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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 503 / 17.2.2006

Das Widerständige zwischen Lech und Salzach

"Bayerische Enziane" erinnert an linksradikale Biografien in Bayern

Betrunkene Politiker auf Bierfesten, die sich mit Bordellbesuchen brüsten, öffentliche Ehrungen für "Gebirgsjäger" oder "Edelweiß" genannte NS-Mordbrigaden, überdrehte Technokraten, die eine eiskalte Politik des technisch Machbaren mit reaktionärer Stammtischgemütlichkeit nach dem Motto "Laptop und Lederhosen" vereinen - es scheint, man kennt Bayern zur Genüge. Um nicht zu sagen, man hat dieses Land aus Bonzen und Bauern satt. Und doch gab es sie, die Räterepublik 1919, die Schwabinger Kunst- und Politikboheme.

Ein kürzlich erschienenes Buch will aus sehr persönlicher Sicht das Widerständige des Landes zwischen Lech und Salzach vor dem Vergessen bewahren und "zu neuem Leben erwecken". Der Titel des Buches "Bayerische Enziane - Ein Heimatbuch" des Münchener Malers, Autors und Übersetzers Egon Günther bezieht sich auf ein Gedicht, das der englische Schriftsteller D. H. Lawrence 1929, vom Tode gezeichnet, am Tegernsee verfasst hat. Die Enziane, die "schwarzblauen Blumenfackeln", sind in diesem Gedicht ein Symbol für das Vergängliche inmitten einer vor Leben strotzenden, betriebsamen, rücksichtslosen Welt. Günther beschreibt in seinem Buch vor allem die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Münchner Räterepublik des Frühjahrs 1919 und die nationalsozialistische Diktatur, eine vergangene Zeit, die größtenteils nur noch in Geschichtsbüchern präsent ist.

Im Land der Bonzen und Bauern

Der 52-jährige Autor beklagt im Vorwort, dass es zwar für die "Maler, Dichter, Denker und anderen Lebenskünstler", die in Oberbayern wirkten, genügend Bücher mit "literarischen Spaziergängen" gebe. Es gebe jedoch keinen Leitfaden für solche, die "dem Leben und Leiden von mehr oder weniger ungewöhnlichen Menschen nachgehen möchten, die ebenfalls gegen den beharrlichen alltäglichen Widerstand und oft tiefen Hass ihres Umfeldes humane und soziale Utopien vertraten".

Und so besteht "Bayerische Enziane" vor allem aus biografischen Skizzen. Die abenteuerliche Flucht des sozialdemokratischen Funktionärs und einzigen späteren SPD-Ministerpräsidenten Bayerns, Wilhelm Hoegner, im Sommer 1933 über die Alpen nach Tirol wird beispielsweise beschrieben. Das linksradikale Bremer Paar Johann Knief und Lotte Kornfeld fand 1917 Zuflucht beim Bildhauer Ludwig Engler in München, wurde dort 1918 verhaftet und nach Berlin ins Gefängnis überstellt. Detailliert beschreibt Günther das Leben der 1872 geborenen linken Aktivistin Gabriele Kaetzler und ihrer Familie, die 1908 nach Riederau am Ammersee zog, jedoch nach der Verhaftung durch konterrevolutionäre Weißgardisten 1919 nach Berlin umsiedelte.

Das Beispiel der Familie Kaetzler macht deutlich, dass das Konzept eines bayerischen "Heimatbuches" seine Schwierigkeit birgt. Gerade in den unruhigen Zeiten der missglückten deutschen Revolution und während der nationalsozialistischen Herrschaft zogen radikal politisch tätige Menschen häufig um, wurden eingesperrt oder verschleppt, flohen in andere Teile Deutschlands oder ins Ausland. Viele der Biografien, die der Autor in seinem Buch skizziert, haben Bayern eher kurz und zufällig berührt, als dass sie besonders typisch für Bayern wären. So erzählt Günther ausführlich das Leben des anglo-irischen Revolutionärs für die Sache der irischen Republik, Sir Roger Casement, der 1915-1916 in Bayern lebte und von dort zu seiner letzten tragischen Reise nach Irland aufbrach. Diese Geschichte verdient in der Tat, dem Vergessen entrissen zu werden. Casement blieb jedoch nur in Bayern, weil er dort von einem Ferien machenden, wohlhabenden amerikanischen Iren versorgt wurde.

Biografische Skizzen aus der Münchener Räterepublik

Die Vorstellung, dass Bayern ein reaktionär-bäurisches Land ohne Hoffnung auf Besserung ist, wird durch die erzählten Lebenswege eher verstärkt als entkräftet. Dass solche lebensfrohen Projekte wie die Kommune I im Verlauf einer wochenlangen Tagung 1966 am Kochelsee gegründet wurde oder dass das erste Konzil der "Subversiven Aktion" im April 1964 in Bad Wiessee am Tegernsee stattgefunden hat, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass vor allem die Großstädte Berlin, Frankfurt und Hamburg die Bühne für die Revolte der 1960er Jahre abgaben. Vor allem seit Beginn des so genannten Kalten Krieges wurde Bayern gezielt zur Ordnungszelle der Bundesrepublik Deutschland ausgebaut. Die meisten Berliner Konzerne, beispielsweise der Elektronikkonzern Siemens, siedelten sich in Bayern wegen des für sie vorteilhaften reaktionären politischen Umfelds an. Ein ähnliches Phänomen beschreibt Günther für den Untergang der Räterepublik 1919. Nach der Flucht der meisten Maler, Schriftsteller und Dichter begann "der Abstieg Münchens als kulturelles Zentrum". Die Stadt geriet zur Hauptstadt der NS-Bewegung. Und Wilhelm Hoegner war zwar zwei Mal SPD-Ministerpräsident, das erste Mal wurde er jedoch von der US-Armee eingesetzt, das zweite Mal zerbrach sein mit rechten Parteien gebildetes Kabinett nach nur drei Jahren an dem Rechtsruck der Bundestagswahl 1957.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet stellt "Bayerische Enziane" zugleich einen mutigen, erfrischenden Versuch und ein teilweises Scheitern dar. Ein Erinnerungs- und Gedenkbuch im Sinne der "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss zu schreiben, ist dem Autor größtenteils geglückt. Man erfährt von mutigen WiderstandskämpferInnen in Bayern und dem dramatischen Experiment der Räterepublik aus der Sicht Beteiligter. Es macht Mut zu sehen, dass Menschen allen Widrigkeiten zum Trotz ihre politische Überzeugung lebten und dabei noch Spaß am Leben hatten. Günther hat mit seinem Buch jedoch eher die persönlichen Lebenserinnerungen eines mit "humanen und sozialen Utopien" sympathisierenden, gleichzeitig mit seiner Heimat Bayern eng verbundenen Menschen geschrieben. Der Spagat zwischen sehr persönlichen Erinnerungen und einer historisch-geographischen Darstellung führt beim Lesen manchmal zu Orientierungslosigkeit. Die politisch-utopische Gedankenwelt Günthers und die vielfach miese politische Geschichte und Realität Bayerns finden erst im Kopf des Lesers wieder zusammen: in der Erinnerung an mutige Menschen und in der Hoffnung auf bessere Zeiten. Der Gegenstand des Buches, das Land Bayern, verschwindet dabei relativ schnell. "Ein Erinnerungsbuch" wäre der passendere Untertitel gewesen.

Carl Mosel

Egon Günther: Bayerische Enziane - Ein Heimatbuch. Hamburg (Edition Nautilus), 2005. 255 Seiten, 19,90 Euro