Ein unglaubliches Puzzlespiel
Prozesse gegen Polizeiverantwortliche beim G8-Gipfel in Genua
"Bestimmte Bilder bleiben im Kopf. Vermutlich ein Leben lang." Mit diesen Worten umschreibt der 29 Jahre alte Mirco Sch. aus Oberhausen die traumatischen Erinnerungen an den Polizeiüberfall auf die Diaz-Schule in Genua. Nach den spektakulären Protesten gegen den Weltwirtschaftsgipfel stürmte die italienische Polizei in der Nacht zum 22. Juli 2001 die Schule, in der G8-GegnerInnen aus verschiedenen Ländern ihr Quartier bezogen hatten.
In einer kaum vorstellbaren Gewaltorgie wurden dabei fast hundert Personen z.T. schwer verletzt. Einige trugen bleibende Schäden davon. Der britische Journalist Marc O. lag tagelang im Koma. Dass es nach der Tötung von Carlo Giuliani auf der Demonstration am Vortag keine weiteren Opfer gab, ist nicht mehr als ein glücklicher Zufall. Auch Mirco Sch. gehört zu den zahlreichen Verletzten aus der Diaz-Schule. "Ein Polizist trat mit seinem Stiefel gegen meinen Kopf, so dass ich zeitweilig das Bewusstsein verlor." Als er wieder wach wurde, lag er bereits mit blutendem Kopf auf einer Bahre und wurde mit einem Krankenwagen abtransportiert. Die Bilder von dem Polizeistiefel und der blauen, am Knie gepolsterten Uniformhose haben sich Mirco ins Gedächtnis gebrannt. Mit Hilfe solcher Details zu Kleidung und Ausrüstung versucht die Staatsanwaltschaft in Genua die an dem Überfall beteiligten Polizeieinheiten zu identifizieren.
Seit April 2005 wird 29 für den Überfall verantwortlichen leitenden Polizeifunktionären in Genua der Prozess gemacht. "Das Ganze ist ein unglaubliches Puzzlespiel", fasst Andreas F. von der lokalen Genua-Solidaritätsgruppe in Oberhausen die Erkenntnisse aus der bisherigen Prozessbeobachtung zusammen. Durch die als Nebenkläger auftretenden Anwälte des Genova Legal Forums wurden im Vorfeld des Prozesses in mühseliger Kleinarbeit über 250 Stunden Videomaterial, tausende Beweisfotos und hunderte Zeugenaussagen ausgewertet und archiviert.
Folter durch Polizei und Gefängniswärter
Prominentester Angeklagter ist Franscesco Gratteri, der damalige Chef der italienischen Bereitschaftspolizei und heutige Leiter der nationalen Anti-Terror-Einheiten. Er war bei der Prügelorgie in der Turnhalle des Schulgebäudes anwesend und konnte von mehreren Zeugen identifiziert werden. Die Vorwürfe gegen die angeklagten Polizisten lauten auf schwere Körperverletzung, Falschaussage und Verleumdung, Diebstahl und Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch und Gewaltanwendung im Amt.
Von Seiten der Nebenklage wurden über 120 TatzeugInnen benannt. Neben den Opfern der polizeilichen Gewalt gehören hierzu auch Journalisten, Ärzte und Rechtsanwälte, die das Geschehen aus der gegenüberliegenden Pascoli-Schule, dem Medienzentrum der Gipfelgegner, beobachteten. Doch trotz der akribischen Recherche durch die Staatsanwaltschaft und das Genova Legal Forum, dürfte die Ermittlung der meisten direkt beteiligten polizeilichen Schläger unmöglich sein. "Die beteiligten Polizisten waren vermummt und wir haben deshalb große Probleme bei der Identifizierung. Die Polizei hat zudem im Laufe der Ermittlungen alles Mögliche gemacht, um ihre Identität nicht preiszugeben", beschreibt die Oberhausener Anwältin Dagmar Vogel die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion der Ereignisse. Bisher konnte lediglich die 7. Einsatzgruppe der römischen Bereitschaftspolizei als die für die Gewalttaten verantwortliche Einheit festgestellt werden. Da eine individuelle Identifizierung nicht möglich ist, können die 62 Männer der Abteilung trotzdem mit Straffreiheit rechnen.
Bereits im Jahr 2002 wurde Mirco gemeinsam mit anderen Oberhausener Polizeiopfern im Zuge eines Amtshilfeverfahrens von der Duisburger Staatsanwaltschaft vernommen. Damals war er nicht nur Kläger, sondern selber auch Beklagter. Die Polizei hatte alle 93 in der Diaz-Schule festgenommenen Personen pauschal mit dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zum Zwecke der Verwüstung und Plünderung überzogen. Ein aus der Mussolini-Zeit stammender Straftatbestand, bei dem den Beschuldigten acht bis 15 Jahre Haft drohen. Die Polizei behauptete, sie sei in der Schule auf massiven Widerstand gestoßen. Zudem wurden den Festgenommenen weitere Beweismittel untergeschoben. Nachdem ein Polizeizeuge bestätigte, dass angeblich in der Diaz-Schule deponierte Molotowcocktails bereits am Vortag am Rande einer Demonstration durch die Polizei beschlagnahmt wurden, wurden die Verfahren eingestellt.
Im Oktober 2005 wurde ein weiteres Verfahren gegen 45 Carabinieri, Gefängniswärter, Ärzte und Sanitäter eröffnet. Dort geht es um die Übergriffe in der Polizeikaserne von Bolzaneto, die beim G8-Gipfel in Genua als Gefangenensammelstelle diente. Die ZeugInnen der Anklage berichten in diesem Verfahren von regelrechter Folter durch vernehmende Polizeibeamte und sadistische Gefängniswärter. Auch Mirco Sch. wurde nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt durch Zivilbeamte verhaftet und nach Bolzaneto verbracht. "In den 24 Stunden meines Aufenthaltes wurde ich durch Beamte getreten und musste stundenlang mit erhobenen Händen an der Wand stehen." Andere Festgenommene mussten ihren Peinigern die Stiefel lecken. In unbeheizten Zellen wurden sie mit kaltem Wasser bespritzt und durch den Einsatz von CS-Gas drangsaliert. Obwohl Italien das internationale Abkommen gegen Folter unterschrieben hat, gibt es im italienischen Recht keinen Paragrafen, der Folter unter Strafe stellt.
Neuer Prozess gegen den Todesschützen von Giuliani
Eine Verurteilung der verantwortlichen Polizisten dürfte auch für die 25 italienischen Demonstranten von Belang sein, die wegen "Verwüstung und Plünderung" bereits seit anderthalb Jahren vor Gericht stehen. Ihnen wird eine Beteiligung an den Auseinandersetzungen um die Demonstration der sog. Tute Bianche (Weiße Overalls) vorgeworfen. Der große genehmigte Demonstrationszug wurde am 20. Juli 2001 von Carabinieri-Einheiten ohne Vorwarnung angegriffen. Neueres Video- und Fotomaterial beweist, dass die Carabinieri dabei auch Eisenstangen anstatt der üblichen Schlagstöcke einsetzten. Aus dem mitgeschnittenen Polizeifunk ergibt sich, dass die den Angriff durchführende Einheit einen gänzlich anderen Einsatzauftrag hatte und die Aktion eigenmächtig startete. Im Falle einer Verurteilung der 25 droht weiteren Menschen, darunter auch einigen Bundesdeutschen, allein wegen ihrer Beteiligung an der fraglichen Demonstration eine Anklage wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation.
Im Zuge der schweren Auseinandersetzungen um die Demonstration der Tute Bianche wurde auch der Demonstrant Carlo Giuliani getötet. Nachdem die italienische Justiz die Ermittlungen gegen den polizeilichen Todesschützen Mario Placanica eingestellt hat, hat der Europäische Gerichtshof in Straßburg einer Beschwerde der Familie Giuliani stattgegeben und eine Wiederaufnahme der Ermittlungen auf europäischer Ebene angekündigt. Auch in diesem Fall ist das letzte juristische Wort also noch nicht gesprochen.
Tom Binger