Radikalisierung der Unsicherheit
Seit dem 1. August ist Hartz IV "fortentwickelt"
Zum 1. August 2006 ist das SGB-II-Fortentwicklungsgesetz in Kraft getreten. Es ist die zweite gesetzliche Änderung des Sozialgesetzbuchs (SGB) II binnen eines Jahres. Das im Frühjahr verabschiedete SGB-II-Änderungsgesetz hatte u.a. die Regelleistungen für junge Erwachsene bis 24 Jahre gekürzt, die Unterhaltspflichten von Eltern gegenüber ihren volljährigen Kindern (ebenfalls bis 24 Jahre) ausgeweitet und den Umzug von jungen Erwachsenen in eine eigene Wohnung bzw. die Übernahme der Mietkosten dafür von der Zustimmung der Behörden abhängig gemacht. Diese Entwicklung wird jetzt in der Tat fortgesetzt.
Beide gesetzlichen Änderungen waren von Missbrauchskampagnen gegenüber Menschen begleitet, die für ihren Lebensunterhalt auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind. Daneben wurde medienwirksam eine "Kostenexplosion durch Hartz IV" durch die Gegend posaunt, die jeglicher empirischen Grundlage entbehrt. (1) Diese doppelte Inszenierung wurde und wird in unterschiedlichsten Varianten zur Aufführung gebracht. In der Variante Sabine Christiansen wird "man" durch Hartz IV reich; in der Variante des SPD-Vorsitzenden Kurt Beck werden die BürgerInnen aufgefordert; ihre sozialen Rechte doch bitte mit Bescheidenheit in Anspruch zu nehmen - wenn überhaupt. Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, Peter Ramsauer, formuliert das prägnant so: "Auch wenn das legal ist, ist es nicht unbedingt gerecht. Wir geben zu viel Geld für Leute aus, die es nicht verdienen." (Neue Presse, 31.5.06) In der Variante von SpitzenfunktionärInnen einiger Wohlfahrtsverbände und kommunaler Spitzenverbände werden die "passiven" Leistungen (also z.B. die Geldleistungen des Alg II) gegen die "aktiven" Leistungen in Anschlag gebracht und als zu hoch empfunden.
Das durchgehende Thema des Dramas ist letztlich die Frage danach, auf welchem materiellen Niveau und zu welchen Bedingungen erwerbslosen und arbeitenden armen BürgerInnen das Existenzminimum gewährt wird. Vor diesem Hintergrund ist eine Feststellung des "Ombudsrat Grundsicherung für Arbeitssuchende" aufschlussreich, der deutlich macht, "dass von Missbrauch nicht geredet werden kann, wenn die Betroffenen die Möglichkeiten nutzen, die das Gesetz zulässt. Der Gesetzgeber ist gefordert, Regelungen zu schaffen, die klar und eindeutig sind und die nicht dazu führen, dass das eigentliche Ziel unterlaufen wird." (2)
Als "eigentliches Ziel" wird allenthalben formuliert, Erwerbslose um jeden Preis in Lohnarbeit zu bringen, um so die Arbeitslosigkeit und den Bedarf an "grundsichernden" Sozialleistungen zu reduzieren. Doch genau das funktioniert nicht. Die Anzahl der Alg-II-Anspruchsberechtigten will einfach nicht sinken: Die Zahl derjenigen, die vom Arbeitslosengeld ins Alg II rutschen, wächst genauso wie die derjenigen, die ihr über den Freibeträgen liegendes Vermögen zum Lebensunterhalt aufgebraucht haben. Und nach wie vor gibt es ca. eine Million Menschen, die trotz Lohnarbeit nicht genug Geld zum Leben hat. Aus diesen Gründen gerät die herrschende Politik angesichts ihrer "eigentlichen Ziele" in Zugzwang und regelt das Leben am Existenzminimum strenger und "billiger". Und wenn die jetzt vorgelegten Änderungen die erhofften Kostensenkungen nicht bringen, dann steht folgerichtig eine weitere "Fortentwicklungsrunde" ins Haus.
Strategische - Zielverfehlungen
Mit der SGB-II-Fortentwicklung will die Bundesregierung das System der Grundsicherung "effizienter und funktionsfähiger" ausgestalten, um "Ausgaben (zu) senken". Schon im laufenden Jahr sollen "bei Bund und Gemeinden einige 100 Mio. Euro gespart werden. Ist das Gesetz 2007 voll wirksam, sollen allein beim Bund 1,2 Mrd. Euro eingespart werden können. Die Summe der Einsparungen ergibt sich auch aus den gleichzeitig angestrebten administrativen Verbesserungen bei der Bundesagentur für Arbeit und den Arbeitsgemeinschaften sowie durch die Vermeidung des Leistungsmissbrauchs." (Sozialpolitische Informationen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, 23.5.06)
Dazu hat die Bundesregierung einen umfangreichen und detaillierten Maßnahmenkatalog zum Gesetz gemacht. Eine genauere Betrachtung sind dabei vor allem die Punkte wert, die politisch als "Missbrauchsbekämpfung", "Aktivierung zur Arbeit" und Kostensenkung verkauft werden. Es sind gleichzeitig diejenigen, die die finanziellen und sozialen Handlungsspielräume von Erwerbslosen und niedrigst Verdienenden weiter einschränken und so ihren Alltag weiter verunsichern. (3)
Als großer Wurf gegen angeblich grassierenden Missbrauch soll bundesweit in jeder Arbeitsgemeinschaft (ARGE) ein Außendienst eingerichtet werden, der Verdachtsfälle auf Leistungsmissbrauch schnell erkennt und beseitigt. Dazu werden auch die Möglichkeiten des Datenabgleichs zwischen verschiedenen Institutionen wie ARGE, Sozialversicherungen, Finanzämtern und KFZ-Zulassungsstellen ausgeweitet.
Allen Personen, die zum ersten Mal einen Antrag auf SGB-II-Leistungen stellen und vorher kein Arbeitslosengeld nach dem SGB III bezogen haben, soll ein sofortiges Vermittlungs- oder Maßnahmeangebot gemacht werden, um Arbeitsfähigkeit und -bereitschaft zu überprüfen. "Dadurch soll Hilfebedürftigkeit nach Möglichkeit erst gar nicht entstehen." (Sozialpolitische Informationen des BMAS, 23.5 06) Und genau das ist des Pudels Kerns: Die Zugangsschwelle zur Geldleistung soll mit dieser Regelung erhöht werden.
Der "Aktivierung" in Arbeit um jeden Preis dienen auch die Veränderungen bei den Sanktionen. Jungerwachsene sollen "flexibler" bestraft werden: Für unter 25-Jährige können Sanktionen wie Leistungskürzungen von drei Monaten auf sechs Wochen verkürzt werden. Für den Fall aber, dass Jungerwachsene mit einer 100%-igen Regelsatzkürzung bestraft werden, wird bei ihnen auch die Übernahme der Miet- und Heizungskosten zur Disposition gestellt. Diese sind von einer Muss- in eine Kann-Bestimmung umgewandelt worden.
Trio infernale: Missbrauch, Aktivierung, Kosten
Erwachsene, die andere Pläne für sich haben als die ARGE, werden nunmehr rigoros bedroht. "Drei Fehler - dann fliegst du raus!" heißt hier das Prinzip: Wer innerhalb eines Jahres drei Mal z.B. eine "zumutbare" Arbeit verweigert, dem wird das Alg II komplett gestrichen. Bei der ersten Pflichtverletzung erfolgt eine Absenkung um 30% für drei Monate, bei der zweiten um 60%. Künftig können schon bei der ersten Sanktion auch die Unterkunfts- und Heizkosten gekürzt werden.
Das Schonvermögen - also das Vermögen, das man nicht zum Lebensunterhalt einsetzen muss - wird von 200 auf 150 Euro pro Lebensjahr abgesenkt (mindestens 3.100 Euro, maximal 9.600 Euro), das nicht anrechenbare Vermögen für die Altersvorsorge von 200 Euro pro Lebensjahr auf 250 Euro erhöht (maximal 16.250 Euro).
Noch stärker als bisher werden die nichtehelichen Formen des Zusammenlebens als Feld der staatlichen Kostenersparnis ins Visier genommen. Wer länger als ein Jahr zusammenlebt, gemeinsame Kinder hat, gemeinsam Kinder oder Angehörige versorgt oder ein gemeinsames Bankkonto hat, steht unter dem Verdacht, eine Bedarfsgemeinschaft zu sein. Diese neue gesetzliche Vermutung bietet dem Staat künftig die Möglichkeit, vorhandenes Einkommen und Vermögen über dem Existenzminimum bzw. den Freibeträgen anzurechnen, auch wenn rechtliche Unterhaltsverpflichtungen fehlen. Der Nachweis, dass eine solche Bedarfsgemeinschaft nicht vorliegt, muss jetzt von den Betroffenen selbst erbracht werden. Zu den Maßnahmen, mit denen staatlicherseits private Beziehungen herangezogen werden, um Geld einzutreiben, gehört auch die Regelung, Einkommen und Vermögen von Stiefeltern auf den Bedarf der nicht leiblichen Kinder in der Bedarfsgemeinschaft anzurechnen.
Beim Wohnen werden Alg-II-Berechtigte durch die "Fortentwicklung" weiter in ihrer Freizügigkeit eingeschränkt. Wer "ohne wichtigen Grund" und ohne Zustimmung der ARGE umzieht, erhält künftig höchstens die Kosten der alten Wohnung erstattet. Das gilt auch dann, wenn die neuen Kosten unterhalb der als angemessen geltenden Mietobergrenzen liegen.
In Bezug auf "Aktivierung in Arbeit" ändert sich neben den schon erwähnten "Sofortangeboten" und schärferen Sanktionen relativ wenig. Das Fortentwicklungsgesetz stellt lediglich zusätzlich klar, dass Ein-Euro-JobberInnen zwar Urlaub nehmen können, dass für diesen Zeitraum die Zahlung eines Mehraufwandes aber entfällt. Man darf gespannt sein, was im Bereich der "Aktivierung" zukünftig auf den Markt geworfen wird. Seit geraumer Zeit existiert neben den Ein-Euro-Jobs auch eine Debatte um Kombilöhne und Niedriglohnstrategien, und von ganz unterschiedlichen Seiten (z.B. Bundesagentur für Arbeit, Wohlfahrtsverbände, SPD, attac) wird auch über sozialversicherungspflichtige Alternativen zu Ein-Euro-Jobs diskutiert bzw. über einen "Dritten Arbeitsmarkt" für Langzeitarbeitslose, denen die Verwertbarkeit ihrer Arbeitskraft unter "normalen" kapitalistischen Bedingungen abgesprochen wird.
Mit dem Fortentwicklungsgesetz werden vor allem drei Felder des Alltags reguliert, in denen sozialer und rechtlicher Konfliktstoff vorhanden ist. Erstens: Über wie viel Geld kann/darf jemand verfügen, der auf Hartz IV angewiesen ist (Höhe der Sozialleistung, Freibeträge des Vermögens, von wem wird Einkommen auf den Bedarfsatz angerechnet)? Zweitens: Wie frei, mit wem und wo kann ein/e Alg-II-BezieherIn wohnen (Hausbesuche durch Außendienste, Umzug nur mit Genehmigung, Höhe der Mietobergrenzen, Beweislastumkehr für Bedarfsgemeinschaft)? Und drittens: Welche Ansprüche dürfen Alg-II-BezieherInnen an Arbeit formulieren (Sofortangebote, Sanktionsregelungen, Festlegung, dass bei Ein-Euro-Jobs kein Urlaub bezahlt wird, Diskussion um Dritten Arbeitsmarkt und Kombilöhne)?
Diese Themen sind für jede/n, der/die mit Hartz IV leben muss, alltagsrelevant. Doch sie unterscheiden sich in der Frage, inwieweit aus dem alltäglichen Stress, Ärger und Leid und der Arbeit, die damit verbunden ist, öffentliche politische Konflikte gemacht werden können. Während die Höhe des Existenzminimums oder die Ansprüche an Arbeit zur öffentlichen Angelegenheit werden können und auch werden (Beispiel Mindestlohn oder Grundeinkommen), so ist das bei der ebenso wichtigen Frage der Wohnverhältnisse in deutlich geringerem Maße der Fall.
Regulierung des Alltags - Konflikte im Alltag
Vor allem aber im Bereich der Kontrolle und der Eingriffe in die Formen des Zusammenlebens sind Alg-II-BezieherInnen auf sich selbst, auf individualrechtliche Gegenwehr und allerhöchstens vereinzelte solidarische Akteure zurückgeworfen. Auch wenn man sich sicher sein kann, dass dank der suboptimalen "Aufstellung" der ARGE die Umsetzungspraxis hinter der programmatischen Fantasie hinterherläuft, so tragen die neuen Regelungen dennoch weiter zur Abschreckung vor Sozialleistungen und zur sozialen Verunsicherung im Alltag bei. Mag sein, dass auch die Fantasie des Widerstandes im Kleinen beflügelt wird. So wäre es - unabhängig von allen rechtlichen Möglichkeiten - durchaus eine schöne Antwort auf den Missbrauchsvorwurf, wenn die Kontrolleure der ARGE an den Wohnungen Schilder vorfinden würden mit der Aufschrift "Bin gerade nicht zu sprechen - bin auf Arbeitssuche!" Solche Texte wären nicht zuletzt auch nette Alternativen zu den immer noch gegenwärtigen schwarz-rot-goldenen Fahnen.
Wolfgang Völker
Anmerkungen:
1) vgl. zur Kritik z.B. die WSI-Thesen zur aktuellen Reformdiskussion "Missbrauch und Kostenexplosion bei Hartz IV" unter www.boecklerimpuls.de
2) Abschlussbericht des "Ombudsrat Grundsicherung für Arbeitssuchende", S. 38
3) Für weitergehend Interessierte sei der Blick auf die Websites von Tacheles (www.tacheles-sozialhilfe.de), Arbeitnehmerkammer Bremen (www.arbeitnehmerkammer.de/sozialpolitik/) oder BAG Sozialhilfe- und Erwerbsloseninitiativen (www.bag-shi.de) empfohlen.