Die Taktik der "verbrannten Erde"
Die Folgen der deutschen Kolonialherrschaft in Ostafrika
Deutschland ist ein Land, in dem die Kolonialgeschichte keineswegs beendet ist. Sie harrt vielmehr ihrer öffentlichen Bewusstmachung. Und das nicht nur, was die konkreten früheren Ereignisse betrifft. Ebenso wichtig ist es, die einschneidende mentale Prägung der Menschen, die tief greifende Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins zu erkennen, die sich in den kolonisierenden Staaten selbst ergeben hat und die heute zwar modifiziert, aber keineswegs weniger wirksam ist als vor 100 Jahren.
Im Jahr 2004 bot sich eine Gelegenheit zur öffentlichen Auseinandersetzung über die deutsche Kolonialgeschichte und ihre bis heute überaus virulenten Folgen. Anlässlich des 100 Jahre zurückliegenden Völkermords deutscher Truppen an Herero und Nama in "Deutsch-Südwestafrika" (Namibia) - des ersten Völkermords im 20. Jahrhundert - hörten und lasen wir in Presse und Fernsehen des öfteren über die zurückliegenden Ereignisse und auch über heutige Reparationsforderungen der Herero. Kurz darauf scheint alles wieder vergessen nach dem Motto: "Wir haben doch darüber gesprochen". Dabei böte sich bereits ein Jahr später - gezählt an makabren "Jubiläumsjahren" - ein weiterer Anlass: der Maji-Maji-Krieg in "Deutsch-Ostafrika", der erste völkerübergreifende antikoloniale afrikanische Befreiungskampf.
Der Maji-Maji-Krieg währte von 1905-1907, doch um ihn zu verstehen, müssen wir noch 20 weitere Jahre zurückblicken. Dort gelangen wir zu einer der verwegensten Gestalten der deutschen Kolonialgeschichte: Carl Peters, einem Pfarrerssohn aus Neuhaus an der Elbe. Besessen von dem Gedanken, Kolonien für das Deutsche Reich zu erwerben, begab er sich mit drei Gesinnungskumpanen nach Ostafrika. Er schloss "Verträge" mit AfrikanerInnen ab, deren Zustandekommen nach seinen eigenen Worten so aussah: "Zogen wir in einen Kral ein, so begaben Jühlke und ich uns zu Seiner Hoheit ... In Mbusine bei Mbuela knüpften wir sofort ein recht kordiales Verhältnis an, indem wir den Sultan zwischen uns auf ein Lager nahmen, von beiden Seiten unsere Arme um ihn schlagend. ... Alsdann begannen dann auch die diplomatischen Verhandlungen, und auf Grund derselben wurde der Kontrakt abgeschlossen. War dies geschehen, so wurden die Fahnen ... gehisst, der Vertrag im deutschen Text von Dr. Jühlke verlesen, ich hielt eine kurze Ansprache ... die mit einem Hoch auf Se. Majestät den Deutschen Kaiser endete, und drei Salven ... demonstrierten den Schwarzen ... , was sie im Fall einer Kontraktbrüchigkeit zu erwarten hätten. Man wird sich leicht vorstellen können, welchen Eindruck der ganze Vorgang auf die Neger zu machen pflegte."
Die Nichtthematisierung des deutschen Kolonialismus
Carl Peters schloss 1884 auf diese Weise in kürzester Zeit ein Dutzend "Schutzverträge" ab. Sein Name ist mit der Eroberung Ostafrikas durch das Deutsche Reich untrennbar verbunden. Als Gründer der "Gesellschaft für deutsche Kolonisation" sah er nach eigenem Bekunden "die rücksichtlose und entschlossene Bereicherung des eigenen Volkes auf anderer, schwächerer Völker Unkosten" als sein Ziel und sein Motiv darin, "dass ich es satt hatte, unter die Parias gerechnet zu werden und dass ich einem Herrenvolk anzugehören wünschte." Aus eigener Initiative drang er in die Küstenregion Ostafrikas ein, das Einfallstor zum riesigen Hinterland. Die Herrschenden im Deutschen Reich beäugten ihn zunächst misstrauisch. Sie scheuten den Konflikt mit anderen Kolonialmächten, besonders mit England. So äußerte Herbert von Bismarck, der Sohn des Reichskanzlers: "Peters ist ein ganz übler Bursche, mit einem so fantastischen Tölpel muss es ein schlimmes Ende nehmen."
Doch schon nach kurzer Zeit wendete sich das Blatt. Nach der Berliner Kongo-Konferenz, auf welcher die Kolonialmächte ihre Interessengebiete absteckten, wurde Peters zum "Reichskommissar" für das Kilimandscharo-Gebiet bestellt. Reichskanzler Bismarck, zunächst deutschen Kolonialerwerbungen gegenüber eher skeptisch eingestellt, sah mit Sorge die Schutzzollpolitik der Engländer und Franzosen, die sich auch auf die Kolonialgebiete erstreckte und deutschen Handelsinteressen entgegenstand. Darauf änderte Bismarck seine Meinung; zudem hoffte er auf zusätzliche Stimmen bei den anstehenden Reichtagswahlen.
Das als "Deutsch-Ostafrika" bezeichnete Gebiet - die heutigen Staaten Tansania, Ruanda und Burundi - war fast hermetisch durch riesige Seen und gigantische Gebirgsketten vom Rest des afrikanischen Kontinents abgetrennt. Die Ausdehnung war mit annähernd 1.000.000 qkm fast doppelt so groß wie die des Deutschen Reichs. Blühende Küstenstädte korrespondierten mit kleinen Dörfern im Landesinneren. In ganz Ostafrika zählte man über 130 verschiedene Bevölkerungsgruppen, deren Organisationsformen von streng zentralistischen Königreichen bis zu egalitären herrschaftslosen Gesellschaften reichten.
Carl Peters -
ein "ganz übler Bursche"
Im Inneren dieses Landes begab sich Carl Peters rastlos auf die Suche nach Eroberungen. An den Orten, die er betrat, ließ er zunächst eine Hütte und sodann einen Galgen errichten. Seine Exzesse gegen die Einheimischen und seine Alkoholorgien waren berüchtigt. Schließlich wurde ihm ein Ereignis zum Verhängnis, das ihm neben seinem ersten Spitznamen "Der Mann mit den blutigen Händen" noch einen weiteren einbrachte: "Hänge-Peters". Seine afrikanische Geliebte hatte es gewagt, ein Verhältnis mit seinem Diener einzugehen, worauf Peters kurzerhand beide an den Galgen knüpfen ließ. Dies erregte Aufsehen im Deutschen Reich, es kam zum Prozess und zu seiner Entlassung. Später wurde er rehabilitiert und bezog bis zu seinem Tod 1918 eine vom Kaiser selbst genehmigte Pension. Die Nationalsozialisten erklärten ihn zum Inbegriff deutschen Weltmachtstrebens und Leitbild der deutschen Jugend. Auch in der Bundesrepublik Deutschland wurde er in den 1950er und 1960er Jahren von Politikern und Presse durchaus wohlwollend rezipiert.
Die Peters'schen Erwerbungen in Ostafrika zeigten einen großen Nachteil: die riesigen Aneignungen im Landesinneren durch die "Gesellschaft für Deutsche Kolonisation" - bald umbenannt in "Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft" (DOAG) - benötigte die Kontrolle über die von den Arabern beherrschte Küstenregion, um Handel treiben zu können. Im Sommer 1888 kam es zur Eskalation: dem sogenannten "Araberaufstand". Die DOAG musste das Reich um Beistand bitten. Die Bitte blieb nicht ungehört: Der Reichstag genehmigte ein militärisches Expeditionskorps und zwei Millionen Reichsmark. Bismarck hatte das passende Argument parat: es ginge vor allem um den Kampf gegen den arabischen Sklavenhandel; in einer Aktennotiz seinerseits finden wir die Frage: "Kann man nicht schaurige Details über Menschenquälerei auftreiben?"
Der "Araberaufstand" scheiterte nach gut einem Jahr, obwohl zeitweise fast das gesamte deutsche Pachtgebiet in den Händen der Aufständischen war. Kriegsschiffe mussten geschickt werden, um der Lage wieder Herr zu werden. Doch die Probleme der Deutschen waren nicht geringer geworden. Denn nun erhoben sich die Wahehe unter Führung des legendären Mkwawa, der in Deutschland bald einer der berühmtesten Afrikaner wurde. Die Wahehe brachten den Deutschen zunächst eine verheerende Niederlage bei. Aber in einem sieben Jahre langen Feldzug gelang es den Kolonialisten, die Wahehe zu bezwingen. Die Kriegstaktik der Deutschen unter Führung des bei Kolonialnostalgikern auch heute noch beliebten Hermann Wissmann wirft bereits ein Blitzlicht auf den späteren Maji-Maji-Krieg.
Ausbeutung durch massive Steuern und Zwangsarbeit
Die deutsche Truppe verwüstete eine Ortschaft nach der anderen. Gefangene wurden bald nicht mehr gemacht, Frauen und Kinder als Geiseln genommen, Felder, Saatgut und Hütten verbrannt, das Vieh entführt. Gouverneur Eduard von Liebert schrieb hierzu: "Ich habe in Böhmen und Frankreich den Krieg praktisch kennen gelernt ... aber was ich hier in Uhehe erlebt, stand außerhalb des Rahmens alles bisher Dagewesenen. Es war echt afrikanisch."
Mkwawa, der Führer der Wahehe, sah schließlich keinen Ausweg mehr und erschoss sich selbst. In der Zeit des Wahehe-Krieges fanden 60 weitere sogenannte "Strafexpeditionen" statt. Die deutsche Armee allerdings bestand nur zu einem geringen Teil aus Deutschen - den weitaus größeren Teil bildeten angeworbene afrikanische Krieger, vor allem aus dem Sudan, aus Eritrea und sogar aus Neuguinea. Heute sprechen wir von "Söldnerheeren". Ihr damaliger Name: "Askari".
Nach den Feldzügen gegen die KüstenbewohnerInnen und die Wahehe schien es nun an der Zeit, den AfrikanerInnen die europäische Zivilisation beizubringen. Und das hieß vor allem: den "faulen Negern" die richtige Arbeitsmoral zu vermitteln. Die Einheimischen wurden gezwungen, auf Baumwollfeldern für den Warenexport nach Deutschland zu arbeiten. Dabei bekamen sie nur einen Bruchteil ihrer Arbeitsleistung erstattet, und das zumeist erst ein Jahr nach der Ernte, wenn die Exportprodukte in Deutschland verkauft waren. Als Form passiven Widerstandes verschwanden nicht nur einzelne ArbeiterInnen, sondern manchmal ganze Belegschaften über Nacht. Arbeitsverweigerung beantworteten die Kolonialherren mit dem Niederbrennen kompletter Dörfer und barbarischer Prügelstrafe. In einer Verfügung des Reichskanzlers heißt es: "Die zulässigen Strafen sind: Körperliche Züchtigung (Prügelstrafe, Rutenstrafe), Geldstrafen, Gefängnis mit Zwangsarbeit, Kettenhaft, Todesstrafe." Keine andere Kolonialmacht wandte die Prügelstrafe dermaßen extensiv an wie die deutsche.
Die Kolonialverwaltung verbot traditionelle Jagdaktivitäten und erhöhte den Steuerdruck weiter, etwa mit der Pombe-Steuer, die auf selbstgebrautes Bier zu zahlen war. Die drastischste Maßnahme allerdings bildete die Einführung der Kopfsteuer, eine Erhöhung der bis dahin geltenden Hüttensteuer um das Vierfache. Damit begann das Fass überzulaufen. Die Botschaft existierte bereits, ebenso der Prophet. Sein Name war Kinjikitile.
Kinjikitile wurde eines Tages im Jahre 1904 von einem Geist, einem "Hongo", in Besitz genommen. Er fiel auf den Bauch und kroch von seiner Hütte fort. Weiter heißt es: "Dann verschwand er in einem Teich. Er schlief darin, und seine Angehörigen schliefen am Teich, um über Nacht auf ihn zu warten ... So warteten sie, und am folgenden Morgen ... tauchte er unverletzt und mit trockener Kleidung wieder so auf, wie er mit ihnen noch am vorigen Tag gespeist hatte. Nach seiner Rückkehr begann er, prophetische Reden zu halten."
Der Hongo in Gestalt des Kinjikitile verkündete das Gebot der Einigkeit. Die Zersplitterung der verschiedenen Völker müsse ein Ende haben, nur so könne der gemeinsame Feind geschlagen werden. Er, Kinjikitile, besäße auch eine neue Medizin, die wahre Wunder zu wirken vermöge: das "Maji", ein Kisuaheli-Wort, zu deutsch: "Wasser". Mais und Sorghum müssten in Wasser gekocht, sodann getrunken, in einem Gefäß um den Hals getragen oder einfach über den Kopf gegossen werden. Das Maji schütze vor Schwarzer Magie, vor Dürre, schlechter Ernte und Wildschweinen, die die Felder verwüsteten. Vor allem aber mache das Maji unverwundbar, die Kugeln aus den Geschossen der Gegner würden wie Regentropfen von den Leibern abperlen.
Im Sommer 1904 brachen Massen von Pilgern auf, um das Maji von Kinjikitile zu erhalten. Die Deutschen beobachteten diese Züge von bis zu 300 Personen, ahnten aber nicht die Gefahr, die für sie in diesen Vorbereitungen steckte. Unter HistorikerInnen wird darüber gestritten, ob es auch ohne den Maji-Kult zu einem Volksaufstand gekommen wäre. In jedem Fall war dieser das einigende spirituelle Band, ohne das es wahrscheinlich ein gemeinsames Vorgehen verschiedenster Gruppen nicht gegeben hätte.
Maji-Maji-Krieg gegen deutsche Besatzer
An einem Julimorgen 1905 geschieht Folgendes: Die EinwohnerInnen der Stadt Nandete schuften wie gewöhnlich auf den Baumwollplantagen. Nach einigen Stunden in unerträglicher Hitze liegt plötzlich einer der Aufseher stöhnend am Boden. Zwei der Arbeiter haben ihm den Schlagstock abgenommen und prügeln nun selbst auf ihn ein. Eine Frau und zwei Männer beginnen, die Baumwollstauden aus dem Boden zu reißen. Dann eilen immer mehr BewohnerInnen der Stadt hinzu, bis sämtliche Baumwollpflanzen vernichtet sind. Das kommt einer Kriegserklärung an die Deutschen gleich.
Die Kolonialverwaltung schaut nach dem Rechten; es fallen erste Schüsse, und nun werden auch die Kriegstrommeln geschlagen. Viele glauben, dies sei das verabredete Signal zum Aufstand. Massenhaft wird das Maji-Ritual vollzogen. In der nicht weit entfernten Stadt Kibata werden die Geschäfte indischer und arabischer Händler geplündert, einige von ihnen werden ermordet. Der Sturm auf die Festung allerdings misslingt, die Besatzung kann fliehen. Der deutsche Siedler Hopfer wird das erste weiße Opfer der Aufständischen.
Kinjikitile wird bereits nach wenigen Tagen gefangen genommen und zum Tod durch den Strang verurteilt. Kurz vor seinem Tod sagt er: "Meine Hinrichtung wird euch Deutschen auch nichts mehr nützen, denn meine dawa (Zauber, Medizin, C.K.) hat schon bis nach Kilosa und Mahenge hin ihre Wirkung getan." Diese Worte beunruhigten die Deutschen ungemein: waren doch die erwähnten Städte hunderte Kilometer entfernt vom ursprünglichen Aufstandsgebiet. Damit war klar: Die Deutschen und ihre Hilfstruppen würden es mit einem gemeinsamen Aufstand verschiedenster Völker zu tun bekommen. Nach den schweren Kämpfen in Südwestafrika musste nun auch die Kolonialverwaltung in Ostafrika das Reich um Beistand bitten. Es wurde ein zweites Kriegsschiff geschickt und die "Schutztruppe" um weißes Personal sowie um weitere Askari-Söldner ergänzt.
Die Aufstandsbewegung in Richtung Norden kam zwar zum Stillstand, doch in Richtung Süden und Südwesten nahm sie eine immer stärkere Dynamik an. Hier standen Völker trotz unterschiedlichster innerer Strukturen zusammen. Aber nicht alle nahmen teil. Die Wahehe etwa hatten sich nach ihrem siebenjährigen Krieg gegen die Deutschen nicht mehr regenerieren können. Auch war der Glaube in die Kraft des Maji nicht überall gleichermaßen groß. Dass allerdings Krieger nicht geschützt und von Kugeln getötet wurden, war zunächst kein Grund zum Zweifel. Denn mit der Einnahme des Maji waren verschiedene Vorschriften verbunden, z. B. absolute geschlechtliche Enthaltsamkeit vor dem Kampf, das Verbot von Plünderungen oder die stetige Blickrichtung zum Feind auf dem Schlachtfeld. Hatten die Getöteten diese Vorschriften vielleicht nicht erfüllt?
Doch wirklicher Zweifel an der Zauberkraft des Maji ergab sich im September. Eine deutsche Station, besetzt mit fünf Weißen und 60 Askari, sah sich annähernd 25.000 afrikanischen Kriegern gegenüber, welche die Symbole des Maji trugen: um den Kopf gebundene Hirsestängel und am rechten Arm ein rotes Tuch. Aber nicht die Zahl der Krieger gab den Ausschlag, sondern die moderne Waffentechnik. Es waren zwei Maschinengewehre, die den Kampf entschieden, sogenannte Maxim-Gewehre, entwickelt von Hiram Maxim eigens für den Krieg gegen "Eingeborene". Der Schriftsteller Hillaire Belloc sah das so: "Whatever happens, we have got / The Maxim Gun, and they have not."
Vor den Gewehrmündungen brachen die in Wellen anrennenden afrikanischen Krieger zusammen. Die deutsche Station beklagte 20 Tote, während sich auf der Gegenseite unzählige Leichen stapelten. Den Aufständischen wurde die Notwendigkeit eigenen Waffenbesitzes bewusst. Zudem änderten sie ihre Kriegstaktik: Massenangriffe schienen angesichts der verheerenden Distanzwaffen des Gegners sinnlos. Stattdessen gingen sie nun zu Formen des Guerillakrieges über.
Im Oktober 1905 begann die einheitliche Kampffront der AfrikanerInnen zu bröckeln. Mehr und mehr nahm der Krieg regionale Züge an. Das Heft des Handelns übernahm zunehmend die Kolonialmacht. Doch zugleich erlangte der Aufstand seine größte Ausdehnung, etwa ein Drittel des gesamten ostafrikanischen Kolonialterritoriums. Die Deutschen mussten vor allem eine weitere Verbreitung in Richtung Norden verhindern. Dazu benutzten sie eine Taktik, die Hauptmann von Wangenheim folgendermaßen beschreibt: "Nach meiner Meinung kann nur Hunger und Not die endgültige Unterwerfung herbeiführen; militärische Aktionen werden mehr oder weniger Schläge ins Wasser bleiben. Wenn die jetzt noch vorhandenen Nahrungsmittel verzehrt sind, den Leuten aber durch dauernde Streifzüge die Wohnungen zerstört werden und die Möglichkeit genommen wird, neue Felder zu bestellen, dann erst werden sie endgültig ihren Widerstand aufgeben müssen."
Erbe des Kolonialismus: Armut und Krankheit
Es war die Taktik der "verbrannten Erde", die wir bereits im Krieg gegen die Wahehe kennen gelernt haben. Erreichte die deutsche Truppe einen Ort, wurde dieser nach Plünderung seiner Vorräte zerstört - die Hütten verbrannt, die Felder vernichtet, die Brunnen vergiftet, das Vieh vertrieben. Dann wurde versucht, die EinwohnerInnen auszuhungern und an der Wiederherstellung ihrer Lebensgrundlagen zu hindern. Dabei erhielten die Hilfskrieger der Deutschen weder Bezahlung noch Nahrung. Diese mussten sie sich selbst bei ihren "Feinden" beschaffen. Die entsprechende Verrohung lässt sich leicht ausmalen.
Der erzwungene Hunger übernahm nun die entscheidende Rolle. Der Hunger forderte in vielen Gebieten mehr Tote als die direkten Kriegshandlungen. Die Bevölkerungszahl schrumpfte rapide, die Geburtenrate nahm stark ab. Leichengestank verpestete viele Gegenden, Krankheiten wie die rote Ruhr brachen aus. Tiere wie Wildschweine und Elefanten drangen in die ehemals kultivierten Landstriche ein und vernichteten, was es überhaupt noch zu vernichten gab. Viele Menschen fielen Löwen zum Opfer. Die Tse-Tse-Fliege verbreitete sich und brachte Malaria und Schlafkrankheit. Ein großes Territorium war unbewohnbar geworden.
Die Akten des Reichskolonialamts sprechen von 75.000 umgekommenen AfrikanerInnen. Realistischere Schätzungen gehen von 250.000 bis 300.000 Opfern aus, etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung des Kriegsgebietes. Auf der deutschen Seite fielen 15 Europäer, 73 Askaris und 316 "Hilfskrieger". Der erste völkerübergreifende antikoloniale Befreiungskampf in Afrika war gescheitert. Die politische Elite in den Kriegsgebieten war ausgerottet, gesellschaftliche Strukturen dauerhaft zerstört und die eben erst gewonnene Einheit der betroffenen Völker wieder zerschlagen. Die Deutschen hatten den Charakter des Kampfes erkannt. So schreibt der Missionsinspektor Axenfeld: "Seine wichtigsten politischen Lehren sind die plötzliche solidarische Einigung seit Alters verfeindeter Stämme zum Kampf gegen den Weißen und die fanatische Tapferkeit als feige verschriener Völker, die sich nur aus dem Zaubereiaberglauben erklärt ..."
Im 1. Weltkrieg zerplatzten die Träume vom deutschen Kolonialreich. Der Völkerbund stellte den weitaus größten Teil der ehemals deutschen Kolonie - Tanganjika und Sansibar - unter britische Mandatsherrschaft. Die beiden im äußersten Nordwesten gelegenen kleineren Königreiche Ruanda und Burundi erhielten die BelgierInnen. Dort hatten die Deutschen eine allzu direkte Einflussnahme vermieden. Dafür waren deutsche Forscher und Ethnologen an der Entstehung eines obskuren rassischen Mythos' beteiligt, dessen verheerende Folgen ihren Höhepunkt mehr als hundert Jahre später erreichen sollten. Die Umdeutung sozialer Gegensätze in ethnische Kategorien - hier die "edlen Tutsi", dort die "negroiden Hutu" - ist eine Quelle der Massen- und Völkermorde sowohl in Ruanda wie Burundi.
Zu Beginn der 1960er Jahre erhielten die bisherigen Mandatsgebiete die Unabhängigkeit. Tanganjika vereinigte sich mit Sansibar zu Tansania. Ruanda und Burundi wurden ebenfalls selbstständige Staaten. Der charismatische tansanische Präsident Julius Nyerere bemühte sich um einen eigenständigen sozialistischen Entwicklungsweg, der schließlich am Würgegriff von IWF und Weltbank, dem Fall der Rohstoffpreise und der eigenen Bürokratie scheiterte.
Heute ist Tansania eines der ärmsten Länder der Welt. Die Vielfalt an Bevölkerungsgruppen ist weiterhin die ausgeprägteste auf dem Kontinent, deren Differenzen und Konflikte dagegen relativ unbedeutend - eine Tatsache, die gegenüber der üblichen Darstellung Afrikas nachdenklich machen sollte. Umgeben von Krisenregionen, beherbergt es die größte Zahl an Flüchtlingen innerhalb Afrikas. In einem Strategiepapier der EU-Kommission vom September 2005, das sich ausdrücklich auf Vorschläge des deutschen Innenministeriums beruft, wird die Errichtung von Sammel-Flüchtlingslagern in Tansania projektiert, die mit Geldern aus einem EU-Förderprogramm unterstützt werden sollen. Dort ist geplant, Flüchtlinge vor allem aus dem Gebiet der "Großen Seen" zu konzentrieren und sie in einem "screening" nach ökonomischer Verwertbarkeit zu selektieren: Je nach Arbeitsmarktlage in den EU-Staaten darf dann ein Teil der Flüchtlinge im europäischen Billiglohn-Sektor arbeiten, während der "unverwertbare" Teil in die Herkunftsländer abgeschoben wird.
Deutsche Kriegsschiffe vor der Ostküste Afrikas
Der Süden Tansanias ist bis heute der "soziale Brennpunkt" des Landes. Der Maji-Maji-Krieg und die Politik der "verbrannten Erde" zeigen auch jetzt noch ihre Auswirkungen. Verschiedene "Entwicklungsindikatoren" sprechen eine eindeutige Sprache: die Kindersterblichkeit ist hoch, das Pro-Kopf-Einkommen besonders niedrig, die Lebenserwartung geringer, der Zugang zu sauberem Wasser und Gesundheitswesen mühsam und der Schulbesuch erschwert - vor allem, seitdem auf Verlangen der internationalen Geldgeber seit den 1990er Jahren eine Schulgebühr gefordert wird.
Ebenfalls im Süden des Landes befindet sich der größte Wildpark Afrikas, der zweitgrößte der Welt. Seine Name lautet "Selous Game Reserve", benannt nach dem britischen Großwildjäger Frederick Selous. Dieser Wildpark hat eine Ausdehnung von 50.000 qkm - größer als Dänemark - und ist als UNESCO-Weltnaturerbe anerkannt. Es leben dort ca. eine Million Wildtiere. In der Zeitschrift abenteuer und reisen vom September 2005 finden wir unter der Überschrift "Safari in der ersten Reihe" folgenden Artikel: "Afrikas mit 50.000 Quadratkilometern größtes Wildreservat, das Selous Game Reserve, ist keine Gegend, in der man so einfach zum Frühstück vorbeischneit. Wir sprechen vom Süden Tansanias, an sich ja schon keine besonders überbevölkerte Region, wofür nicht zuletzt auch ziemlich viele Tiere verantwortlich sind. Die auf den ersten Blick hin mickrige Tsetse-Fliege etwa zählt dabei zu den allergefährlichsten. Die von der Tsetse-Fliege übertragene Schlafkrankheit verschonte zwar die Wildtiere, drückte dem Landstrich aber zugleich seinen Stempel auf und sorgte schon immer für eine sehr dünne Besiedelung des afrikanischen Ostens durch Menschen." (Hervorhebungen C.K.).
Laut abenteuer und reisen erklärt sich die geringe Bevölkerungsdichte im Wildreservat vor allem durch Tiere, speziell durch die Tse-Tse-Fliege, und dies sei "schon immer" so gewesen. Diese journalistische "Meisterleistung" bringt den eurozentristischen Blickwinkel genau auf den Punkt.
Tatsächlich liegt der Wildpark exakt im Gebiet des Maji-Maji-Krieges und der "verbrannten Erde". Die "dünne Besiedlung" ist vor allem verursacht durch die Vernichtung eines Großteils der Bevölkerung zwischen 1905 und 1907, der Zerstörung der traditionellen Infrastruktur und Lebensgrundlagen, dem damit verbundenen Vordringen von Wildtieren und somit auch der Tse-Tse-Fliege, für die die Wildtiere einen hervorragenden Nistplatz bildeten. Das UNESCO-Weltnaturerbe - ein Produkt deutscher kolonialer Gewalt! Schon in den 1950er Jahren zeigte sich die eurozentristisch-rassistische Perspektive äußerst publikumswirksam anhand des Oscar-preisgekrönten Films "Die Serengeti darf nicht sterben" von Bernhard Grzimek. Sein Ziel war die Einrichtung weiterer Wildreservate im Norden Tansanias. Dazu forderte Grzimek die Zwangsumsiedlung der dort lebenden Massai.
Und 50 Jahre später? Seit 2002 schwelt im Hamburger Stadtteil Jenfeld ein Konflikt um die Errichtung eines "Tansania-Parks" auf dem Gelände der ehemaligen - nomen est omen - "Lettow-Vorbeck-Kaserne". (Siehe S. 13) Dort soll ein "Schutztruppen-Ehrenmal" und ein "Askari-Relief" zu Ehren der den Deutschen treuen Askari-Söldner stehen nebst Tansanias Pavillon der EXPO 2000. Durch antikoloniale Gruppen, die tansanische Staatsführung und ein größeres internationales Medienecho konnte die Eröffnung bislang verhindert werden.
Die allgemeine Unkenntnis gegenüber deutscher Kolonialvergangenheit und die fehlende Auseinandersetzung darüber mag auch eine Ursache dafür sein, dass heute wieder - wie vor 100 Jahren - Kriegsschiffe an der Ostküste Afrikas kreuzen, ohne hier zu Lande allzu viel öffentliches Aufsehen zu erregen. Rhetorisch fast identische Muster werden bemüht, um die Anwesenheit deutscher Soldaten in aller Welt zu legitimieren: war es früher der "Kampf gegen die Sklaverei", so ist es heute der "Kampf gegen den Terror" und "für die Menschenrechte". In Orwell'schem "Neusprech" wird die "Freiheit Deutschlands" nicht nur am Hindukusch, sondern auch am Horn von Afrika verteidigt, ohne dass dies bislang größere Empörung auslöst.
Claus Kristen
Empfehlenswerte Literatur:
Martin Baer/Olaf Schröter: Eine Kopfjagd. Deutsche in Ostafrika. Berlin 2001
Felicitas Becker/Jigal Beez (Hrsg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905-1907. Berlin 2005
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