Jakobiner aus Shanghai
Nachruf auf die "Viererbande"
Die berüchtigte "Viererbande", die ab 1966 zehn Jahre lang die Innenpolitik der Volksrepublik China maßgeblich beeinflusste und im Oktober 1976 den Machtkampf nach dem Tode Mao Zedongs verlor, gehört zu den eigentümlichsten Erscheinungen der Revolutionsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihr letztes Mitglied, Yao Wenyuan, starb am 23. Dezember 2005 im Alter von 74 Jahren.
Die Bezeichnung "Viererbande" für die in Shanghai beheimatete radikale Gruppe aus Maos Frau Jiang Qing, den Theoretikern und Literaturkritikern Zhang Chunqiao und Yao Wenyuan und dem Arbeiteraktivisten Wang Hongwen soll von Mao selbst stammen: In einem Brief ermahnte er Jiang Qing, keine fraktionelle Clique zu bilden.
Trotz seiner Kritik an ihrer sektiererischen und polarisierenden Praxis repräsentierte die "Viererbande" zweifellos die Parteiströmung, die Mao inhaltlich am nächsten stand. Ihr Aufstieg begann 1966 mit der "Großen Proletarischen Kulturrevolution": Mao, nach dem katastrophalen Scheitern des "Großen Sprungs nach vorn" seit 1959 vom Parteiapparat aufs Abstellgleis befördert, fand in Shanghai die BundesgenossInnen, die seine Revanche gegen die in erster Linie auf technokratische Konsolidierung der Wirtschaft bedachten "Machthaber auf dem kapitalistischen Weg" unterstützten.
Den Startschuss zur Kulturrevolution gab Yao Wenyuan, der schon in den 1950er Jahren mit heftigen Ausfällen gegen missliebige SchriftstellerInnen hervorgetreten war, 1965 mit einem Verriss des Dramas "Hai Rui wird aus dem Amt entlassen" von Wu Han. Der historische Inhalt des Stücks über einen wegen Kritik am Kaiser in Ungnade gefallenen Mandarin spielte auf die Absetzung des Verteidigungsministers Peng Dehuai an, der auf der ZK-Konferenz in Lushan 1959 zum Generalangriff auf Mao ausgeholt hatte.
Als Yao Wenyuan 1975 seinen Traktat "Über die soziale Basis der Anti-Partei-Clique von Lin Biao" verfasste, scheint er nicht geahnt zu haben, dass dieselbe Sorte von Argumenten, die er gegen seinen einstigen Verbündeten Lin Biao richtete, anderthalb Jahre später der "Viererbande" selbst den Todesstoß versetzen sollte. Lin, seit dem Sturz Peng Dehuais Verteidigungsminister, Erfinder der "Mao-Bibel" und 1969 zum Nachfolger Maos ernannt, soll 1971 nach einem angeblichen Putschversuch auf der Flucht in Richtung Sowjetunion ums Leben gekommen sein. Über die wirklichen Gründe für seine Ausschaltung kann nur spekuliert werden: Lin Biao war ein Linker, der wahrscheinlich gegen die Bemühungen des pragmatischen Ministerpräsidenten Zhou Enlai um eine neue Machtbalance aus den kulturrevolutionären Radikalen und rehabilitierten Technokraten opponierte. Der von der "Viererbande" kontrollierte Propagandaapparat verbreitete aber die Schutzbehauptung, Lin sei in Wirklichkeit ein verkappter Rechter gewesen, der sich auf diverse reaktionäre Elemente gestützt habe.
Ständige Kritik an "Rechtsabweichungen"
Maos zentristischer Nachfolger Hua Guofeng, selbst ein Aufsteiger der Kulturrevolution, der noch im Frühjahr 1976 nach dem Tode Zhou Enlais als neuer Regierungschef zusammen mit den Radikalen wieder einmal Deng Xiaoping gestürzt hatte, zog es vor, eine Koalition aus gemäßigten Kulturrevolutions-Linken, der Ministerialbürokratie und den ebenfalls eher auf Ruhe und Ordnung bedachten Militärveteranen zu bilden, statt die Macht mit der unpopulären und exzentrischen "Kaiserinwitwe" zu teilen. Dafür musste er bald Deng wieder ins Boot holen, womit er seinen eigenen politischen Totengräber bestellte. Hua versuchte, sich selbst als den wahren Linken und treuesten Gefolgsmann Maos darzustellen, wohingegen die "Viererbande" eine Clique "links" getarnter Ultrarechter gewesen sei, die alle möglichen "Asozialen", "Schlägertypen" und "Unruhestifter" mobilisiert hätten, um den sozialistischen Aufbau zu sabotieren.
Nach der Verhaftung der "Viererbande" gab es in ihren vormaligen Hochburgen punktuell Widerstand. Ihre Gefolgsleute in der Partei hatten dort Parallelstrukturen mit eigenen Machtorganen aufgebaut. Die neue Führung antwortete mit einer blutigen Säuberungswelle. Aber die große Mehrheit der Bevölkerung war erleichtert und froh über das Ende des linken Spuks. Zu strapaziös waren die ständigen Kampagnen, zu zermürbend die Angst vor Denunziationen, zu freudlos der von der "Viererbande" gepredigte puritanisch-revolutionäre Lebensstil. Gleichsam als Chinas Jakobiner hatten die Shanghaier Linken das praktiziert, was Hegel mit Blick auf die Französische Revolution als Terror der Tugend beschrieben hatte. Den meisten Kadern des Verwaltungsapparats waren die "Vier" verhasst, weil sie ständig für Unruhe sorgten: Bei jeder Routineversammlung zettelten ihre AnhängerInnen Diskussionen zur Kritik an irgendwelchen "Rechtsabweichungen" an. Und immer, wenn die "Viererbande" eine Wandzeitungskampagne startete, tauchten (als wohl eher unbeabsichtigter Nebeneffekt) an den Plakatwänden auch spontane, unabhängige Meinungsäußerungen auf.
Die "Viererbande" hatte SympathisantInnen in besonders benachteiligten und unterprivilegierten Bevölkerungsteilen und an den Universitäten, deren Studierende ihren Zugang zur Hochschule der linken Bildungspolitik zu verdanken hatten. Auch in einigen Industriezentren wie dem Stahlwerk Anshan war sie mobilisierungsfähig. Den theoretischen Kern ihrer Politik hat Zhang Chunqiao 1975 in seinem Aufsatz "Über die Ausübung der allseitigen Diktatur über die Bourgeoisie" zusammengefasst: Weil in der Anfangsphase der sozialistischen Gesellschaft, wie Marx ausgeführt hatte, zunächst noch Arbeitsteilungen mit leistungsbezogenen Einkommensdifferenzierungen unvermeidlich sind, bestehen in ihr bürgerliche Verhältnisse fort, aus denen eine neue Bourgeoisie hervorgehen wird, wenn nicht der Klassenkampf weitergeführt wird.
Puritanisch-revolutionärer Lebensstil
Hier wird ein Unterschied des Maoismus zum klassischen Stalinismus deutlich: Stalin meinte, dass nach der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln keine antagonistischen Interessengegensätze mehr bestehen. Ihm zufolge drohte der sozialistischen Gesellschaft Gefahr durch die imperialistische Umzingelung und die Infiltration mit Geheimagenten und Saboteuren, die von den Fachkräften der Geheimpolizei ausfindig gemacht und beseitigt werden müssten. Dagegen gingen die MaoistInnen davon aus, dass innere strukturelle Widersprüche in den sozialistischen Produktionsverhältnissen, das Fortbestehen von Lohnarbeit und hierarchischen Arbeitsteilungen, eine Tendenz zur Restauration hervorrufen. Das sollte verhindert werden durch permanente politische Mobilisierung, Revolutionierung des Überbaus, Einschränkung der Lohndifferenzierungen und einen Abbau der Arbeitsteilung. ArbeiterInnen saßen in den Betriebsleitungen, während Leitungskader regelmäßig an der Werkbank und auf dem Reisfeld mitarbeiten mussten.
Die in China tief verwurzelte konfuzianische Ethik wurde als reaktionäre Ideologie feudaler Knechtschaft attackiert. Und als oberste Kunstsachverständige sorgte die ehemalige Schauspielerin Jiang Qing dafür, dass nur noch unter ihrer Aufsicht geschaffene Revolutionsopern und -filme aufgeführt wurden. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass es für die große Masse der Landbevölkerung schon ein Fortschritt war, wenn überhaupt im Dorf ab und zu ein Film gezeigt wurde.
Später wurde der "Viererbande" vor allem vorgeworfen, sie habe Wissenschaft und Bildung ruiniert. Tatsächlich hatte sie durchgesetzt, dass die raren Studienplätze nicht gemäß Schulnoten und Aufnahmeprüfungen vergeben wurden, sondern Arbeiter- und Bauernkollektive nach Kriterien wie politisches Bewusstsein, soziale Kompetenz und Engagement bei der Arbeit bestimmten, wer an die Universität geschickt wurde. Vor der Kulturrevolution hatte das System rigider leistungsbezogener Selektion eine Begünstigung der ohnehin privilegierten städtischen Mittelschichten bewirkt. Die politisch korrekte, sozial gerechte Alternative der "Viererbande" war erkauft mit der Absenkung des Niveaus der Universitäten auf das von Mittelschulen.
Der Clou der Positionen der "Viererbande" bestand darin, dass sie ausgerechnet diejenigen, die ganz im Sinne der marxistisch-leninistischen Orthodoxie vom Primat der Entwicklung der Produktivkräfte ausgingen, des "Revisionismus" bezichtigte. Denn die Annahme einer Neutralität der Produktivkraftentwicklung förderte die Entstehung technokratischer Funktionseliten, in denen die MaoistInnen die neue Ausbeuterklasse heranwachsen sahen. Immer wieder beschwor die "Viererbande" die Schöpferkraft der Massen, ihre Fähigkeit, ohne "bürgerliche Autoritäten" und bürokratische Aufseher Probleme selbst zu lösen. Und sie trieb den Primat der Politik bis ins Extrem: "Lieber die Produktion stillstehen lassen, als unter der falschen Linie zu produzieren."
Wenn Deng Xiaoping im Interesse höherer Effizienz mehr Vorschriften und Kontrollen in den Betrieben forderte, konterte Yao Wenyuan: "Sollen wir das kapitalistische System einführen, in dem sogar die Zeit gemessen wird, die ein Arbeiter auf der Toilette verbringt?" Das war das ganze Gegenteil von Lenins Begeisterung für den Taylorismus. Der "Revisionist" Deng stand Lenin, der unter Sozialismus die Anwendung des Staatskapitalismus zum Nutzen der Arbeiterklasse verstand, viel näher.
Der Antikapitalismus der "Viererbande" richtete sich nicht bloß gegen ungleiche Eigentums- und Verteilungsverhältnisse, sondern gegen den Rationalitätstypus der bürgerlichen Moderne. Inmitten ihrer "marxistisch-leninistischen" Phraseologie berührte die Shanghaier Schule des Maoismus Fragen, die im Westen Denkströmungen wie der Poststrukturalismus aufwarfen. Der maoistische "Primat der Politik" sollte China vor dem Abdriften in den Sog der Selbstzweckmaschine kapitalistischer Akkumulation bewahren. Es war das letzte Aufbäumen gegen den Vormarsch der technokratischen Rationalität einer modernen Industrie- und Wirtschaftsgesellschaft. Hellsicht und Blindheit waren im Denken und Handeln der "Viererbande" so unlöslich verflochten wie Antiautoritarismus und brutale Repression. In ihren puritanischen Zügen ähnelte die Kulturrevolution den frühen bürgerlichen Emanzipationsbewegungen Europas im Zeitalter der Reformation.
Antiautoritarismus
und brutale Repression
Als Deng Xiaoping 1978 die geistige Führung übernahm, kam es zur "Befreiung des Denkens". Die in der Kulturrevolution verfolgten Intellektuellen wurden rehabilitiert. "Die Wahrheit in den Tatsachen suchen", lautete jetzt die aus Maos Aufsatz "Über die Praxis" entlehnte Devise - Lin Biao und die "Viererbande" betrachteten als Kriterium der Wahrheit eines Gedankens seine Übereinstimmung mit Mao-Zitaten. Zusammen mit dem Dogmatismus wurden aber auch die aus der Kulturrevolution stammenden demokratischen Partizipationsrechte in den Betrieben beseitigt. Es sollte keine Zeit mehr für Diskussionen vergeudet werden. Produktivität hatte wieder Vorrang. China wurde weltmarktfähig.
Am 25. Januar 1981 wurden Jiang Qing, die vor Gericht in bestem Bühnenchinesisch die "Konterrevolution" anprangerte, und Zhang Chunqiao, der sich in Schweigen hüllte, zum Tode verurteilt; die Strafe wurde dann zu lebenslanger Haft reduziert. Wang Hongwen, der Jüngste im Bunde, bekam lebenslänglich, der reumütige Yao Wenyuan 20 Jahre Gefängnis. Die Anklage folgte noch dem Konstrukt von Hua Guofeng, wonach "Lin Biao und die Viererbande" konterrevolutionärer Umtriebe gegen den Vorsitzenden Mao beschuldigt wurden - was sich nicht zuletzt dank Jiang Qings couragierter Gegenangriffe als absurd erwies. Nach der Prozessfarce trat Hua Guofeng zurück. Das Zentralkomitee machte in einer Resolution erstmals Mao persönlich für "linke Fehler" verantwortlich und verurteilte die Kulturrevolution.
Maos Witwe beging 1991 Selbstmord, Wang Hongwen starb 1992 an Krebs. Zhang Chunqiao wurde 1998 freigelassen und starb im April 2005. Yao Wenyuan lebte seit 1996 zurückgezogen in Shanghai und beschäftigte sich mit historischen Fragen.
Henning Böke
Anmerkung:
1) Der Journalist Gerd Ruge hat in seinem Buch "Begegnung mit China" (Düsseldorf/Wien 1978) diese Auseinandersetzungen dankenswert fair und sachlich dokumentiert.