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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 506 / 19.5.2006

Die Welt zu Gast bei Freunden

Die Debatte nach dem rassistischen Angriff in Potsdam

Am frühen Morgen des Ostersonntag wurde der Wasserbau-Ingenieur Ermyas M. an einer Bushaltestelle in Potsdam aus rassistischen Motiven fast totgeschlagen. Die hasserfüllten Satzfetzen der Täter auf der Mailbox seiner Ehefrau, die der 37-Jährige kurz zuvor angerufen hatte, sind eindeutig. Dort ist zu hören, wie die Schläger ihr Opfer als "Nigger" und "Scheißnigger" bezeichnen. Nicht nur, dass dieser Angriff ein großes Echo hervorrief, hebt ihn aus der Vielzahl von rechten Gewalttaten in Deutschland heraus.

Dass der Angriff auf Ermyas M. solche Wellen schlug, hat mehrere Gründe. Es hat mit der kurz bevorstehenden Fußball-Weltmeisterschaft und den Eigentümlichkeiten des Pressewesens (Ostern ist eine nachrichtenarme Zeit) ebenso zu tun, wie mit regionalen Begebenheiten in der brandenburgischen Landeshauptstadt und der Tatsache, dass der Angriff ein Opfer traf, das genau dem propagierten Leitbild staatlicher Einwanderungspolitik entspricht.

"Die Welt zu Gast bei Freunden" heißt der offizielle Slogan der Fußball-WM. Dieser Slogan war schon immer verlogen. Die staatliche Abschiebe- und Einwanderungspolitik, der alltägliche Rassismus und das Ausmaß rechter Gewalt sowie die zunehmende Fremdenfeindlichkeit sprechen eine deutlich andere Sprache. Gleichwohl galt und gilt es den Schein zu wahren; nicht auszudenken, welchen Schaden das "Ansehen Deutschlands" nehmen würde, sollten während des Fußball-Turniers ausländische Fans zu Opfern rechter Schläger werden. "Den Schaden", gab u.a. die Welt die Parole aus, "haben nicht nur das Opfer, das in einer Potsdamer Klinik um sein Leben ringt, und die um ihren Ruf bangende Stadt. Getroffen ist, gut 50 Tage vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft, das gesamte Land." (19.4.06)

In vielen Kommentaren befasste man sich mit dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem rassistische Gewalt wächst. "Rassistisches und fremdenfeindliches Denken breitet sich im Stillen aus: an Stammtischen, im Verein, in Jugendcliquen", so etwa die Lausitzer Rundschau. Nachdenklichkeit überwog. "Rechtsextremismus und Ausländerhass, gepaart mit Gewaltbereitschaft, sind ein alltägliches Phänomen in Deutschland, auch wenn es nur noch in Extremfällen wie dem von Potsdam eine Schlagzeile wert ist", stellt etwa die Süddeutsche Zeitung - durchaus selbstkritisch - fest. (24.4.06)

Das "Ansehen Deutschlands" ist in Gefahr

Konsequent übernahm Bundesanwalt Kay Nehm die Ermittlungen, die Festnahme eines Tatverdächtigen wurde dramatisch inszeniert und beide Tatverdächtigen im Hubschrauber - wie in RAF-Hochzeiten - nach Karlsruhe geflogen. Ganz offensichtlich ging es darum, Zeichen zu setzen: Deutschland lässt rechte Schläger nicht gewähren. Die Republik atmete erleichtert auf.

Doch dann kam die Wende. Die Presse erging sich in kriminalistischen Details, Spekulationen über den Tathergang und die Motivlagen von Tätern und Opfer. Die Folge: Die Tat ist aus ihrem Kontext herausgelöst und entpolitisiert. Genüsslich wird die "Schuldfrage" diskutiert - war das betrunkene Opfer am Ende nicht selber schuld?

Deutschland kann aufatmen: "Wieder einmal geht es um Rassismus, den Terror von rechts, die Fremdenfeindlichkeit in Brandenburg, den neuen Ländern, im ganzen Land", so jedenfalls die Welt am 24. April. "Und wieder einmal liegt das ganze Land auf der Couch. Und das, obwohl ein rassistischer Hintergrund der Tat noch gar nicht feststeht, als die Deutungsschlachten längst im Gang sind." Ein "Streit zwischen Betrunkenen mit tragischem Ausgang" habe "einen Aufschrei der Anständigen in Deutschland aus(ge)löst und die meisten seiner Entscheidungsträger in Verwirrungen und Mutmaßungen (ge)stürzt", so die Welt fünf Tage später. (29.4.06) Zur nationalen Frage erklärte auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Tat in Potsdam - allerdings mit einer eigentümlichen Wendung: "Ein Verbrechen in Potsdam hat gezeigt, was für ein zerbrechliches Gebilde die Bundesrepublik Deutschland offenbar ist", so die FAZ bereits - bezeichnenderweise, wenn wohl auch zufällig - an "Führers" Geburtstag. "Ein stabiles, selbstbewusstes Gemeinwesen sieht anders aus", so das Fazit der FAZ. (20.4.06)

Jetzt schlug die Stunde von Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. Schäuble erklärte: "Wir wissen die Motive nicht ... Wir sollten ein wenig vorsichtiger sein." Und legte noch mit einer Äußerung nach, die man nur als Ermutigung zur Hetze gegen Ausländer interpretieren kann: "Es werden auch blonde, blauäugige Menschen Opfer von Gewalttaten, zum Teil sogar von Tätern, die möglicherweise nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Das ist auch nicht besser."

Mit ähnlichen Argumenten griff Schönbohm Generalbundesanwalt Nehm an, weil er die Ermittlungen im Fall Ermyas M. an sich gezogen hatte. Schönbohm warf ihm vor, er habe "aus der Sache ein Politikum gemacht" und das Land Brandenburg "stigmatisiert". (FAS, 23.4.06) Die Übernahme der Ermittlungen durch den Generalbundesanwalt sei nicht erforderlich gewesen, es müsse sich erst noch herausstellen, ob es den Zusammenhang zwischen einer Gewaltstraftat und einer fremdenfeindlichen Straftat wirklich gebe.

Tatsächlich kann die Bundesanwaltschaft als Staatsanwaltschaft des Bundes nur bestimmte Ermittlungsverfahren an sich ziehen. Der Bundesgerichtshof hat allerdings in einer Entscheidung aus dem Jahr 2000 die - auch im Potsdamer Fall angewendeten - Kriterien bestätigt, nach denen sich der Generalbundesanwalt als zuständig einstufte, wenn das Erscheinungsbild der Bundesrepublik beeinträchtigt werde oder der Fall Signalwirkung für potenzielle Gewalttäter haben könnte.

Wie gehabt: Aus Opfer werden Täter gemacht

Zudem ist zur "Stigmatisierung" Brandenburgs kein Generalbundesanwalt erforderlich. Die Statistiken sprechen eine klare Sprache. Laut den jüngsten Angaben des Verfassungsschutzes nimmt Brandenburg, bezogen auf die Einwohnerzahl, bei rechts motivierten Straftaten den bundesweiten Spitzenplatz ein. Die Zahl rechtsextremistischer Straf- und Gewalttaten ist laut Bundesinnenministerium 2005 bundesweit gegenüber dem Vorjahr um 26,8 Prozent angestiegen. Danach erhöhten sich die rechten Straftaten allgemein von 12.051 (2004) auf 15.914, die darin enthaltenen Gewaltdelikte stiegen um 24,3 Prozent von 776 auf 1.034. Das Ausmaß rechter Gewalt ist jedoch um ein Vielfaches höher. Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt weisen immer wieder darauf hin, dass rechte Straf- und Gewalttaten überhaupt nicht in Polizeistatistiken auftauchen, weil sie von den Behörden nicht als solche eingeordnet werden.

Vertuschen, verdrängen, verharmlosen

Alleine in den neuen Bundesländern und in Berlin erlangten die Opferberatungsstellen 2005 Kenntnis von insgesamt 614 rechtsmotivierten Gewalttaten; das sind 63 Angriffe mehr als im Vorjahr. Die meisten Fälle wurden in Sachsen (154) gezählt, gefolgt von Sachsen-Anhalt (129) und Brandenburg (128). In nahezu 90 Prozent der Fälle handelte es sich um Körperverletzungsdelikte. In 300 Fällen richtete sich die Gewalt gegen junge Menschen aus linken und alternativen Milieus. In 182 lag eine rassistische Tatmotivation vor. Vergleichbare Zahlen liegen für Westdeutschland nicht vor. Das liegt schon alleine daran, dass ähnliche Einrichtungen hier nicht existieren.

Die Zukunft der Beratungsstellen im Osten ist jedoch ungewiss. Finanziert werden sie aus dem Bundesprogramm CIVITAS. Es läuft zum Jahresende aus. Inzwischen hat der Koalitionsausschuss der schwarz-roten Bundesregierung beschlossen, dass die Mittel für Prävention gegen rechts auch 2007 bei 19 Mio. Euro bleiben. Auf Druck der SPD wurden zudem die Pläne fallen gelassen, zusätzlich zum Schwerpunkt Rechtsextremismus aus demselben Topf Projekte gegen islamistischen und "Linksextremismus" zu fördern. Für die so genannten Strukturprojekte - Opferberatung und Mobile Beratung gegen Rechts - wird es nach den jetzigen Plänen allerdings kein Geld mehr geben.

Die Bundesregierung werde eine "angemessene" Antwort auf die besonderen Herausforderungen durch den Rechtsextremismus finden, sagte die Kanzlerin nach dem Angriff in Potsdam. Bislang heißt diese Antwort Vertuschen, Verdrängen, Verharmlosen.

mb.