Die Lehre des Tauziehens
Was wir von Mao Zedong heute noch lernen können
Als Mao Zedong vor 30 Jahren, am 9. September 1976, starb, war der Respekt vor der Lebensleistung des chinesischen Revolutionsführers bei Freund und Feind in aller Welt unstrittig. Verbürgt ist, dass auch Deng Xiaoping, der in den folgenden Jahren Maos Politik einer tiefgreifenden Revision unterzog, zeitlebens ein aufrechter Bewunderer Maos war. Im Westen wird jedoch das Mao-Bild seit Mitte der 1990er Jahre durch eine Sorte von Enthüllungsliteratur bestimmt, die Mao als ruchlosen Despoten diffamiert. Sind all die Intellektuellen, von Bertolt Brecht bis Louis Althusser, die Mao als Theoretiker und Philosophen schätzten, einem Schwindler auf den Leim gegangen?
Dass ein kommunistischer Revolutionär nicht nur auf Zustimmung stößt, liegt in der Natur der Sache. 1963 stellte der antikommunistische Exil-Ungar Georg Paloczi-Horvath in seiner Biografie des "Herrn der blauen Ameisen" Mao als eine falsch programmierte Denkmaschine dar, die ohne Rücksicht auf Verluste ihr unsinniges Programm abspult. Damit erkannte er wenigstens noch an, dass es bei Mao um Gedanken ging, während die neuere Anti-Mao-Literatur, von den Memoiren seines Leibarztes Li Zhisui bis zu der durch und durch verlogenen und gehässigen Biografie des chinesisch-britischen Renegatenpaars Chang/Halliday, auf eine Auseinandersetzung mit den Inhalten, die Mao vertrat, ganz verzichtet, um ihn als Psychopathen zu präsentieren. Man fragt sich dann nur, wie ein solcher es geschafft haben soll, nicht nur Abermillionen ChinesInnen über seine wahren Absichten zu täuschen, sondern auch eine ganze Generation von Linken und selbst Linksliberalen im Westen.
Ohne Selbstbefreiung der Massen kein Sozialismus
Das "Denken Mao Zedongs" (Mao Zedong sixiang, meist mit "Mao-Zedong-Ideen" übersetzt) wurde allerdings auch unter MarxistInnen kontrovers aufgenommen. Ursprünglich galt es bloß als Anwendung des Marxismus-Leninismus auf die Verhältnisse in China. In dem Maße, wie die KP Chinas sich Anfang der 1960er Jahre der Vorherrschaft der Sowjetunion in der kommunistischen Weltbewegung widersetzte und selbst die Führungsrolle in einer von der Dritten Welt ausgehenden Weltrevolution für sich in Anspruch nahm, wurde es als universelle Weiterentwicklung dargestellt und Mao, in den Worten seines Propagandisten Lin Biao, als "der größte Marxist-Leninist unserer Zeit" gefeiert. MaoistInnen behaupteten, die Orthodoxie des revolutionären Marxismus-Leninismus zu vertreten, die die "modernen Revisionisten" um Chruschtschow und Breschnew verraten hätten, während in Pamphleten der KPdSU und ihrer "Bruderparteien" der "Maoismus" als unmarxistische kleinbürgerliche Ideologie abgetan wurde. Noch vernichtender fielen die Urteile von trotzkistischer Seite aus, wo man Mao meist einfach als primitiven bäuerlichen "Stalinisten" klassifizierte.
Niemand wird als "Marxist" geboren. Zu Maos frühester politischer Lektüre gehörten die Anarchisten Bakunin und Kropotkin, und seine ersten Schriften, wie die "Analyse der Klassen in der chinesischen Gesellschaft" von 1926 und der "Untersuchungsbericht über die Bauernbewegung in Hunan" von 1927 sind (in ihren Originalfassungen, ohne die später für die offizielle Werkausgabe in der Volksrepublik China vorgenommenen "orthodoxen" Änderungen) im Duktus den russischen "Volkstümlern" näher als dem kanonisierten Marxismus.
Dass Maos marxistischer Horizont durch den von Stalin geprägten "Marxismus-Leninismus" bestimmt wurde, kann man ihm nicht vorwerfen - nur in dieser Version war marxistisches Denken in China damals zugänglich. Bei Mao steht es durchgängig in einem Spannungsverhältnis zu einem bäuerlich-radikaldemokratischen Populismus. Maos Parteitheorie modifiziert die von Lenin begründete durch die dem russischen Bolschewismus fremde Idee der "Massenlinie": Um die Massen führen zu können, muss die Partei von ihnen lernen und sich ihrer Kritik stellen. Mao glaubte, dass sozialer Fortschritt nur stattfindet, wo die Massen sich selbst befreien, ihre Lebensbedingungen umgestalten und "Berge versetzen". Dazu bedürfen sie der politischen Führung, aber diese muss dazu dienen, die Schöpferkraft der Massen freizusetzen. In seinen Kritiken an Stalin warf Mao diesem vor, sich auf die Allmacht der Kader und der Technik verlassen, die Widersprüche in der Gesellschaft ignoriert und ihre Austragung dogmatisch und repressiv blockiert zu haben.
Unter Maos philosophischen Arbeiten ist zweifellos die 1937 in den Höhlen von Yan'an entstandene Schrift "Über den Widerspruch" die bedeutendste. Brecht diskutierte sie mit seinem Berliner Ensemble. Althusser wies 1963 darauf hin, dass Mao hier Entscheidendes zu Problemen der marxistischen Methodik beigetragen hat; der chinesische Ökonom und Globalisierungskritiker Han Deqiang sieht das heute auch so. Während der klassische Marxismus alle gesellschaftlichen Verhältnisse auf einen einfachen ökonomischen Grundwiderspruch bezog, gibt es bei Mao Widersprüche stets nur im Plural, und jeder allgemeine Widerspruch existiert nur in und durch Besonderheiten.
Maos Unterscheidung von "Haupt-" und "Nebenwidersprüchen" ist in der westlichen radikalen Linken in den letzten Jahrzehnten in Verruf geraten. Das rührt daher, dass vor allem weiße männliche Kader sich ihrer bedienten, um beispielsweise Geschlechterverhältnisse oder Rassismus als gegenüber dem ökonomischen Klassenwiderspruch zweitrangig abzutun. Das ist bei Mao aber nicht gemeint. Indem Mao davon spricht, dass der "Hauptwiderspruch" seinen "Platz wechseln" kann, weist er eine statische Hierarchie gerade zurück: In einem Geflecht sich wechselseitig bedingender und durchdringender Widersprüche ist der Hauptwiderspruch konjunkturell, nicht essenziell bestimmt; seine Analyse ist die Voraussetzung der Bildung breiter politischer Allianzen. (Der Emanzipation der Frauen hat übrigens schon der frühe Mao großes Gewicht beigemessen.) Mao geht davon aus, dass "Widersprüche" immer und überall existieren; entscheidend ist dann die Frage, unter welchen Bedingungen und in welchen konkreten Formen sie sich zu "Antagonismen" verdichten, die eine revolutionäre Lösung erfordern. Louis Althusser hat diese Problemstellung in seiner Theorie des "überdeterminierten Widerspruchs" weiterentwickelt.
Der "Hauptwiderspruch" kann seinen "Platz wechseln"
Mit seiner Formel "Eins teilt sich in zwei" hat Mao schließlich die Mehrdeutigkeit und Unabgeschlossenheit aller sozialen Prozesse hervorgehoben. Selbst in einer sozialistischen Gesellschaft können neue Antagonismen entstehen. Der sozialistische Weg ist nicht unumkehrbar. Den Marxismus nennt Mao 1957 "die Lehre des Tauziehens, denn immer gibt es Widersprüche, und wo Widersprüche sind, da ist auch Kampf."
Für den klassischen Marxismus und Leninismus war der Sozialismus das notwendige Resultat der durch den Kapitalismus in Gang gesetzten Entwicklung und Zentralisierung großindustrieller Produktivkräfte. Die in der Fabrik "disziplinierte" Arbeiterklasse galt als die universelle Klasse, die von einer zielgerichteten Logik des Geschichtsprozesses berufen ist, die Vergesellschaftung der Produktion bewusst und planmäßig zu vollziehen und dadurch die ganze Gesellschaft zu emanzipieren. Ausgehend von der Feststellung, dass einem halbkolonialer und imperialistischer Abhängigkeit unterworfenen Land wie China eine idealtypische kapitalistische Entwicklung versperrt ist, musste Mao dieses Revolutionskonzept, in dem der Sozialismus im Grunde nur erntet, was der Kapitalismus gesät hat, modifizieren.
Sozialismus ist für ihn ein alternativer Entwicklungsweg. Die Frage nach der revolutionären Bruchstelle ergibt sich nicht aus einer inneren Gesetzmäßigkeit der Produktivkraftentwicklung - zumal sich das Problem der mit hierarchischen Arbeitsteilungen verbundenen Machtverhältnisse auch nach der formellen Überführung der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum stellt -, sondern als Frage nach dem Komplex politisch-gesellschaftlicher Widersprüche, die zu einer bewussten Gestaltung des Produktionsprozesses durch die ProduzentInnen drängen. Die tragende Kraft der proletarischen Revolution in China muss ein Bündnis sein, in dem die IndustriearbeiterInnen und die weitgehend besitzlosen Massen der armen Bauernschaft einander wechselseitig stützen.
Mit seiner Betonung der Permanenz der Widersprüche hat Mao den linearen ökonomistischen Geschichtsdeterminismus der Marx-Orthodoxie durchbrochen. Dennoch ist er bisweilen in deren Denkmuster zurückgefallen - vor allem, wenn er in der politischen Auseinandersetzung daran interessiert war, den eigenen Unfehlbarkeitsanspruch zu untermauern. Seinen verhängnisvollsten theoretischen Fehler beging er, indem er das orthodoxe Schema einer einfachen Umkehrung unterzog. Der klassische Marxismus hatte behauptet, die Entwicklung der Produktivkräfte treibe die Umwälzung der Produktionsverhältnisse voran: Das Privateigentum werde zur Fessel der Industrie. Mao blieb in dieser Logik befangen, indem er im Umkehrschluss meinte, eine maximale Revolutionierung der Produktionsverhältnisse garantiere die maximale Steigerung der Produktion. Größenwahnsinniger Modernisierungs-Utopismus ließ Ende der 1950er Jahre den "Großen Sprung nach vorn", dem eigentlich der vernünftige Ansatz einer organischen Verbindung der Industrieentwicklung mit der Landwirtschaft zugrunde gelegen hatte, zur Katastrophe missraten. Auch die 1966 begonnene "Kulturrevolution" förderte gesellschaftliche Widersprüche zutage, die im Rahmen einer "marxistisch-leninistischen" Staatsdoktrin nicht zu verstehen waren.
Im Westen fand die intensivste theoretische Rezeption Maos in der Symbiose von Marxismus, (Post-)Strukturalismus und Dekonstruktivismus in Frankreich statt: Mao wurde als marxistischer Kritiker des "Ökonomismus" gelesen. Maos Denken bezog sich auf Verhältnisse, in denen der idealtypische industriekapitalistische Klassenantagonismus noch nicht ausgebildet war (und sich nicht ausbilden konnte); die Neue Linke des Westens hatte es mit einem Spätkapitalismus zu tun, der diesen marxistischen Idealtyp bereits hinter sich gelassen hatte. Deshalb war Maos Analyse komplexer Verhältnisse, die dem "Überbau" besondere Aufmerksamkeit widmete, interessant.
Gegen den orthodoxen Geschichtsdeterminismus
Die Beschäftigung mit Theorien der westlichen Linken hat nicht wenige Intellektuelle der nach 1990 entstandenen chinesischen "Neuen Linken" zu Mao zurückfinden lassen. Der Literaturwissenschaftler Han Yuhai, der Linguist Gao Mobo oder die Anthropologin Yan Hairong wären als VertreterInnen einer Art Mao-Postmoderne zu nennen, die mit der Kritik kapitalistischer Modernisierungsideologien die Frage nach der Möglichkeit einer alternativen Moderne verbindet.
Im Denken Mao Zedongs sind der Marxismus-Leninismus und ein eigenständiger, aus Quellen der chinesischen Philosophie gespeister Ansatz eine produktive, aber auch zweideutige Verbindung eingegangen. Sie war die Bedingung der Erfolge der chinesischen Revolution und ihrer Tragödien. Maos besseres Erbteil gibt uns aber auch das Maß der Kritik an seinen Fehlleistungen. Der "dekonstruktive" Zug von Maos Applikation des Marxismus ergab sich aus der Verpflanzung einer der westlichen Moderne entstammenden Revolutionsidee in einen fremden Kontext. Sie ließ Probleme kenntlich werden, wo die westliche Aufklärung naiv den Prämissen eines abstrakten Universalismus und einer linearen Vorstellung von Fortschritt folgte. Mao ist den Versuchungen eines sozialtechnologischen Weltbilds nicht entgangen: das aber ist als theoretische Inkonsequenz zu kritisieren. Viele der in Maos China ausgetragenen Probleme, wie das des Verhältnisses von Wissen und Macht, bleiben aktuell. Die Revolutionsgeschichte des hinter uns liegenden Jahrhunderts wird nur verstehen, wer Mao versteht; die der Zukunft wird Lehren daraus ziehen müssen.
Henning Böke