselerschießung eine rechtmäßige Repressalie als Antwort auf einen Anschlag auf ein Soldatenkino gewesen sei. Die Geiselerschießungen seien nicht im juristischen Sinne als Mord anzusehen. Es sei "nur" Totschlag gewesen, da die Tatausführung entgegen dem Hamburger Urteil nicht als grausam zu bewerten sei. Totschlag ist nach deutschem Recht jedoch bereits verjährt. Bei einer Anklage wegen Mordes aus weitergehenden Gründen - wie Rache, Mordlust etc. - hätten die Nazis die Tat bereits verfolgen können, so dass auch dieser Straftatbestand verjährt sei. Wegen des hohen Alters des ehemaligen SS-Offiziers und dieser möglichen Verjährung sei das Verfahren nicht mehr durchzuführen, da der NS-Täter Engel sonst zum Opfer der Justiz werden könne.
Der Staatsanwaltschaft wird es diesmal schwer fallen, Anklage zu erheben mit einer Begründung, die vor dem BGH nicht standhält. In Sant'Anna wurden Frauen und Kinder ermordet und mit Benzin übergossen. Der Tatbestand der niedrigen Beweggründe ist somit gegeben. Auch der Mangel an konkreter Tatbeteiligung einzelner Verdächtiger ist durch belastende Aussagen - und durch das Urteil von La Spezia - widerlegt. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass es gewolltes Ziel ist, die Ermittlungen weiter zu verschleppen und zu verzögern, bis die Täter gestorben sind.
Dies würde auch das jetzige Verhalten der Staatsanwaltschaft erklären. Der Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, die vom Verein der Opfer von Sant'Anna beauftragt wurde, im Namen des Vorsitzenden Enrico Pieri Nebenklage zu erheben, wurde die beantragte - und erst zugesicherte - Akteneinsicht verweigert. Mittlerweile wird ihr sogar die beschränkte Akteneinsicht verweigert, die den Beschuldigten bereits gewährt wurde, mit der Begründung, dass die Herausgabe der Akten zum Nachteil für die Beschuldigten wäre. Es scheint klar, dass nur politischer Druck zu einer Anklageerhebung führen wird.
Gerhard Sommer soll nicht ruhig schlafen
Gerhard Sommer lebt seit Anfang des Jahres auf Grund der Pflegebedürftigkeit seiner Frau in der Seniorenwohnanlage CURA in Hamburg-Volksdorf, Lerchenberg 4. In diesem Altendomizil wohnen auch Überlebende des Nationalsozialismus, die sich aber auf Grund ihrer Pflegebedürftigkeit nicht mehr wehren können. Sommer selber ist rüstig, rhetorisch geschickt und bestreitet bis heute, Unrecht begangen zu haben. Erst durch die Presse erfuhren die BewohnerInnen und Angestellten der Seniorenresidenz die Wahrheit über Sommers verbrecherische Vergangenheit. Die daraus resultierenden Diskussionen führten dazu, dass er an Gemeinschaftsveranstaltungen nicht mehr teilnehmen darf.
Am 12. August 2005, am Jahrestag des Massakers von Sant'Anna, wurden dann erstmalig Flugblätter in der Seniorenanlage sowie am Bahnhof verteilt und die Nachbarschaft darüber informiert, dass ein Mörder unter ihnen lebt und dass es zu einer Anklageerhebung kommen muss. Bis zum heutigen Tag lehnt die CURA-Leitung jedoch einen Rauswurf Sommers ab und hält an seiner Unschuld fest, solange das italienische Urteil formell noch nicht rechtskräftig ist.
Maria Meier
Gerhard Sommer soll nicht ruhig schlafen. Weitere Aktionen werden notwendig sein, um seine Verurteilung zu erreichen. Am 26. November findet ab 11.30 Uhr eine Kundgebung und Demo in Hamburg-Volksdorf statt. Treffpunkt: Denkmal Weiße Rose (Nähe Bhf Volksdorf in der Einkaufzone), www.antifainfo.de, Hintergrundinformationen: www.partigiani.de, Kontakt: ak-distomo@zeromail.org