Widersprüche und Herausforderungen des "Post-Neoliberalismus"
Teil II: Der chinesische Staatskapitalismus auf dem Weg in den Weltmarkt
Während Brasilien, Argentinien oder Venezuela auf Seiten der Linken mehr oder weniger Sympathien für ihre gegen den neoliberalen Mainstream gerichtete Politiken genießen (vgl. ak 499), erscheint China vielen als mächtigerer Akteur, um dem neoliberalen Globalismus und US-amerikanischem Imperialismus Einhalt zu gebieten. Mario Candeias untersucht im zweiten Teil seiner Analyse, was von solchen Hoffnungen zu halten ist. Indizien für einen "post-neoliberalen" Entwicklungsweg in China sieht er dabei nicht: Die ideologische Verknüpfung des Herrschaftsanspruchs der Kommunistischen Partei mit Versuchen, gegen die vollständige Deregulierung eine staatlich kontrollierte Integration in den Weltmarkt zu betreiben, ist vielmehr die staatskapitalistische und nach innen autoritäre Variante eines "peripheren Neoliberalismus".
Der chinesische Staatskapitalismus ist keine Gegenbewegung zur neoliberalen Globalisierung. Im Gegenteil: China strebt die vollständige Integration in den Weltmarkt an, versucht dabei allerdings, die Integration kontrolliert und stufenweise erfolgen zu lassen. Dank der eingeschränkten Konvertibilität des Yuan, seiner massiven Unterbewertung, begrenzter Kapitalmobilität und dem Zwang zu Joint Ventures bei internationalen Kapitalinvestitionen gelang dies bislang ausgesprochen gut. Die neomerkantilistische Strategie der Überschwemmung des Weltmarktes mit Billigprodukten, die eine kontrollierte Refinanzierung langfristiger Investitionen und den Import von Kapitalgütern ermöglicht, geht auf. Um einen Airbus A-380 zu kaufen, verkauft China etwa 800 Mio. T-Shirts, wie Handelsminister Bo Xilai erklärt.
Die Konkurrenzfähigkeit der chinesischen Exportindustrien beruht dabei allerdings auf den schlimmsten Formen der Ausbeutung. ArbeiterInnen müssen entwürdigende Disziplinierungsmaßnahmen über sich ergehen lassen, Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften sind ohne Bedeutung. Mit seiner Reform des Arbeitsvertragssystems hat der chinesische Staat die Bedingungen für einen frühkapitalistischen Arbeitsmarkt hergestellt. So ist der Kündigungsschutz aufgehoben und die Begrenzung der Arbeitszeit dereguliert worden, während Streiks weiterhin verboten sind. Gewerkschaftliche Organisationsversuche gegen Überausbeutung werden vom Management mit Entlassung der Beteiligten beantwortet, Streiks mittels staatlicher Gewalt unterdrückt - "Gesetze zur Herabdrückung des Arbeitslohns" oder "Blutgesetzgebung" hat Marx dies einmal genannt. Darüber hinaus verschärft der ununterbrochene Zustrom von neuen Arbeitskräften den Konkurrenzdruck und senkt den Preis der Arbeitskraft unter den Wert der zu ihrer Reproduktion notwendigen Waren.
Überschwemmung mit Billigprodukten
Gleichzeitig versucht der Staat, durch Ausweitung der Kontrollen die schlimmsten Zustände von Überausbeutung zurückzudrängen. Generell sind die Löhne in den Weltmarktfabriken höher als in anderen Betrieben. Insbesondere Frauen eröffnet die ökonomische Selbstständigkeit einen veränderten, höheren gesellschaftlichen Status und neue Möglichkeiten, sich patriarchalen Familienverhältnissen zu widersetzen und selbstbestimmter ihr Leben zu entwerfen. Wirklicher gesellschaftlicher Aufstieg bleibt jedoch den hoch ausgebildeten städtischen Frauen vorbehalten. Spezielle Förderprogramme wurden implementiert, um Frauen den Aufstieg in bessere Positionen zu ermöglichen. Generell werden Milliarden in den Ausbau der Bildung investiert. Die politische Führung möchte, dass China nicht nur als verlängerte Werkbank mit arbeitsintensiver Produktion auf den Weltmarkt tritt, sondern auch in der hochtechnologischen Fertigung und im Bereich von Dienstleistungen konkurrenzfähig wird. Der Staat unterdrückt und fördert dabei zugleich.
China selbst wird zum Kapitalexporteur: Erst kürzlich erwarb der chinesische Computerhersteller Lenovo die PC-Sparte von IBM und avancierte damit zur weltweiten Nummer drei hinter Dell und Hewlett-Packard. Die Übernahme des Öl-Giganten Chevron durch ein chinesisches Staatsunternehmen konnte nur durch Drohung des US-Senates, der die nationale Sicherheit gefährdet sah und daher gesetzlich intervenieren wollte, verhindert werden. Chinesische Unternehmen errichten Produktionsstätten in den USA oder Europa, um einen besseren Marktzugang zu erhalten, Importbeschränkungen zu umgehen und den Technologietransfer zu erleichtern. Massiv wird auch in (semi-)peripheren Ländern investiert, z.B. in Südafrika. Die Struktur dieser so genannten Süd-Süd-Kooperationen ändert allerdings wenig an den Mechanismen des Weltmarktes: China exportiert Fertigprodukte und importiert Rohstoffe aus Südafrika und realisiert dabei Handelsbilanzüberschüsse. Auf diese Weise werden Zentrum-Peripherie-Verhältnisse mit hierarchischen Abhängigkeiten reproduziert. Die Positionen innerhalb dieser Struktur sind global allerdings dynamischer als es sich die Dependenztheorie, die von einem stabilen Verhältnis von reichen Zentren und abhängigen Peripherien ausging, vorstellen mochte.
Gewalttätige Arbeitskämpfe, wilde Streiks
Das Wachstum explodiert so rasch, dass die chinesische Führung immer wieder die Konjunktur zu dämpfen versucht. Es fehlt z.B. an Energie - in Shanghai und anderen Boomtowns kommt es regelmäßig zu Stromausfällen, was die Aufrechterhaltung der allgemein üblichen 6- bis 7-Tage-Woche unmöglich macht. Der Verbrauch natürlicher Ressourcen nimmt ein Ausmaß an, das auch die KP für ökonomisch nachteilig hält. Und diese Probleme potenzieren sich mit dem Erfolg. China ist auf immer größere Zuflüsse transnationalen Kapitals angewiesen, um weitere Investitionen zu finanzieren, womit der Einfluss transnationaler Kapitalinteressen und der Druck zur Öffnung der Märkte steigt. Bis Ende 2006 müssen etwa alle Zugangsbeschränkungen für die Aktivitäten ausländischer Banken fallen. Bei den meisten chinesischen Banken werden in der nächsten Zeit ausländische Investoren einsteigen. So will sich der Allianz-Konzern an der "Industrial and Commercial Bank of China" beteiligen, mit einer Bilanzsumme von 500 Mrd. Dollar das viertgrößte Institut des Landes (zum Vergleich: die Deutsche Bank verzeichnet eine Bilanzsumme von 840 Mrd. Dollar). Der Druck zur Aufwertung des Yuan hat bereits zur (maßvollen) Lockerung der Bindung an den Dollar geführt. Dadurch beginnt sich einer der entscheidenden Konkurrenzvorteile Chinas, die Unterbewertung der eigenen Währung, langsam zu verringern.
Mit der Vollmitgliedschaft Chinas in der WTO stehen weitere Veränderungen bevor, etwa die schrittweise Öffnung der Landwirtschaft. In der Produktivität unterentwickelt wird letztere voraussichtlich durch billige Importe landwirtschaftlicher Produkte (wie Getreide aus den USA) verdrängt werden. Bereits heute übt die Landflucht auf die explodierenden Industriestädte an der Küste einen enormen Druck aus. Dieser dürfte durch weitere (schätzungsweise 200) Millionen BinnenmigrantInnen noch verstärkt werden. Die damit verbundenen sozialen Spannungen sind schwer zu kontrollieren: Die räumlichen Entwicklungsunterschiede zwischen Shanghai und den Provinzen im Landesinneren sind größer als zwischen Paris und Albanien. Auch die Polarisierung in den Städten liefert Stoff für Konflikte. Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Straßenauseinandersetzungen aufgrund eklatanter Vorteilsnahme, Korruption etc. Gemeldet wurden für das Jahr 2004 insgesamt 78.000 Protestaktionen. Auch in den Betrieben zeichnet sich eine Zuspitzung von Konflikten ab: Die chinesischen Behörden zählten im selben Jahr über 58.000 zum Teil gewalttätige Arbeitskämpfe und wilde Streiks. Massenarbeitslosigkeit (über 250 Mio. Menschen) und aufkommendes Klassenbewusstsein einerseits, wachsende Machtansprüche der inneren (nicht mehr primär national orientierten) Bourgeoisie anderseits stellen die politische Führung vor neue Herausforderungen.
Trotz des Überangebots an Arbeitskräften insgesamt mangelt es etwa in der Süd-Provinz Guangzhou ca. an einer Million billiger und "gefügiger" Arbeiter. Wer arm, aber jung und gut ausgebildet ist, meidet die Hyperausbeutung in den Sweatshops und sucht sein Glück in anderen Regionen. Arbeitskräfte vom Land sind wiederum nicht qualifiziert genug und es mangelt ihnen an der "nötigen Disziplin". Qualität und Produktivität sind gefragt, um auf dem Weltmarkt zu bestehen, denn schon stehen billigere Anbieter wie Vietnam in den Startlöchern und locken Unternehmen, ihre Standorte aus China dorthin zu verlagern.
Seitdem Industrielle in den Reihen der KP willkommen sind und die Bourgeoisie ihren neuen Reichtum protzig zur Schau stellt (nirgends werden etwa so viele Mercedes 600 verkauft, wie in China), regt sich im linken Flügel der Partei der Ruf nach Arbeiterrechten, schon um die Arbeiterklasse und das Aufkommen unabhängiger Gewerkschaften in Schach zu halten. Offizielle Medien rufen die 210 Millionen WanderarbeiterInnen dazu auf, den Gewerkschaften der Partei beizutreten, die z.B. für die pünktliche Auszahlung der Löhne sorgen. Nur folgen Arbeiter und Arbeiterinnen den Aufrufen nicht, sondern fordern nicht nur pünktliche, sondern vor allem auch höhere Löhne und erträglichere Arbeitsbedingungen. Der Klassenkampf kommt langsam in Fahrt. Die KP-Führung reagiert mit der Einrichtung einer mehrere tausend Mann starken Spezialeinheit gegen Sozialproteste. Aber auch erste (symbolische) Beschlüsse zur Reduzierung der sozialen Ungleichheiten wurden gefasst.
Billig, gefügig, diszipliniert - oder rebellisch?
Die Bearbeitung der sozialen Frage wird zum Prüfstein für das chinesische Erfolgsmodell - eine Wiederauflage des fordistischen Modells wachsenden Massenwohlstandes ist angesichts der veränderten Weltmarktstrukturen und dem Druck zur Öffnung dabei kaum zu erwarten. Solange die Integration gelingt, ist China keine Gefahr für die neoliberale Globalisierung, vielmehr wichtiger Motor. Bricht das Land auseinander oder verliert die KP das staatliche Herrschaftsmonopol, wird entscheidend sein, inwieweit dieser Prozess ein gewaltsamer sein wird (der dann auch rasch zu einem internationalen Konflikt werden kann).
Im Gegensatz zur Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung verfolgen die neuen Modelle peripherer Entwicklung eine exportorientierte Industrialisierungsstrategie. Dieser Exportismus ist abhängig vom ständig prekären Gleichgewicht von Kapitalzuflüssen aus den Zentren sowie von deren Marktkapazitäten zur Aufnahme der Exporte aus den Peripherien. Das Ergebnis ist eine Transformation ehedem geschlossener nationaler Entwicklungsmodelle in offene, in transnationale Produktions- und Finanznetze eingebundene Ökonomien und die Zurückdrängung des Staates durch umfassende Privatisierungen, durch Verschlankung und Neuordnung der öffentlichen Verwaltung - weg von der staatlichen Kontrolle von Investitionen und Kreditvergabe hin zur freien Marktsteuerung. Auch China und Malaysia sind davon nicht ausgenommen, konnten aber bislang die vollständige Öffnung vermeiden. Der "periphere Neoliberalismus" kombiniert eine starke Exportorientierung mit vergleichsweise billigen, aber qualifizierten Arbeitskräften, mit stärker marktorientierten Formen der Staatsintervention, dem Aufbau eines minimalen sozialen Sicherheitsnetzes mit starker Workfare-Orientierung, also einer autoritären Bindung sozialer Rechte an "Pflichten"; mit Regionalisierung und Clusterbildung, also einer regionalen Konzentration und Vernetzung von Wertschöpfungsketten innerhalb transnationaler Produktionsstrukturen. Das neu geordnete Verhältnis von Politik und Ökonomie unter neoliberaler Ägide wird in vielen Fällen gekrönt durch die Etablierung formaler Demokratien - auch in China; hier beschränkt sich die Demokratisierung allerdings auf die unteren Ebenen der Verwaltung. Die starke Polarisierung der Lebens- und Einkommensverhältnisse, von Hyperausbeutung und akkumulierten Reichtum führen dabei gleichzeitig zu einer Verschärfung gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse und staatlicher Repression.
Mario Candeias