Reflexionspotpourri
(Selbst)kritisches zur Anti-G8-Mobilisierung in Gleneagles
Bereits sechs Monate nach dem Stelldichein der laut Selbstauskunft acht mächtigsten Staats- und Regierungschefs im schottischen Gleneagles liegt eine erste Auswertung über die Gegenproteste in Buchform vor. Es scheint fast, als käme das ganze vielfältige Spektrum, das sich zum linksradikalen Netzwerk Dissent!, das gegen den G8-Gipfel 2005 in Gleneagles zusammengefunden hatte, in dem englischsprachigen Band "Shut them down" zu Wort.
Die Textsammlung besteht aus einer Mischung persönlicher Berichte und theoretisch ausgerichteter Artikel, die auf die Vor- und Nachteile der Mobilisierungsform und die Besonderheiten der Ausgangssituation in Gleneagles eingehen. In der Aufarbeitung der eigenen Mobilisierung spielt der Umgang mit der von der britischen Regierung lancierten Kampagne Make Poverty History, die sich als Dilemma wenn nicht als Falle für einen radikalen Protest herausstellte, eine wichtige Rolle.
Überwiegend beschreibend, dabei teilweise sehr detailliert, kommt der analytische Teil allerdings insgesamt etwas kurz. Der Großteil der Texte ist interessant und amüsant, Fotos vermitteln einiges an Atmosphäre und einen Comic gibt's auch dazu - wenn sich auch einige Ereignisse, die lediglich aus verschiedenen Perspektiven geschildert werden, doppeln. Eingestreut ist eine Poesie von John Holloway, die sich mit der Bedeutung der Intensität des widerständigen Moments befasst. Ebenso gibt es eine Auseinandersetzung mit den Anschlägen von London, die am 7. Juli 2005 auch den Protest gegen den G8-Gipfel schockierten. Während der Proteste waren dazu kaum Stellungnahmen aus dem Widerstandscamp zu vernehmen. Dies wird im Buch mit einer eindeutigen Positionierung gegen die Anschläge revidiert.
Die Frage bleibt: Wie bewertet man Erfolg?
Es finden sich echte Perlen unter den Texten. Insbesondere der Ansatz von Rodrigo Nunes ("Nothing is what Democracy looks like"), Anspruch und Wirklichkeit von aktuellen Organisationsansätzen zu besprechen, ist interessant. Nunes Artikel benennt die Inkonsistenzen, Unklarheiten - kurz: die Schwierigkeiten in den Forderungen nach horizontalen und offenen Strukturen. Er geht etwa der Frage nach, wie sich offene und horizontale Strukturen zu nicht-horizontalen und nicht-offenen Strukturen verhalten sollen. Es ist ein kritischer Beitrag zur Organisationsform "Netzwerk", der u.a. auf die Diskussion bezogen wird, ob Dissent! seinen Sinn erfüllt hat und/oder fortgeführt werden sollte. Nunes stellt damit auch die Frage, wie die Aussichten auf Überwindung des Kapitalismus stehen und mit unseren derzeitigen Mitteln realisierbar sind. Das ist nicht nur ansprechend hergeleitet, sondern eine wichtige Ergänzung alter und neuer Debatten in der Linken - in denen der Text einen zukunftsweisenden "Thread" bzw. Diskussionsstrang aufmacht.
Die Frage bleibt: War der Gipfelprotest ein Erfolg oder nicht? Es ist deutlich, dass die Bewertung von vielen mitunter sehr subjektiven Faktoren abhängt. Einige AutorInnen sehen die Mobilisierung generell als politisch unzulänglich an und zählen einiges an Versäumnissen auf. U.a. das Unterschätzen der politischen Umarmungsstrategie der Make-Poverty-History-Kampagne, der die Unfähigkeit vorausging, die Gewerkschaften und linke Parteien in das Bündnis gegen den G8 einzubinden. Wäre dies geschehen, so meint ein Verfasser, wäre es möglich gewesen, größeren Druck auf die staatliche Kampagne auszuüben, ein anderes Medienbild zu transportieren und damit eine kritische Sicht auf die G8 zu vermitteln. Kritisiert wird auch, dass die Protestierenden der Selbstdarstellung der Regierungschefs, Afrika helfen und etwas gegen die Klimakatastrophe tun zu wollen, inhaltlich kaum etwas entgegensetzen konnten. Zu wenig sichtbar, so die Selbstkritik, blieben eigene Inhalte der Gegenmobilisierung. Auch eine Solidarisierung mit migrantischem Protest und Solidarität mit dem Trikont wären rar gewesen. Als weitere Probleme innerhalb des Netzwerks werden benannt: die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher wichtiger Konsensus-Meetings, die Isolation von Einzelpersonen bis hin zur konkreten Nennung technischer Missstände: u.a. das Fehlen eines "SMS-Servers", um Aktionen besser koordinieren zu können.
Selbstgefälliger Ton und Selbstreflexion
Die Themenbreite, die das Buch abdeckt, ist also groß: Anbindung an die lokalen Gegebenheiten, Reaktionen der Bevölkerung, Verhältnis von örtlicher Bevölkerung zum Camp, Verhältnis von lokalen Kämpfen zu Massenaktionen. Auch die Repression und der Umgang mit dem faktischen Ausnahmezustand werden thematisiert. Eine besondere Stellung nehmen die im Kontext der Gipfelproteste errungenen Neuheiten ein: die Armee der Clowns, CIRCA (Clandestine Insurgent Rebel Clown Army), die Kinderbetreuung (the "brat block") und der Activist-Trauma-Support, die breit besprochen werden. Eine feste "Größe" zieht sich durch alle Texte: Es ist die affinity-group, die jeweilige Bezugsgruppe, mit der es erst möglich wurde, Aktionen durchzuführen.
Die geneigte LeserInnenschaft hält mit dem Band beides in den Händen: reine Erfahrungs- und Aktionsberichte mit manchmal etwas selbstgefälligem Tonfall - und gleichzeitig ein Forum für Selbstreflexion, in dem Entwicklungen diskutiert und Fehler überdacht werden. Die Textsammlung erfüllt die Funktion, verschiedenste Erfahrungen des Protests und sozialer Bewegungen zu dokumentieren. Es ist ein inspirierendes Buch, das sich mit seinem Erscheinen der Kritik an Gipfelprotesten, sie seien unreflektiert, deutlich entgegenstellt.
Winnie Medina
David Harvie, Keir Milburn, Ben Trott David Watts (Hrsg.): Shut them down. The G8, Gleneagles and the Movement of Movements. London/New York 2005. Gemeinsam veröffentlicht von Dissent! und Autonomedia. 366 Seiten, 12 EUR inkl. Versand. Zu bestellen unter: www.shutthemdown.org.