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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 504 / 17.3.2006

Die Revolution hat bereits begonnen

Ein Gespräch mit John Holloway und Antonio Negri

John Holloway und Antonio Negri, die beide kürzlich unabhängig voneinander zu Besuch in Venezuela waren, haben sich zum ersten Mal am 12. Februar 2006 in Bologna auf einem Studienseminar von Uninomade (1) zu "Governance, Repräsentanz und Bewegungen" getroffen. Ihr Zusammentreffen hat das Problem der Revolution in die Diskussion um die Repräsentanz und die Formen der Ausübung des kapitalistischen Fabrikkommandos eingebracht. Mit Holloway und Negri sprachen Vittorio Sergi und Marcello Tarì von Uninomade.

Heutzutage wird wieder über die Revolution gesprochen, d.h. es wird ein radikaler Bruch mit dem Kapitalismus und dem Staat; oder, um in Tonis Worten zu reden, mit dem Empire, diskutiert und praktiziert. Welches sind die Quellen dieses Denkens und dieser politischen Passion?

John Holloway: Warum sprechen die Menschen wieder von Revolution oder davon, die Welt zu verändern, oder eine neue Welt zu erbauen? Erstens, weil es offensichtlicher denn je ist, dass der Kapitalismus für die Menschheit eine Katastrophe ist. Dies nicht nur im Hinblick auf das gegenwärtige Elend, sondern auch im Hinblick auf die Zerstörung der natürlichen Bedingungen, die für das Überleben der Menschheit notwendig sind. Aber es gibt auch etwas Neues: Die Revolution erscheint nicht mehr als die unmögliche Sache, als die sie noch vor zehn oder fünfzehn Jahren erschien. Der Zyklus der Kämpfe, der mit den Zapatisten beginnt, eröffnet neue Möglichkeiten, neue Formen, die Revolution zu denken. Es ist uns jetzt möglich, die Revolution nicht so sehr als ein Ereignis in ferner Zukunft zu denken, sondern als Risse, die sich bereits jetzt im Gewebe der Herrschaft öffnen, als Räume oder Momente einer Verweigerung-und-Erschaffung, in denen die Menschen sagen: "Hier nicht, hier machen wir die Dinge auf eine andere Weise". Die Revolution ist einfach die Herstellung, Ausdehnung und Vervielfältigung dieser Risse. Man könnte auch sagen: Die Revolution hat bereits begonnen.

Antonio Negri: Es stimmt, heute wird wieder von Revolution gesprochen. Wir fragen uns alle, aus welchen Gründen nach einer so langen Periode der Repression und der kapitalistischen Initiative, wieder mit derartiger Macht das Bedürfnis entsteht, im Sinne einer radikalen Veränderung des gegenwärtigen Zustands der Dinge zu sprechen und zu handeln. Es ist klar, dass die US-amerikanische Niederlage im Nahen Osten und die darauf folgenden Schwierigkeiten eine zentrale Rolle in diesem Übergang (2) gespielt haben: Dennoch sind es immer die Subjektivitäten, deren Reifungen und ihre Passionen, die die Zeiten des politischen Handelns bestimmen. Der Zapatismus hat sich innerhalb dieser neuen und seltsamen Rationalität bewegt, hat diese "Biopolitik" mit einer revolutionären Praxis genährt. Es geht sich hier jedoch weder darum, die Macht des amerikanischen Empires noch die ihrer kapitalistischen Vasallen in der Welt zu unterschätzen, noch darum, die subjektive Stärke (3) der Bewegungen und insbesondere des Zapatismus zu überschätzen. Tatsächlich scheint es jedoch so zu sein, dass wir eine wirkliche Eröffnung eines neuen Horizontes erleben, vielleicht einen Sozialismus für das 21. Jahrhundert, wie manche sagen.

Im Zentrum der revolutionären Theorien und Praxen steht eine Diskussion, die sich um den Klassenbegriff und um die Bedeutung und die Rolle der Arbeit entzündet hat. Welches Verhältnis seht ihr zwischen den Formen der Repräsentanz und den Formen der Organisation der Arbeit? Welche Bedeutung hat der Begriff "poder popular" (4), der als Forderung ständig in den gegenwärtigen Kämpfen Lateinamerikas auftaucht, in den europäischen Metropolen?

John Holloway: Ja, die Arbeit ist zentral, aber der Ausgangspunkt kann nicht die abstrakte Arbeit oder Lohnarbeit und ihre gegenwärtigen Formen sein, sondern der Kampf, den die abstrakte Arbeit versteckt, d.h. der Kampf um die Verwandlung unseres kreativen Tuns in abstrakte oder entfremdete Arbeit, Arbeit unter dem Kommando von anderen, sein. Der Kern des Klassenkampfes ist der Kampf zwischen dem kreativen Tun und der abstrakten Arbeit, d.h. der Kampf des menschlichen Tuns; der Kampf darum, dem Gefangensein in der Lohn- oder kapitalistischen Arbeit zu entfliehen. Der Kampf zwischen der abstrakten Arbeit und dem Kapital ist ein relativ oberflächlicher Kampf, da die Lohnarbeit und das Kapital komplementäre Formen sind. Die Organisationsformen der traditionellen Arbeiterbewegung und ihre Konzepte basieren auf dem Kampf der abstrakten Arbeit. Dieser Kampf, seine Organisationsformen und seine Begriffe sind in der Krise. Wir erleben die Krise der abstrakten Arbeit, die Krise ihrer Fähigkeit das menschliche Tun zu bändigen. Die Krise der Repräsentanz (die im Grunde genommen ein Moment der Abstraktion der Arbeit ist) und der Konzepte wie das des "poder popular" müssen in diesem Kontext verstanden werden.

Antonio Negri: Der Begriff der Klasse steht im Zentrum der Marxschen Thematik und jeder revolutionären Thematik, muss aber immer wieder neu in Bezug auf die technische und politische Klassenkomposition des Proletariats definiert werden. Es gibt weder eine ewige und unwandelbare Figur des Klassenbegriffs, noch eine stabile und universelle Form der Abstraktion der Arbeit (d.h. des Ausbeutungsprozesses). Wenn wir heute anstatt des Begriffs Klasse den Begriff der Multitude verwenden, dann deshalb, weil wir den Begriff der Arbeiterklasse als für zu eng erachten, um die Intensität (die zunehmend immateriell und zunehmend mehr auf die Wissensverarbeitung, als auf die materielle Produktion bezogen ist) und die Ausbreitung (nicht mehr nur in der Fabrik, sondern in der Gesellschaft) der ausgebeuteten Arbeit zu definieren. Wenn wir auf den neuen Bestimmungen der Ausbeutung insistieren, dann müssen wir jedenfalls auch auf den neuen Qualitäten des proletarischen Subjektes beharren: die Negativität seines Handelns, der Schrei des Protestes, der sich aus der Multitude erhebt, muss immer von einem Organisationsmodell und der Fähigkeit, wirkungsvolle institutionelle Figuren für die Befreiung der lebendigen Arbeit hervorzubringen, begleitet sein. Es ist klar, dass die Kategorie "poder popular", der in den Bewegungen Lateinamerikas eine zentrale Bedeutung zukommt, in Europa politisch praktisch nicht zu gebrauchen ist. Volk, Nation, etc., sind Begriffe, die durch die Erfahrung von Bündnissen und durch schändliche Vorstellungen einer Einheit der Klassen (immer in reaktionärem Sinn, wenn nicht gar offen faschistisch) in unserer europäischen Geschichte verbrannt sind. Der Begriff der Macht selbst ist andererseits ebenfalls reichlich in Misskredit gebracht. Es scheint nicht so, dass die großen Bewegungen Europas der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf Programme der "Machtergreifung" zurückgegriffen hätten. Es handelt sich hier also vielleicht um etwas anderes: um einen Ausdruck der Stärke, um die Bestimmung von Institutionen der Organisationen der Arbeit und der Gesellschaft, die nicht mit denen übereinstimmen, die wir von der bürgerlichen Konzeption und Praxis der Macht geerbt haben. Demgegenüber stellt "poder popular" in den lateinamerikanischen Ländern unmittelbar die Aktion der Multitude gegen die nationalen und internationalen Oligarchien dar. "Poder popular" hat eine autochthone und starke Bedeutung. Einziges Problem: Es ist notwendig, den Begriff "popular" [Volks-] von dem Adjektiv "national" zu lösen.

Ihr beide seid in Venezuela gewesen und ihr beide kennt die mexikanische zapatistische Bewegung, die sich heute auf die Seite der Antipoden des bolivarianischen Modells zu stellen scheint. Hat sich auf der Linken eine neue Unterscheidung zwischen verschiedenen Revolutionsmodellen etabliert? Wo liegt Eurer Meinung nach die Priorität für die sozialen Bewegungen in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem globalen Kapital?

John Holloway: Jede Rebellion ist schön. Jede große Rebellion ist eine Vielzahl von Rebellionen, die kooperieren und die auch aufeinander prallen. Der Frage des Staates und der Macht kommt eine zentrale Bedeutung zu. Die Idee, die Welt durch den Staat zu verändern ist ein Moment des Kampfes der abstrakten Arbeit gegen das Kapital; dieser Kampf kann zu einer bedeutsamen Verbesserung der Lebensbedingungen der ArbeiterInnen und der Menschen führen, aber er bricht nicht mit der Herrschaft der abstrakten Arbeit (und damit des Kapitals). Aber in den letzten Jahren ist eine sehr viel radikalere Kraft im Entstehen begriffen, und das ist die Kraft des menschlichen oder kreativen Tuns gegen die abstrakte Arbeit. Dabei handelt es sich um eine sehr viel tief greifendere Rebellion, die sich weigert, vermittelt über den Staat zusammenzufließen und die die Traditionen der klassischen Arbeiterbewegung in Frage stellt. Diese tief greifende Rebellion ist ein Prozess des Zerbrechens-und-Erschaffens, des Erschaffens von Rissen im Gewebe der kapitalistischen Herrschaft. Sie zeigt sich auch in der zapatistischen Bewegung und in einem bedeutenden Teil der globalisierungskritischen Bewegung, sicher auch in vielen Bewegungen innerhalb des bolivarianischen Prozesses - nicht jedoch im venezolanischen Staat. Ich denke, dass dies die Rebellion ist, die wir schüren müssen, um mit dem Kapitalismus zu brechen.

Antonio Negri: Ich glaube, dass das bolivarianische Modell, d.h. die Gesamtheit der Projekte und der Kräfte, die den revolutionären Prozess in Venezuela organisieren, noch offen genug ist, um kritisch eingreifen zu können und um in eigenständiger Weise entwickelt werden zu können. Nichts erscheint mir absurder, als dieses starke, weil offene Modell anderen, sich heute innerhalb der Linken in Lateinamerika entwickelnden Erfahrungen entgegenzustellen. In dieser Phase großer Experimente denke ich, dass es absolut notwendig ist, die Konfrontation offen zu halten und nicht die fanatischen Gegenüberstellungen der Sozialismen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts zu wiederholen, das heißt: über die Übereinstimmungen anstatt über die Unterschiede nachzudenken. Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste ist, dass der Feind ein Einziger ist: das Empire. In den lateinamerikanischen Gesellschaften erstreckt es sich vermittelt über die nationalen Oligarchien und über die gefestigten Strukturen einer antiken und schwer zerstörbaren Biomacht: Dies ist der zu schlagende Feind, um dieses Ziel herum entwickeln sich die Konfrontationen. Der zweite ist, dass die Bewegung der Multitude heute eine Bewegung der Unterschiede ist: Dies ist der Reichtum unserer Epoche. In jedem Land Lateinamerikas verfügt die technische, kulturelle und politische Zusammensetzung der Multitude über bemerkenswerte und originelle eigenständige Charakteristiken. Die internen Missverhältnisse des Subkontinentes sind enorm und offensichtlich. Innerhalb dieses Rahmens muss die bolivarianische Initiative mit anderen Kräften und anderen proletarischen Erhebungen auf der Ebene des Kontinents integriert werden und nur innerhalb dieses Rahmens einer lateinamerikanischen Integration wird ein neues Entwicklungs- und Befreiungsmodell definiert werden können.

Übersetzung aus dem Italienischen und Anmerkungen: Lars Stubbe

Übersetzung und Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift il manifesto.

Anmerkungen:

1) "Uninomade ist ein europäisches Netz von ForscherInnen und StudentInnen, das seit 2004 versucht, die mögliche Neuzusammensetzung kritischer Intelligenz entlang eines gemeinsamen Desiderats voranzutreiben, nämlich dem Aufbau von Dispositiven autonomer Bildung sowie die Organisierung der öffentlichen Debatte über die Begriffe, die Ausdrucksweisen und die Kategorien, in denen sich die theoretischen und praktischen Erfahrungen der Bewegungen der letzten Jahren ausdrücken." (zit. aus der Selbstdarstellung.)

2) Der Begriff "passagio", also Passage oder Übergang, steht bei Negri für die Zeit, in der sich ein neues Modell gesellschaftlicher Vermittlung konstituiert.

3) Negri spricht hier von "potenza". In seinen Schriften ist dies der nicht-dialektische Gegenpol zum Begriff der "potestas", dem vom Staat her gedachten Machtbegriff, weswegen hier auf "Stärke" zurückgegriffen wird.

"Volksmacht". Der klassenunspezifische Begriff des Volkes muss im lateinamerikanischen Kontext als oppositioneller Begriff gelesen werden, der sich auf die zu erreichende Entscheidungsgewalt der subalternen Klassen über ihr Leben bezieht.