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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 504 / 17.3.2006

Hohe Erwartungen an Evo Morales

Eine Reportage aus Bolivien drei Monate nach der Wahl

Bolivien, eines der ärmsten Land Südamerikas, in dem zwei Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, wählte am 18. Dezember 2005 Evo Morales zum Präsidenten. Der erfahrene Gewerkschaftsführer, Aymara-Indigena und Koka-Anbauer, Kandidat des Movimiento al Socialismo (MAS, Bewegung zum Sozialismus) gewann mit einer klaren Mehrheit von 54 Prozent. "Das Wahlergebnis zeigt, dass man den Neoliberalismus besiegen kann", kommentierte der neue Staatschef.

"Natürlich haben wir alle hier Evo gewählt. Wir sind schließlich Bauern", sagt die ältere Frau, die vor dem Bahnhof im ländlichen Uyuni Pommes Frites verkauft. Sie findet es nicht schlimm, dass Evo niemals Krawatten trägt, er sei schließlich "einer von uns", ein ehemaliger Lamahirte und Landarbeiter. Schade nur, dass sie den Händler verpasst habe, der vor kurzem mit Broschüren über das Leben von Evo Morales nach Uyuni gekommen sei. Aber eines Tages werde auch sie so eine Broschüre erwischen, das wisse sie ganz sicher.

Manuel, heute Betreiber einer Pizzeria in Uyuni, kennt Morales noch aus seiner Studentenzeit. Zusammen haben sie vor Jahren in La Paz einen Hungerstreik gemacht hat, um die Zugangsbedingungen zur Universität zu erleichtern. Am besten findet er, dass Boliviens neuer Präsident sein eigenes Gehalt um 58 Prozent gesenkt und auch die Bezüge seiner Minister und Beamten gekürzt habe. Mit den so eingesparten Mitteln will Morales 3.700 Stellen für Lehrer schaffen, war in der bolivianischen Tageszeitung La Prensa zu lesen.

Bleibt zu hoffen, dass einige dieser Planstellen Potósi zugute kommen werden, einem Bergarbeiterstädtchen im armen Osten des Landes, das keineswegs durch modern ausgestattete Schulen, sondern vielmehr durch die allgegenwärtige Kinderarbeit auffällt: Jungen und Mädchen, die vielleicht gerade mal zehn Jahre alt sind, putzen Schuhe, holen mit Flaschenzügen Gepäck von den Dächern der Busse, betteln, verkaufen Süßigkeiten und Kleinkram, oft bis spät in die Nacht.

Im 17. Jahrhundert war Potósi eine der größten Städte der Welt. Doch die überreichlich vorhandenen Bodenschätze nützten nur den spanischen Kolonialherren. Im Lauf von 250 Jahren Ausbeutung durch die Spanier kamen bei der entbehrungsreichen Zwangsarbeit acht Millionen BolivianerInnen um. Die Spanier förderten übrigens auch den Koka-Anbau und -Konsum, um die Produktivität der versklavten indigenen Arbeiter zu steigern.

"Natürlich haben wir alle hier Evo gewählt."

Heute arbeiten etwa zehntausend Bergleute in den Minen des Cerro Rico, des "reichen Berges". Auf dem Markt der Mineros sind vor allem Koka, Zigaretten, hochprozentiger Alkohol und frei verkäufliches Dynamit im Angebot. Die ärmsten Männer Boliviens kommen zum Arbeiten in die Minen von Pótosi, in denen Zinn, Kupfer, aber auch Silber abgebaut werden. In den weniger produktiven Stollen gibt es überhaupt keine Maschinen. Die Arbeiter bearbeiten das Gestein mit Hämmern und zerren die Loren selbst durch die Zickzackgänge, in denen oft knietief Wasser steht. Einige Stollen erreicht man nur kriechend. Unfälle? Touristenführer Eric zuckt mit den Schultern. Einer pro Tag bestimmt, bei 10.000 Minenarbeitern. Vielleicht mehr, wer weiß das schon ... Wenigstens arbeiten hier seit einigen Jahren keine Kinder mehr. "Höchstens ein paar Vierzehn- oder Fünfzehnjährige", versichert Eric.

Theoretisch können die Minenarbeiter mit 65 Jahren in Rente gehen. Nur ist bisher kein Bergmann bekannt, der dieses respektable Alter erreicht hätte. "Mineros arbeiten, bis sie anfangen, Blut zu spucken", erklärt Eric. Ihre durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 48 bis 52 Jahre. Kaum einer überlebt die extrem anstrengende Arbeit in den unzureichend gesicherten und schlecht belüfteten Stollen länger als zehn, höchstens 15 Jahre.

Mittagszeit im Cerro Rico. Die Bergleute machen gerade pausa verde: Koka-Pause. Reicht das Einkommen aus dem Knochenjob überhaupt zum Leben und für eine ordentliche Ausbildung für die Kinder? "Das hängt davon ab", erklären Bergmann Luis und seine Kollegen lakonisch, während sie sich zügig getrocknete Koka-Blätter in den Mund stecken: Wenn sie eine gute Erzader finden, dann geht es. Und wenn nicht, dann wird es eben eng. Und was halten sie von ihrem neuen Präsidenten? "Morales? Nun, da ruhen natürlich viele Erwartungen drauf", kommentiert Luis. Das Wichtigste wäre, dass die Streiks aufhören. Damit es endlich aufwärts geht mit Bolivien! Aber schon eine Woche nach Morales' Regierungsantritt habe es schon wieder einen Streik gegeben. Gewerkschaftlich organisiert sind die Bergleute hier nicht. Sie sind selbstständige Anteilseigner einer Kooperative.

Auch Minero David gibt sich misstrauisch: Der neue Staatschef Morales ist ihm suspekt, weil er Koka-Anbauer ist. Und vom Koka zum Kokain ist es schließlich nicht weit, oder? Dabei waren in Bolivien viele ehemalige Mineros gezwungen, zur Koka-Produktion zu wechseln, seit Mitte der 1980er Jahre der staatliche Bergbau-Konzern COMIBOL wegen mangelnder Rentabilität aufgab. Damals wurden 25.000 Mineros entlassen. Wer nicht in die Landwirtschaft ging, begann, auf eigene Rechnung in den Minen zu arbeiten. Was immer noch besser ist, als von privaten Bergbauunternehmen angestellt zu sein, denn die Bergbau-Kooperative bietet Krankenversicherung, medizinische Versorgung und andere Sozialleistungen. Dafür müssen die Bergleute 12 Prozent ihres Einkommens an die Verwaltung der Kooperative abgeben.

Im Zentrum der Konflikte: Die Kontrolle über Rohstoffe

Traditionell treten die Bergarbeiter Boliviens sehr viel kämpferischer auf als Luis und seine Kollegen in Potósi. Sie haben Erfahrung mit gewerkschaftlicher Organisierung, und wissen auch, wie man mit Dynamit umgeht. Wenn die Mineros zusammen mit den einflussreichen Nachbarschaftsorganisationen aus der kämpferischen 600.000-Einwohner-Stadt El Alto, in der vor allem Indios, meist Ex-Bauern und Ex-Mineros leben, die wenigen Kilometer nach La Paz hinuntermarschieren, müssen sich die Herrschenden auf harte Zeiten gefasst machen. Die Kontrolle über Rohstoffe ist dabei nicht zufällig stets im Zentrum der Konflikte: Fünfhundert Jahre kolonialer Ausbeutung des an Bodenschätzen so reichen Landes haben sich tief ins kollektive Bewusstsein eingeprägt.

Schon im Jahr 2000 vertrieben soziale Bewegungen den Wasserkonzern Bechtel aus Bolivien. Im Oktober 2003 kam es zu breiten Unruhen: Nachbarschaftsverbände und Arbeiterorganisationen protestierten, als Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada die Ausfuhr des wichtigen Bodenschatzes Erdgas an US-Konzerne plante. Der ultraliberale Präsident setzte die Armee gegen die DemonstrantInnen ein: Mehr als 60 Menschen kamen dabei ums Leben, 400 wurden verletzt. "Goni" setzte sich ins Ausland ab.

Im Januar 2005 erzwangen die über 600 Nachbarschaftsorganisationen von El Alto, koordiniert vom kämpferischen Dachverband La Fejuve, die Aufhebung des Vertrages mit Aguas del Illimani, einem Unternehmen des Wassermultis La Suez-Lyonnaise des Eaux. Auch Sánchez de Lozados Nachfolger Carlos Mesa musste nach wochenlangen Protesten der Bevölkerung im Juni 2005 zurücktreten, nachdem die Versorgung in La Paz zusammenzubrechen drohte. Hauptforderung der Fejuve, neben dem Ruf nach Bestrafung der Verantwortlichen für die Todesopfer der Aufstände von 2003 und der Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung: Die Verstaatlichung von Wasser, Erdöl und Erdgas.

Die Rückverstaatlichung von Erdgas - Bolivien verfügt, nach Venezuela, über die zweitgrößten Erdgasvorkommen in Südamerika - steht auch für den Exekutivsekretär des Gewerkschaftlichen Dachverbands COB, Jaime Solares, an erster Stelle. Wenn Morales nicht innerhalb von 180 Tagen für die Rückverstaatlichung des Erdgases sorge, würde er "fallen wie Sanchez de Lozado", warnte Solares noch vor Morales' Regierungsantritt.

Inzwischen ernannte Präsident Evo Morales den Chef der Fejuve, Abel Mamani, zum Minister für Wasserversorgung. Die seit Jahren von den sozialen Bewegungen immer wieder geforderte Verfassunggebende Versammlung ist beschlossene Sache: Eine solche Versammlung mit 210 Mitgliedern wird die Bevölkerung im Juli dieses Jahres in direkter Wahl bestimmen.

Neben Mamani berief Morales weitere bewährte Mitstreiter der kämpferischen Organisationen Boliviens. So ernannte er den engagierten linken Journalisten Andrés Solis Rada, dessen Positionen oft links von Morales' Movimiento al Socialismo angesiedelt sind, zum Minister für fossile Brennstoffe. Solis Rada ist dafür bekannt, dass er sich für eine "harte", entschädigungslose Politik der Rückverstaatlichung von Brennstoffen einsetzt.

Unter den 16 Ministern seines "Kabinetts der Veränderung" sind vier Frauen: So die Quetchua-Indigena Casimira Rodriguez, die mit 13 Jahren begann, als Hausangestellte zu arbeiten. Als langjährige Vorsitzende der bolivianischen Hausangestellten-Gewerkschaft und spätere Parlamentarierin erkämpfte sie ein Gesetz zum Schutz dieser Berufsgruppe, die traditionell besonders extremer Ausbeutung ausgesetzt ist. Morales ernannte Casimira Rodriguez zur Justizministerin.

Ha der "Sieg gegen den Neoliberalismus" Bestand?

Auch Bergbauminister Walter Virraoel ist als kämpferischer, erfahrener Gewerkschafter bekannt. Der Außenminister David Choquehuanca wird der Aymara-Elite zugerechnet. Félix Patzi Paco, ein indigenistischer Soziologe, leitet das Erziehungsministerium, und der Koka-Bauer Felipe Caceres wurde zum Drogenbeauftragten ernannt. Zentrales Anliegen von Morales: den in Bolivien legalen Koka-Anbau, traditionelle Existenzgrundlage für tausende von ländlichen Familien, für den medizinischen Gebrauch der Pflanze voranzutreiben, Kokainproduktion dagegen zu verhindern.

Morales' Haltung in Bezug auf den Koka-Anbau dürfte ihm in den USA kaum Sympathien eintragen. Außenministerin Condoleeza Rice kündigte bereits an, den demokratischen Prozess in Bolivien aufmerksam zu "überwachen". Morales, der in den USA früher gern als "Narkoterrorist" bezeichnet wurde, kündigte bisher nur zurückhaltend an, er wolle mit den Vereinigten Staaten "auf Respekt dieses Landes gegründete Beziehungen" knüpfen.

Skeptische Stimmen kommen nicht nur aus dem Ausland, sondern gerade auch aus den eigenen Reihen, in denen die Erwartungen naturgemäß sehr hoch sind: Bergbauminister Villarroel, früher Anführer der kooperativistischen Bergleute, wird von den lohnabhängigen Mineros nicht geschätzt. Dem indigenen Erziehungsminister, so wird beklagt, fehle der "Stallgeruch", und warum wurde eigentlich kein einziger Vertreter aus der Region Chuquisaca ins Kabinett berufen?

Schwerer wiegt die Tatsache, dass sich Morales und der zuständige Minister Solis Rada offenbar bisher bei der versprochenen Verstaatlichung von fossilen Brennstoffen zurückhalten. Boliviens neuer Staatschef erklärte wenige Tage nach Amtsantritt, ausländische Investoren seien in Bolivien durchaus erwünscht und müssten nicht befürchten, enteignet zu werden. Er selbst sehe seine Aufgabe darin, "gute Geschäfte" für Bolivien zu machen. Gute Nachrichten, etwa für José Sérgio Gabrielli, der den brasilianischen Öl- und Gaskonzern Petrobras leitet und in Bolivien bereits 1,5 Milliarden US-Dollar investiert hat. Doch viele Indigene und Gewerkschafter hätten sich radikalere Worte und konsequentere Maßnahmen gewünscht, betont Felipe Quispe von der Indigena-Interessenvertretung Movimiento Indigena Pachakutic.

Dass Morales durchaus taktieren kann und diese Fähigkeit gelegentlich opportunistische Züge annimmt, hatte sich schon während der Volksaufstände im Sommer letzten Jahres gezeigt: Der populäre MAS-Anführer hatte mit den rechten Parteien verhandelt und die DemonstrantInnen dazu bewegt, ihre Proteste einzustellen, was ihm Sympathien in der oberen Mittelschicht eintrug - Quispe dagegen bezeichnete ihn daraufhin als "Verräter".

Wenn Morales dem Druck von außen und innen standhalten will, wenn sein "Sieg gegen den Neoliberalismus" Bestand haben soll, wird er um ein entschiedenes Vorgehen in der Frage der Verstaatlichung von Rohstoffen kaum herumkommen. Nur so wird er sich langfristig die Unterstützung seiner Basis, der linken und indigenen Bewegungen, sichern können. Denn dass gegen den Widerstand dieser Gruppen auf die Dauer kein bolivianisches Regierungsprojekt durchhält, haben die Erfahrungen seiner beiden Vorgänger deutlich gezeigt.

Katharina Müller